Montag, 30. November 2015

Zur Einführung in das Markusevangelium


Die Beiträge, die ich auf meinem Blog veröffentliche, haben für mich eher vorläufigen Charakter. Sie spiegeln ein momentanes Nachdenken über diese oder jene Stelle das Markusevangeliums wider und enthalten keine endgültige Meinung. Ich glaube aber – oder mache mich nur glauben -, dass ich mittlerweile mit dem Markusevangelium so vertraut bin, um hin und wieder einen Beitrag mit etwas mehr „Verantwortung“ zu verfassen. Bei diesen Beiträgen soll es sich um einige Anregungen und Gedanken zur Einführung in das Markusevangelium handeln, die vielleicht dem einen oder anderen hilfreich sein könnten.

Einleitungen zum Markusevangelium befassen sich in der Regel mit Mutmaßungen, wer Markus war, um welche Zeit das Markusevangelium verfasst wurde, zu welchem Zweck Markus sein Evangelium schrieb etc. Die hierzu von den Gelehrten aufgestellten Thesen unterscheiden sich häufig voneinander und kommen meines Erachtens kaum über – manchmal gut, manchmal weniger gut begründete - Spekulationen hinaus. Ihr Ergebnis ist nicht selten, dass der Leser eine vorgefasste Meinung vom Markusevangelium erhält, noch bevor er vielleicht einen ersten Satz daraus gelesen hat.

Mein Wunsch ist deshalb, eine etwas andere Art von Einleitung in das Markusevangelium zu schreiben. Es sollen Beiträge sein, die auf einer Schriftstelle des Markusevangeliums beruhen und Licht auf einige grundlegende Haltungen und Denkweisen von Markus werfen. Ich erhoffe mir von diesen Beiträgen ein wenig, dass der mit dem Markusevangelium weniger vertraute Leser aus ihnen eine Perspektive gewinnen kann, mittels derer sich für ihn das Besondere an Markus besser erschließt - vor allem auch, was Markus von den Evangelisten Matthäus, Lukas und Johannes unterscheidet. Ich sammle diese unter einem neuen Tab.

Markus und der frühchristliche Antijudaismus


1) Der dritte Satz im Wikipedia-Artikel über „Jesus von Nazaret“ lautet: „Zwei bis drei Jahre später wurde er auf Befehl des römischen Präfekten Pontius Pilatus von römischen Soldaten gekreuzigt.“ Dass Jesus von römischen Soldaten gekreuzigt wurde, gilt heutzutage als allgemein anerkannter Gemeinplatz. Allerdings behauptete im Widerspruch dazu die Mehrzahl der bekannten frühchristlichen Schriften, dass Jesus von Juden gekreuzigt wurde.
via catholicconvert.com

2) Quellenlage

Lediglich Markus und Matthäus stellen in ihren Evangelien dar, dass Jesus von römischen Soldaten gekreuzigt wurde. Nach den Evangelien von Lukas und Johannes, dem apokryphen Petrusevangelium, den Schriften von Justin dem Märtyrer und wohl auch dem Evangelium von Marcion wurde Jesus durch Juden gekreuzigt.

Ich geben nachfolgend die entscheidenden Stellen in den Evangelien so auszugsweise wieder, dass deren Sinnzusammenhang deutlich wird.

Dienstag, 24. November 2015

στιβάδες (stibades)


1) Im Vers 11:8 des Markusevangeliums gibt es ein Wort, dass alle Welt entgegen seinem eigentlichen Sinn übersetzt. Der Vers gehört zur Szene vom sogenannten „Einzug in Jerusalem“ und lautet nach der bevorzugten Lesart:

καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν,
Und viele die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg,

ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.

andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.

Abendmahlsdarstellung auf einem Stibadium
Sant' Apollinare Nuovo, Ravenna
Alle renommierten deutschen Bibelübersetzungen übertragen das Wort στιβάδας (stibadas) als „Zweige“, etwas mutigere mit „Laubbüscheln“, Ulrich Rohmer (mein deutschsprachiger Favorit) mit „Laubwerk“. Einige kühne Übersetzer im englischen Sprachraum wählten sinngemäß „weiches Laub“ oder „Stroh“. Dem eigentlichen Sinn am nächsten kam wohl der Amerikaner Charles B. Williams, ein Southern Baptist und Professor für Griechisch, der mit „layers of leaves“ (Laubschichten bzw. Lager aus Blättern) übersetzte.


