Dienstag, 24. November 2015

στιβάδες (stibades)


1) Im Vers 11:8 des Markusevangeliums gibt es ein Wort, dass alle Welt entgegen seinem eigentlichen Sinn übersetzt. Der Vers gehört zur Szene vom sogenannten „Einzug in Jerusalem“ und lautet nach der bevorzugten Lesart:

καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν,
Und viele die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg,

ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.

andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.

Abendmahlsdarstellung auf einem Stibadium
Sant' Apollinare Nuovo, Ravenna
Alle renommierten deutschen Bibelübersetzungen übertragen das Wort στιβάδας (stibadas) als „Zweige“, etwas mutigere mit „Laubbüscheln“, Ulrich Rohmer (mein deutschsprachiger Favorit) mit „Laubwerk“. Einige kühne Übersetzer im englischen Sprachraum wählten sinngemäß „weiches Laub“ oder „Stroh“. Dem eigentlichen Sinn am nächsten kam wohl der Amerikaner Charles B. Williams, ein Southern Baptist und Professor für Griechisch, der mit „layers of leaves“ (Laubschichten bzw. Lager aus Blättern) übersetzte.


Grundsätzlich besteht Einigkeit, dass στιβάς (stibas – hier in der Einzahl Nominativ) genau so etwas bezeichnet. Es handelt sich bei einer Stibas um ein einfaches Ruhelager oder eine Liegestatt, die aus pflanzlichen Teilen (Stroh, Binsen, Blätter, weiche Zweige, Kräuter, Blumen) in der Form einer fest gebauten Schicht, einer Matratze, einer Matte oder eines ebenerdigen Bettes gefertigt ist. Auf solchen Ruhelagern wurde in der Antike vor allem im Freien geschlafen (Soldaten, Hirten etc.), liegend gegessen bzw. eine private oder religiöse Gesellschaft abgehalten, aber auch Verstorbene im Grab beigesetzt. Die Luxusvariante ist das sogenannte „Stibadium“. (Zum Verständnis: In der Antike wurde bei Gesellschaften meist liegend gegessen. So „liegt“ auch Jesus nach dem griechischen Wortlaut der Evangelien „zum Mahl“, etwa beim letzten Abendmahl.)

Christliches Mahl auf einer Sigma, Katakombe der
Marcellinus und Petrus, Rom - wikicommons

2) Aus welchen Gründen auch immer soll diese Bedeutung des Wortes jedoch für den Vers 11:8 des Markusevangeliums nicht gelten, wobei eine Begründung in der Regel nicht genannt wird.

Bevor ich schnurstracks behaupten wollte, dass alle Welt sich irrt ;-) , habe ich eine ganze Menge Literatur gewälzt, um den Fall selbstkritisch zu prüfen. Der Effekt war jedoch genau umgekehrt. Vor allem dann, wenn man die Werke von Historikern zu Rate zieht, die zu den Ess- und Schlafgewohnheiten in der Antike forschen, wird klar, dass kein Grieche in der Antike jemals unter einer Stibas Zweige oder Blätter hätte verstehen können.

Das Wort bezeichnet stets das Ganze und nie die (Bestand-)Teile. Ebenso wenig, wie man im Deutschen das Wort „Haus“ als die Steine oder das Holz deuten kann, aus denen es errichtet wurde, fallen unter das Wort στιβάς (stibas), die Pflanzen, die Blätter, die Zweige oder das Stroh, aus denen sie gefertigt ist. Es meint stets die Liegestatt, die Strohschicht, das Polster, die Matratze oder das armselige Bett als solches.


3) Das Problem sitzt meines Erachtens etwas tiefer.

