1) Im Vers 11:8 des Markusevangeliums
gibt es ein Wort, dass alle Welt entgegen seinem eigentlichen Sinn
übersetzt. Der Vers gehört zur Szene vom sogenannten „Einzug in
Jerusalem“ und lautet nach der bevorzugten Lesart:
καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια
αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν,
Und viele die Gewänder (von) ihnen
betteten in den Weg,ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.
andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.
Abendmahlsdarstellung auf einem
Stibadium
Sant' Apollinare Nuovo, Ravenna
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Alle renommierten deutschen
Bibelübersetzungen übertragen das Wort στιβάδας (stibadas)
als „Zweige“, etwas mutigere mit „Laubbüscheln“, Ulrich
Rohmer (mein deutschsprachiger Favorit) mit „Laubwerk“. Einige
kühne Übersetzer im englischen Sprachraum wählten sinngemäß
„weiches Laub“ oder „Stroh“. Dem eigentlichen Sinn am
nächsten kam wohl der Amerikaner Charles B. Williams, ein Southern
Baptist und Professor für Griechisch, der mit „layers of leaves“
(Laubschichten bzw. Lager aus Blättern) übersetzte.
Grundsätzlich besteht Einigkeit, dass
στιβάς (stibas – hier in der Einzahl Nominativ) genau so
etwas bezeichnet. Es handelt sich bei einer Stibas um ein einfaches
Ruhelager oder eine Liegestatt, die aus pflanzlichen Teilen (Stroh,
Binsen, Blätter, weiche Zweige, Kräuter, Blumen) in der Form einer
fest gebauten Schicht, einer Matratze, einer Matte oder eines
ebenerdigen Bettes gefertigt ist. Auf solchen Ruhelagern wurde in der
Antike vor allem im Freien geschlafen (Soldaten, Hirten etc.),
liegend gegessen bzw. eine private oder religiöse Gesellschaft
abgehalten, aber auch Verstorbene im Grab beigesetzt. Die
Luxusvariante ist das sogenannte „Stibadium“. (Zum Verständnis:
In der Antike wurde bei Gesellschaften meist liegend gegessen. So
„liegt“ auch Jesus nach dem griechischen Wortlaut der Evangelien
„zum Mahl“, etwa beim letzten Abendmahl.)
Christliches Mahl auf einer Sigma,
Katakombe der
Marcellinus und Petrus, Rom -
wikicommons
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2) Aus welchen Gründen auch immer soll
diese Bedeutung des Wortes jedoch für den Vers 11:8 des
Markusevangeliums nicht gelten, wobei eine Begründung in der Regel
nicht genannt wird.
Bevor ich schnurstracks behaupten
wollte, dass alle Welt sich irrt ;-) , habe ich eine ganze Menge
Literatur gewälzt, um den Fall selbstkritisch zu prüfen. Der Effekt
war jedoch genau umgekehrt. Vor allem dann, wenn man die Werke von
Historikern zu Rate zieht, die zu den Ess- und Schlafgewohnheiten in
der Antike forschen, wird klar, dass kein Grieche in der Antike
jemals unter einer Stibas Zweige oder Blätter hätte verstehen
können.
Das Wort bezeichnet stets das Ganze und
nie die (Bestand-)Teile. Ebenso wenig, wie man im Deutschen das Wort
„Haus“ als die Steine oder das Holz deuten kann, aus denen es
errichtet wurde, fallen unter das Wort στιβάς (stibas), die
Pflanzen, die Blätter, die Zweige oder das Stroh, aus denen sie
gefertigt ist. Es meint stets die Liegestatt, die Strohschicht, das
Polster, die Matratze oder das armselige Bett als solches.
3) Das Problem sitzt meines Erachtens
etwas tiefer.
3.1) Die Szene ist verbunden mit dem
Palmsonntag. Unsere fest geprägten Bildern von geschwungenen
Palmwedeln vom Einzug in Jerusalem beruhen auf der Darstellung im
Johannesevangelium. Johannes (Joh 12:12-13) schreibt:
12 Τῇ ἐπαύριον ὁ ὄχλος πολὺς ὁ ἐλθὼν εἰς τὴν ἑορτήν, ἀκούσαντες ὅτι ἔρχεται ὁ Ἰησοῦς εἰς Ἱεροσόλυμα
13 ἔλαβον τὰ βαΐα τῶν φοινίκων καὶ ἐξῆλθον εἰς ὑπάντησιν αὐτῷ ...