Grundsätzlich besteht Einigkeit, dass στιβάς (stibas – hier in der Einzahl Nominativ) genau so etwas bezeichnet. Es handelt sich bei einer Stibas um ein einfaches Ruhelager oder eine Liegestatt, die aus pflanzlichen Teilen (Stroh, Binsen, Blätter, weiche Zweige, Kräuter, Blumen) in der Form einer fest gebauten Schicht, einer Matratze, einer Matte oder eines ebenerdigen Bettes gefertigt ist. Auf solchen Ruhelagern wurde in der Antike vor allem im Freien geschlafen (Soldaten, Hirten etc.), liegend gegessen bzw. eine private oder religiöse Gesellschaft abgehalten, aber auch Verstorbene im Grab beigesetzt. Die Luxusvariante ist das sogenannte „Stibadium“. (Zum Verständnis: In der Antike wurde bei Gesellschaften meist liegend gegessen. So „liegt“ auch Jesus nach dem griechischen Wortlaut der Evangelien „zum Mahl“, etwa beim letzten Abendmahl.)

Christliches Mahl auf einer Sigma, Katakombe der
Marcellinus und Petrus, Rom - wikicommons

2) Aus welchen Gründen auch immer soll diese Bedeutung des Wortes jedoch für den Vers 11:8 des Markusevangeliums nicht gelten, wobei eine Begründung in der Regel nicht genannt wird.

Bevor ich schnurstracks behaupten wollte, dass alle Welt sich irrt ;-) , habe ich eine ganze Menge Literatur gewälzt, um den Fall selbstkritisch zu prüfen. Der Effekt war jedoch genau umgekehrt. Vor allem dann, wenn man die Werke von Historikern zu Rate zieht, die zu den Ess- und Schlafgewohnheiten in der Antike forschen, wird klar, dass kein Grieche in der Antike jemals unter einer Stibas Zweige oder Blätter hätte verstehen können.

Das Wort bezeichnet stets das Ganze und nie die (Bestand-)Teile. Ebenso wenig, wie man im Deutschen das Wort „Haus“ als die Steine oder das Holz deuten kann, aus denen es errichtet wurde, fallen unter das Wort στιβάς (stibas), die Pflanzen, die Blätter, die Zweige oder das Stroh, aus denen sie gefertigt ist. Es meint stets die Liegestatt, die Strohschicht, das Polster, die Matratze oder das armselige Bett als solches.

Freitag, 13. November 2015

Die Schriftgelehrten als Hauptgegner von Jesus


1) Nach allgemeiner Meinung gelten die Pharisäer als hauptsächliche Widersacher von Jesus. Dem entspricht, dass sie in den Evangelien 89 Mal erwähnt werden, die Schriftgelehrten nur 59 Mal. Im Markusevangelium ist das Verhältnis jedoch umgekehrt. Schriftgelehrte (γραμματεῖς – grammateis) nennt Markus 21 Mal, Pharisäer (Φαρισαῖοι - Pharisaioi) hingegen lediglich 12 Mal. Dabei sind beide Gruppen nicht strikt voneinander getrennt. In Mk 2:16 begegnet man auch den „Schriftgelehrten der Pharisäer“.

Ein weiterer Unterschied der Evangelien betrifft das Profil dieser Gegner. Während die Unterscheidung von Pharisäern und Schriftgelehrten bei Matthäus und Lukas eher diffus ist (eine vage Ausnahme mag Lk 11:37ff sein), sind bei Markus die Pharisäer von den Schriftgelehrten deutlich zu unterscheiden, wie Dieter Lührmann bereits vor knapp 30 Jahren gezeigt hat.
Mk 2:6 "Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und
dachten in ihren Herzen ..." - via commons.wikimedia

Die Kritik der Pharisäer bei Markus zielt auf den durch das Recht (Halacha) gebotenen Lebenswandel (Fastenfrage Mk 2:18, Sabbatfrage Mk 2:24, Speisegebote Mk 7:5, Ehescheidung Mk 10:2, Steuerfrage Mk 12:13). Die Schriftgelehrten bestreiten hingegen die göttliche Vollmacht von Jesus und stellen ihn als von Beelzebul besessen dar (Mk 2:6, 3:22, 11:27, 12:35), lehren eine andere Auslegung der Schriften der hebräischen Bibel (Mk 9:11, 12:35) und planen mit den Hohenpriestern und Ältesten die Tötung von Jesus (8:33, 10:33, 11:18, 14:1, 14:43, 14:53, 15:1).