3.1) Die Szene ist verbunden mit dem Palmsonntag. Unsere fest geprägten Bildern von geschwungenen Palmwedeln vom Einzug in Jerusalem beruhen auf der Darstellung im Johannesevangelium. Johannes (Joh 12:12-13) schreibt:

12 Τῇ ἐπαύριον ὁ ὄχλος πολὺς ὁ ἐλθὼν εἰς τὴν ἑορτήν, ἀκούσαντες ὅτι ἔρχεται ὁ Ἰησοῦς εἰς Ἱεροσόλυμα
12 Den folgenden (Tag) die vielzählige Menge, die gekommen zu dem Fest, gehört habend, dass komme der Jesus nach Jerusalem,

13 ἔλαβον τὰ βαΐα τῶν φοινίκων καὶ ἐξῆλθον εἰς ὑπάντησιν αὐτῷ ...

13 nahmen sie die Wedel der Palmen und herauskamen zur Begegnung mit ihm ...

Im Matthäusevangelium (Mt 21:8) sind die Handelnden wie bei Markus nicht Festteilnehmer, die Jesus aus Jerusalem entgegen kommen, sondern Pilger, die sich im gleichen Tross wie Jesus in Richtung Jerusalem befinden:

8 ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος ἔστρωσαν ἑαυτῶν τὰ ἱμάτια ἐν τῇ ὁδῷ, ἄλλοι δὲ ἔκοπτον κλάδους ἀπὸ τῶν δένδρων καὶ ἐστρώννυον ἐν τῇ ὁδῷ.
8 Aber die meiste Volksmenge bettete die eigenen Kleider auf den Weg, andere aber hieben Zweige von den Bäumen und betteten sie auf den Weg.

Im Lukasevangelium finden wir keinen Hinweis auf Zweige, Palmwedel oder ähnliches.

3.2) Die heute bevorzugte Lesart des Markusevangeliums gilt erst nach der Erforschung des Codex Sinaiticus, des Codex Vaticanus und den Zitaten dieser Stelle bei Origenes. Zuvor folgte der textus receptus vor allem der Fassung des Codex Alexandrinus, der eine Art „Mischvariante“ des Wortlauts von Matthäus und Markus wiedergibt.

ἄλλοι δὲ στοιβάδας ἔκοπτον ἐκ τῶν δένδρων καὶ ἐστρώννυον εἰς τὴν ὁδόν
andere aber stoibadas schlugen aus den Bäumen und betteten in den Weg

Der unmittelbare Sinn von στοιβάδας (Schichten) war in der Tat problematisch, da nicht klar war, wie man „Schichten“ aus Bäumen schlagen kann. Der antike Leser mag hier ganz natürlich an „Bündel“ von Zweigen oder Laub gedacht haben.

3.3) Genau diese Vorstellung scheinen auch heutige Übersetzer und Exegeten noch im Kopf zu haben.

Bratcher & Nida schreiben: „stibas - (only here in the N.T.) is specifically a litter or a kind of mattress made of straw, leaves, and so forth: here it obviously means ‘leaves’, ’leafy branches’ ...“ („A translator’s handbook on the gospel of Mark“, 1961, S. 345)

Oder etwa Andreas Bedenbender: „Erstaunlicherweise machen die Kommentare für gewöhnlich wenig Aufhebens um das Wort. Weil hier mit dem lexikalischen Sinn von stibas, nämlich ‚Lager irgendwelcher Art aus Stroh, Schilf, Binsen und ähnlichen Dingen’ (Bauer/Aland, s.v.), tatsächlich wenig anzufangen ist, hat sich in Auslegungen und Übersetzungen die Vorstellung etabliert, Markus habe mit den stibades grüne Zweige, Laubbüschel, oder Wedel gemeint. D.h., die Stelle wird behandelt, als gäbe es keinen nennenswerten Unterschied zwischen den markinischen stibades und den von Matthäus beim Einzug erwähnten kladoi, ‚Zweigen’, oder den baia ton phoinikon, ‚Palmenzweigen’, die laut Joh 12,13 zu den Requisiten des Einzugs gehören. Man muss sich jedoch die Frage stellen, weshalb Markus ein Wort nimmt, das erstens etwas anderes bedeutet und das zweitens höchst entlegen ist.“ („Frohe Botschaft am Abgrund“, 2013, S. 312)

Bratcher & Nida („it obviously means“) bleiben also jede Begründung schuldig und der von mir hochgeschätzte Bedenbender meint lediglich, dass mit „dem lexikalischen Sinn … tatsächlich wenig anzufangen ist“. Aber wieso eigentlich?