13 nahmen sie die Wedel der Palmen und herauskamen zur Begegnung mit ihm ...
Im Matthäusevangelium (Mt 21:8) sind
die Handelnden wie bei Markus nicht Festteilnehmer, die Jesus aus
Jerusalem entgegen kommen, sondern Pilger, die sich im gleichen Tross
wie Jesus in Richtung Jerusalem befinden:
8 ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος ἔστρωσαν ἑαυτῶν τὰ ἱμάτια ἐν τῇ ὁδῷ, ἄλλοι δὲ ἔκοπτον κλάδους ἀπὸ τῶν δένδρων καὶ ἐστρώννυον ἐν τῇ ὁδῷ.
Im Lukasevangelium finden wir keinen
Hinweis auf Zweige, Palmwedel oder ähnliches.
3.2) Die heute bevorzugte Lesart des
Markusevangeliums gilt erst nach der Erforschung des Codex
Sinaiticus, des Codex Vaticanus und den Zitaten dieser Stelle bei
Origenes. Zuvor folgte der textus receptus vor allem der Fassung des
Codex Alexandrinus, der eine Art „Mischvariante“ des Wortlauts
von Matthäus und Markus wiedergibt.
ἄλλοι δὲ στοιβάδας ἔκοπτον ἐκ τῶν δένδρων καὶ ἐστρώννυον εἰς τὴν ὁδόν
Der unmittelbare Sinn von στοιβάδας
(Schichten) war in der Tat problematisch, da nicht klar war, wie man
„Schichten“ aus Bäumen schlagen kann. Der antike Leser mag hier
ganz natürlich an „Bündel“ von Zweigen oder Laub gedacht haben.
3.3) Genau diese Vorstellung scheinen
auch heutige Übersetzer und Exegeten noch im Kopf zu haben.
Bratcher & Nida schreiben: „stibas
- (only here in the N.T.) is specifically a litter or a kind of
mattress made of straw, leaves, and so forth: here it obviously means
‘leaves’, ’leafy branches’ ...“ („A translator’s
handbook on the gospel of Mark“, 1961, S. 345)
Oder etwa Andreas Bedenbender:
„Erstaunlicherweise machen die Kommentare für gewöhnlich wenig
Aufhebens um das Wort. Weil hier mit dem lexikalischen Sinn von
stibas, nämlich ‚Lager irgendwelcher Art aus Stroh, Schilf, Binsen
und ähnlichen Dingen’ (Bauer/Aland, s.v.), tatsächlich wenig
anzufangen ist, hat sich in Auslegungen und Übersetzungen die
Vorstellung etabliert, Markus habe mit den stibades grüne Zweige,
Laubbüschel, oder Wedel gemeint. D.h., die Stelle wird behandelt,
als gäbe es keinen nennenswerten Unterschied zwischen den
markinischen stibades und den von Matthäus beim Einzug erwähnten
kladoi, ‚Zweigen’, oder den baia ton phoinikon, ‚Palmenzweigen’,
die laut Joh 12,13 zu den Requisiten des Einzugs gehören. Man muss
sich jedoch die Frage stellen, weshalb Markus ein Wort nimmt, das
erstens etwas anderes bedeutet und das zweitens höchst entlegen
ist.“ („Frohe Botschaft am Abgrund“, 2013, S. 312)
Bratcher & Nida („it obviously
means“) bleiben also jede Begründung schuldig und der von mir
hochgeschätzte Bedenbender meint lediglich, dass mit „dem
lexikalischen Sinn … tatsächlich wenig anzufangen ist“. Aber
wieso eigentlich?