Die Rivalität zwischen Jesus und den Schriftgelehrten hebt Markus noch zusätzlich durch zwei Stellen hervor: In Mk 1:22 heißt es über Jesus, dass er „in Vollmacht lehrt und nicht wie die Schriftgelehrten“. In Mk 12:38ff sind es schließlich die Schriftgelehrten, die im Markusevangelium unter allen Gegnern am kritischsten beurteilt werden: „Und er lehrte sie und sprach zu ihnen: Seht euch vor vor den Schriftgelehrten, die gern in langen Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen und sitzen gern obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl; sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete. Die werden ein umso härteres Urteil empfangen.

Ein Schwarz-Weiß-Denken finden wir bei Markus gleichwohl nicht. Die lobenswerte Ausnahme aus dem Kreis seiner Gegner kommt ausgerechnet aus dem Lager der Schriftgelehrten – Mk 12:28ff.

Soweit der mir ersichtliche Stand der Wissenschaft. Ich mag hierzu eine Beobachtung ergänzen: Die Pharisäer wagen im Markusevangelium stets die offene Diskussion mit Jesus, die Schriftgelehrten meiden sie hingegen, versuchen aber die Jünger und das Volk zu beeinflussen.

Montag, 9. November 2015

Müßige Textkritik

via kiyanti2008.wordpress.com
1) Vers 15:34 des Markusevangeliums beschreibt den Ausruf von Jesus am Kreuz zunächst im aramäischen Wortlaut („Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“).

Wer sich für den „buchstabengenauen“ Aufschrei interessiert, steht vor der erheblichen Schwierigkeit, dass die ältesten Codizes des Markusevangeliums jeweils eine unterschiedliche Fassung enthalten. Dies gilt allein schon für das Wort „hast Du mich verlassen“: 


Codex Sinaiticus – σαβακτανει....... (sabak....t...ani)
Codex Vaticanus – ζαβαφθανει........(zabav....th..ani)
Codex Alexandrinus – σιβακθανει...(sibak.....th..ani)
Codex Bezae – ζαφθανει................(zav........th..ani)
Codex Ephraemi – σαβαχθανει........(sabach..th..ani)

Cod. Sinaiticus: die Hand des Korrektors
Bevor der Codex Sinaiticus, die von Constantin Tischendorf im Katharinenkloster am Berg Sinai aufgefundene Bibel aus dem 4. Jahrhundert, die Schreibwerkstatt verließ, ist er nochmals korrigiert worden. Der Korrektor hat bei Vers 15:34 die zwei Buchstaben „χθ” über das Wort „σαβακτανει” geschrieben, war also anderer Meinung als der Schreiber. Seines Erachtens lautete das fragliche Wort mithin „σαβαχθανει” (sabachthani). Da diese Lesart mit der Fassung des Codex Ephraemi Rescriptus sowie vielen jüngeren Manuskripten übereinstimmt und „σαβαχθανει” im Aramäischen für „hast Du mich verlassen“ stehen kann, ist dieser Wortlaut die von den Experten bevorzugte Lesart. Die Entscheidung für dieses Wort ist gut nachvollziehbar, aber angesichts der vielen unterschiedlichen Textvarianten mit einer hohen Unsicherheit verbunden. Was hier wirklich im „Original“ des Markusevangeliums stand, kann wohl nicht mit letzter Gewissheit gesagt werden.


2) Textkritik entzündet sich meist an theologisch bedeutsamen oder interessanten Stellen und kann zu erhitzten Debatten führen. Eine Entscheidung, ob etwa im Vers 1 des Markusevangeliums („Anfang des Evangeliums Jesu Christi“) zusätzlich noch die Wörter „Sohn Gottes“ standen oder nicht, ist eben nicht frei von weltanschaulichen Prägungen und Vorlieben. Beim Lesen textkritischer Abhandlungen von gewissen Autoren gewinnt man auch nicht selten den Eindruck, dass die Sache aus ihrer Sicht „glasklar“ und „bar jeden Zweifels“ entschieden werden kann.

Mit diesem Beitrag möchte ich einmal genau das Gegenteil tun und zeigen, wie schwierig Textkritik ist. Es handelt sich um eine Stelle, deren unterschiedliche Lesarten nur ganz leicht differieren und bei denen die Entscheidung für die eine oder andere Variante aus theologischer Sicht mehr oder weniger unerheblich ist. Das Problem lässt sich also „ganz entspannt“ betrachten. Eine „abschließende Lösung des Falles“ präsentiere ich außerdem nicht.

Erwähnenswert scheint er mir jedoch, weil sich bei genauer Betrachtung die Verhältnisse umkehren. Auf den ersten Blick erscheint die Sache ziemlich klar. Für die von den Experten bevorzugte Textvariante scheinen zunächst „alle guten Gründe“ zu sprechen. Am Ende erweist sich aber gerade diese Lesart als die zweifelhafteste.