Was die Pilger im Vers 11:8 auf der einfachen Textebene tun, ist gewissermaßen einen „roten Teppich“ auszubreiten bzw. einen Weg für eine Ehrenparade zu errichten. Sie verwenden zu diesem Zweck Dinge, die sie bei der Hand haben: die einen ihre Gewänder, die anderen die Stibades. Die Verwendung des Partizips im Aorist aktiv (κόψαντες – geschlagen habend) zeigt an, dass das Schlagen der Stibades aus den Feldern (Obstbaumplantagen und Olivenhaine mit einbezogen) zeitlich bereits vorher abgeschlossen war. In der Regel wird man annehmen, dass diese abgeschlossene Handlung temporär unmittelbar vorher geschah. Dieses Verständnis ist aber nicht zwingend. Zwischen dem Schlagen und Herstellen der Stibadas und ihrem Ausbreiten in den Weg kann auch ein gewisser zeitlicher Abstand liegen.

Bei den Stibadas von Markus könnte es sich deshalb um Stroh- und Laublager handeln, die eine gewisse Zeit zuvor errichtet worden sind und auf denen die Pilger zum Beispiel nächtigten oder auf denen sie ein gemeinsames Mahl gehalten haben. Nichts hindert dieses simple Verständnis des Verses. Vor allem aber: ich bin mir recht sicher, dass insbesondere der antike Leser diesen Vers so gedeutet hätte, jedenfalls solange ihm die Fassungen von Matthäus und Johannes unbekannt waren. Meines Erachtens hätte er nie die Bedeutung von Stibadas in seinem Leseverständnis verändert, sondern die Partizipialkonstruktion in dem beschriebenen Sinn aufgelöst. Vergleicht man nochmals die Darstellungen von Markus und Matthäus, ist leicht zu sehen, dass Matthäus genau diese Knackpunkte „berichtigt“.

Markus:
die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg, andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.
Matthäus:
bettete die eigenen Gewänder auf den Weg, andere aber schlugen Zweige von den Bäumen und betteten sie auf den Weg

Aus den Stibadas von Markus macht Matthäus kladous (Zweige), die markinischen „Felder“ verändert er zu „Bäumen“ und vor allem löst er die Partizip-Konstruktion auf, so dass bei Matthäus das Abschlagen der Zweige und deren Ausbreiten auf dem Weg notwendigerweise zeitlich unmittelbar aufeinander folgen.

4) Es ist erfrischend, das nüchterne Werk eines richtigen Historikers zu lesen. Ich zitiere aus dem Buch "Thesaurus Cultus Et Rituum Antiquorum" (J. Paul Getty Museum), das sich im vorliegenden Abschnitt der Verwendung von Stibades bei heidnischen Kultmählern in der Antike widmet.

Stibas

Neben der Kline gab es im kultischen Zusammenhang mehrere primitive Gelageformen, von denen einige anscheinend mit besonderen Kulten in Verbindung standen. Der einfachste Typ ist die stibas. Damit wird ein direkt auf der Erde aus Laub oder Stroh bereitetes Lager bezeichnet, das ursprünglich von Soldaten im Felde sowie von Bauern und Hirten benutzt wurde. Stibades sind zunächst in altertümlichen Kulten üblich, die in einer besonderen Beziehung zu Fruchtbarkeit, Vegetation und Erde standen.

... 
Die stibas ist fester Bestandteil ländlicher Feste. Das aus Laub und Stroh bereitete Lager wird in der Regel mit Tüchern, Matratzen und Kissen bedeckt.