Was die Pilger im Vers 11:8 auf der
einfachen Textebene tun, ist gewissermaßen einen „roten Teppich“
auszubreiten bzw. einen Weg für eine Ehrenparade zu errichten. Sie
verwenden zu diesem Zweck Dinge, die sie bei der Hand haben: die
einen ihre Gewänder, die anderen die Stibades. Die Verwendung des
Partizips im Aorist aktiv (κόψαντες – geschlagen habend)
zeigt an, dass das Schlagen der Stibades aus den Feldern
(Obstbaumplantagen und Olivenhaine mit einbezogen) zeitlich bereits
vorher abgeschlossen war. In der Regel wird man annehmen, dass diese
abgeschlossene Handlung temporär unmittelbar vorher geschah. Dieses
Verständnis ist aber nicht zwingend. Zwischen dem Schlagen und
Herstellen der Stibadas und ihrem Ausbreiten in den Weg kann auch ein
gewisser zeitlicher Abstand liegen.
Bei den Stibadas von Markus könnte es
sich deshalb um Stroh- und Laublager handeln, die eine gewisse Zeit
zuvor errichtet worden sind und auf denen die Pilger zum Beispiel
nächtigten oder auf denen sie ein gemeinsames Mahl gehalten haben.
Nichts hindert dieses simple Verständnis des Verses. Vor allem aber:
ich bin mir recht sicher, dass insbesondere der antike Leser diesen
Vers so gedeutet hätte, jedenfalls solange ihm die Fassungen von
Matthäus und Johannes unbekannt waren. Meines Erachtens hätte er
nie die Bedeutung von Stibadas in seinem Leseverständnis verändert,
sondern die Partizipialkonstruktion in dem beschriebenen Sinn
aufgelöst. Vergleicht man nochmals die Darstellungen von Markus und
Matthäus, ist leicht zu sehen, dass Matthäus genau diese
Knackpunkte „berichtigt“.
Markus:
die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg, andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.
die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg, andere aber stibadas, geschlagen (habend) aus den Feldern.
Matthäus:
bettete die eigenen Gewänder auf den Weg, andere aber schlugen Zweige von den Bäumen und betteten sie auf den Weg
bettete die eigenen Gewänder auf den Weg, andere aber schlugen Zweige von den Bäumen und betteten sie auf den Weg
Aus den Stibadas von Markus macht
Matthäus kladous (Zweige), die markinischen „Felder“ verändert
er zu „Bäumen“ und vor allem löst er die Partizip-Konstruktion
auf, so dass bei Matthäus das Abschlagen der Zweige und deren
Ausbreiten auf dem Weg notwendigerweise zeitlich unmittelbar
aufeinander folgen.
4) Es ist erfrischend, das nüchterne
Werk eines richtigen Historikers zu lesen. Ich zitiere aus dem Buch
"Thesaurus Cultus Et Rituum Antiquorum" (J. Paul Getty
Museum), das sich im vorliegenden Abschnitt der Verwendung von
Stibades bei heidnischen Kultmählern in der Antike widmet.
„Stibas
Neben der Kline gab es im kultischen Zusammenhang mehrere primitive Gelageformen, von denen einige anscheinend mit besonderen Kulten in Verbindung standen. Der einfachste Typ ist die stibas. Damit wird ein direkt auf der Erde aus Laub oder Stroh bereitetes Lager bezeichnet, das ursprünglich von Soldaten im Felde sowie von Bauern und Hirten benutzt wurde. Stibades sind zunächst in altertümlichen Kulten üblich, die in einer besonderen Beziehung zu Fruchtbarkeit, Vegetation und Erde standen.
...
Die stibas ist fester Bestandteil ländlicher Feste. Das aus Laub und Stroh bereitete Lager wird in der Regel mit Tüchern, Matratzen und Kissen bedeckt.
…Neben der Kline gab es im kultischen Zusammenhang mehrere primitive Gelageformen, von denen einige anscheinend mit besonderen Kulten in Verbindung standen. Der einfachste Typ ist die stibas. Damit wird ein direkt auf der Erde aus Laub oder Stroh bereitetes Lager bezeichnet, das ursprünglich von Soldaten im Felde sowie von Bauern und Hirten benutzt wurde. Stibades sind zunächst in altertümlichen Kulten üblich, die in einer besonderen Beziehung zu Fruchtbarkeit, Vegetation und Erde standen.
...
Die stibas ist fester Bestandteil ländlicher Feste. Das aus Laub und Stroh bereitete Lager wird in der Regel mit Tüchern, Matratzen und Kissen bedeckt.