Die stibades werden aus Blättern verschiedener Pflanzen und Bäume bereitet, die öfters mit spezifischen Göttern verbunden sind. Bei den Iobakchen wird Efeu, die heilige Pflanze des Dionysos, verwendet. Bei den Thalysien bestanden die stibades aus Binsen und frisch geschnittenem Weinlaub, und bei den Tonaia aus Keuschlamm, dem heiligen Kraut Heras.


4.1) Einige Beispiele aus der antiken Literatur. Ich füge diesen genau die Übersetzung an, die man online finden kann:

Euripides, Helena, 798
Μενελέως: ὁρῶ ταλαίνας στιβάδας, ὧν τί σοὶ μέτα;
Menelaos: Strohpolster seh ich, Arme – was bedarfst du der?

Aristophanes, Der Friede, 348
πολλὰ γὰρ ἀνεσχόμην πράγματά τε καὶ στιβάδας, ἃς ἔλαχε Φορμίων:
Denn ich trug viele Noth, Lag auf Strohbetten, hart, Wie die Streu Phormions.

Platon, Der Staat, 372b
κατακλινέντες ἐπὶ στιβάδων ἐστρωμένων μίλακί τε καὶ μυρρίναις
sich lagern auf ein Bett von Eiben- oder Myrtenstreu:

Herodot, Geschichte, 4.71
καὶ ἔπειτα, ἐπεὰν θέωσι τὸν νέκυν ἐν τῇσι θήκῃσι ἐπὶ στιβάδος
Nun wird auf dem Gräberplatze zuerst die Leiche auf einer Matte beigesetzt

Philo von Alexandria, Das kontemplative Leben, IX (69) (über die „Therapeuten“)
στιβάδες γάρ εἰσιν εἰκαιοτέρας ὕλης
rugs of the coarsest materials


4.2) Etymologisch leitet sich das Wort στιβάς (stibas) von στείβω (steibo) – etwas „dicht machen“ oder „festtreten“ ab. Der „στίβος“ ist ein festgetretener Pfad, im modernen Sprachgebrauch die Laufbahn im Leichtathletik-Stadion, „στῖφος“ etwas „Zusammengedrängtes“, der „Haufen“ oder eine „Horde“.

Im modernen Sprachgebrauch finden wir u.a. die „κυτταρική στιβάδα“ (Zellschicht), das Adjektiv „πολύστιβος“ (vielschichtig), die „στιβάδα του όζοντος“ (Ozonschicht), die „χιονοστιβάδα“ (Lawine – die Schneeschicht), „στοίβαγμα“ (Stapel) usw.

All diese Wörter sind durch die Idee einer „Schicht“ miteinander verwandt.

4.3) Das Wort στιβάς (stibas) bezeichnet daher

etymologisch – eine Schicht
funktional – eine Schicht, auf der man liegen kann (zum Essen, Schlafen oder zur Bestattung)
vom Aufbau – die aus „fest zusammen geschichteten“ Pflanzenteilen hergestellt ist


5) Zurück zum Markusevangelium. Was will Markus in Vers 11:8 eigentlich mit seinem Satz sagen?

Und viele die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg, andere aber Strohruhelager, geschlagen (habend) aus den Feldern.
καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν, ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.

Was diese Leute im Vers 11:8 „treiben“, scheint mir ganz offensichtlich die wortwörtliche Erfüllung von Markus 1:3 (dem Zitat aus Jesaja 40:3) zu sein:

Ἑτοιμάσατε τὴν ὁδὸν Κυρίου, εὐθείας ποιεῖτε τὰς τρίβους αὐτοῦ
Bereitet den Weg (vom) Herrn, geradlinig macht die Pfade (von) ihm!

Der Aufruf im Buch Jesaja ist offensichtlich nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß gemeint. Das Verhalten der Leute wirkt daher eher komisch und fragwürdig …

(Dazu alsbald mehr)

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