Die stibades werden aus Blättern verschiedener Pflanzen und Bäume bereitet, die öfters mit spezifischen Göttern verbunden sind. Bei den Iobakchen wird Efeu, die heilige Pflanze des Dionysos, verwendet. Bei den Thalysien bestanden die stibades aus Binsen und frisch geschnittenem Weinlaub, und bei den Tonaia aus Keuschlamm, dem heiligen Kraut Heras.“
4.1) Einige Beispiele aus der antiken
Literatur. Ich füge diesen genau die Übersetzung an, die man online
finden kann:
Euripides, Helena, 798
Μενελέως: ὁρῶ ταλαίνας
στιβάδας, ὧν τί σοὶ μέτα;
Menelaos: Strohpolster seh ich, Arme – was bedarfst du der?
Menelaos: Strohpolster seh ich, Arme – was bedarfst du der?
Aristophanes, Der Friede, 348
πολλὰ γὰρ ἀνεσχόμην
πράγματά τε καὶ στιβάδας, ἃς ἔλαχε
Φορμίων:
Denn ich trug viele Noth, Lag auf
Strohbetten, hart, Wie die Streu Phormions.
Platon, Der Staat, 372b
κατακλινέντες ἐπὶ
στιβάδων ἐστρωμένων μίλακί τε καὶ
μυρρίναις
sich lagern auf ein Bett von Eiben-
oder Myrtenstreu:
Herodot, Geschichte, 4.71
καὶ ἔπειτα, ἐπεὰν
θέωσι τὸν νέκυν ἐν τῇσι θήκῃσι ἐπὶ
στιβάδος
Nun wird auf dem Gräberplatze zuerst
die Leiche auf einer Matte beigesetzt
Philo von Alexandria, Das kontemplative
Leben, IX (69) (über die „Therapeuten“)
στιβάδες γάρ εἰσιν
εἰκαιοτέρας ὕλης
rugs of the coarsest materials
4.2) Etymologisch leitet sich das Wort
στιβάς (stibas) von στείβω (steibo) – etwas „dicht
machen“ oder „festtreten“ ab. Der „στίβος“ ist ein
festgetretener Pfad, im modernen Sprachgebrauch die Laufbahn im
Leichtathletik-Stadion, „στῖφος“ etwas
„Zusammengedrängtes“, der „Haufen“ oder eine „Horde“.
Im modernen Sprachgebrauch finden wir
u.a. die „κυτταρική στιβάδα“ (Zellschicht), das
Adjektiv „πολύστιβος“ (vielschichtig), die „στιβάδα
του όζοντος“ (Ozonschicht), die „χιονοστιβάδα“
(Lawine – die Schneeschicht), „στοίβαγμα“ (Stapel)
usw.
All diese Wörter sind durch die Idee
einer „Schicht“ miteinander verwandt.
4.3) Das Wort στιβάς (stibas)
bezeichnet daher
etymologisch – eine Schicht
funktional – eine Schicht, auf der
man liegen kann (zum Essen, Schlafen oder zur Bestattung)
vom Aufbau – die aus „fest zusammen
geschichteten“ Pflanzenteilen hergestellt ist
5) Zurück zum Markusevangelium. Was
will Markus in Vers 11:8 eigentlich mit seinem Satz sagen?
Und viele die Gewänder (von) ihnen
betteten in den Weg, andere aber Strohruhelager, geschlagen (habend)
aus den Feldern.
καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν, ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.
καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν, ἄλλοι δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.
Was diese Leute im Vers 11:8 „treiben“,
scheint mir ganz offensichtlich die wortwörtliche Erfüllung von
Markus 1:3 (dem Zitat aus Jesaja 40:3) zu sein:
Ἑτοιμάσατε τὴν ὁδὸν
Κυρίου, εὐθείας ποιεῖτε τὰς τρίβους
αὐτοῦ
Bereitet den Weg (vom) Herrn,
geradlinig macht die Pfade (von) ihm!
Der Aufruf im Buch Jesaja ist
offensichtlich nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß gemeint. Das
Verhalten der Leute wirkt daher eher komisch und fragwürdig …
(Dazu alsbald mehr)
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