1) Nach allgemeiner Meinung gelten die
Pharisäer als hauptsächliche Widersacher von Jesus. Dem entspricht,
dass sie in den Evangelien 89 Mal erwähnt werden, die
Schriftgelehrten nur 59 Mal. Im Markusevangelium ist das Verhältnis
jedoch umgekehrt. Schriftgelehrte (γραμματεῖς –
grammateis) nennt Markus 21 Mal, Pharisäer (Φαρισαῖοι -
Pharisaioi) hingegen lediglich 12 Mal. Dabei sind beide Gruppen nicht
strikt voneinander getrennt. In Mk 2:16 begegnet man auch den
„Schriftgelehrten der Pharisäer“.
Ein weiterer Unterschied der Evangelien
betrifft das Profil dieser Gegner. Während die Unterscheidung von
Pharisäern und Schriftgelehrten bei Matthäus und Lukas eher diffus
ist (eine vage Ausnahme mag Lk 11:37ff sein), sind bei Markus die
Pharisäer von den Schriftgelehrten deutlich zu unterscheiden, wie
Dieter Lührmann bereits vor knapp 30 Jahren gezeigt hat.
Mk 2:6 "Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen ..." - via commons.wikimedia |
Die Kritik der Pharisäer bei Markus
zielt auf den durch das Recht (Halacha) gebotenen Lebenswandel
(Fastenfrage Mk 2:18, Sabbatfrage Mk 2:24, Speisegebote Mk 7:5,
Ehescheidung Mk 10:2, Steuerfrage Mk 12:13). Die Schriftgelehrten
bestreiten hingegen die göttliche Vollmacht von Jesus und stellen
ihn als von Beelzebul besessen dar (Mk 2:6, 3:22, 11:27, 12:35),
lehren eine andere Auslegung der Schriften der hebräischen Bibel (Mk
9:11, 12:35) und planen mit den Hohenpriestern und Ältesten die
Tötung von Jesus (8:33, 10:33, 11:18, 14:1, 14:43, 14:53, 15:1).
Die Rivalität zwischen Jesus und den
Schriftgelehrten hebt Markus noch zusätzlich durch zwei Stellen
hervor: In Mk 1:22 heißt es über Jesus, dass er „in Vollmacht
lehrt und nicht wie die Schriftgelehrten“. In Mk 12:38ff sind es
schließlich die Schriftgelehrten, die im Markusevangelium unter allen Gegnern am
kritischsten beurteilt werden: „Und er lehrte sie und sprach zu
ihnen: Seht euch vor vor den Schriftgelehrten, die gern in langen
Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen und sitzen
gern obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl; sie fressen die
Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete. Die werden
ein umso härteres Urteil empfangen.“
Ein Schwarz-Weiß-Denken finden wir bei
Markus gleichwohl nicht. Die lobenswerte Ausnahme aus dem Kreis
seiner Gegner kommt ausgerechnet aus dem Lager der Schriftgelehrten –
Mk 12:28ff.
Soweit der mir ersichtliche Stand der
Wissenschaft. Ich mag hierzu eine Beobachtung ergänzen: Die
Pharisäer wagen im Markusevangelium stets die offene Diskussion mit
Jesus, die Schriftgelehrten meiden sie hingegen, versuchen aber die
Jünger und das Volk zu beeinflussen.
2) Die Pharisäer fordern Jesu im
Markusevangelium immer öffentlich heraus. Sie scheuen keine
Diskussion mit ihm (Mk 2:24 „Und die Pharisäer sprachen zu ihm:
...“, 8:11 „Und die Pharisäer kamen heraus und fingen an, mit
ihm zu streiten ...“, 10:2 „Und Pharisäer traten zu ihm und
fragten ihn ...“).
Die Schriftgelehrten agieren hingegen
aus dem Hinterhalt. Sobald sie Jesus allein gegenüber stehen, wagen
sie nie die direkte Konfrontation mit ihm, versuchen aber „hinter
seinem Rücken“ die Jünger und die Volksmenge zu beeinflussen.
Lediglich in den Fällen, in denen sie mit einer weiteren Gruppe von
Gegnern gemeinsam auftreten, sind sie als Beteiligte einer Diskussion
mit Jesus erwähnt, dabei aber nie an erster Stelle.
2.1) Obwohl die Schriftgelehrten
offensichtlich entschieden anderer Auffassung sind, äußern sie sich
in Mk 2:6f nicht, sondern denken sich nur ihren Teil: „Es saßen da
aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet
der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott
allein?“, werden daraufhin von Jesus direkt angesprochen,
ohne ihm Antwort zu geben.
In Mk 2:26 wenden sich die
„Schriftgelehrten der Pharisäer“ nicht an Jesus, sondern
lediglich an die Jünger („Isst er mit den Zöllnern und
Sündern?“), ebenso in Mk 9:14, in Mk 3:22 verbreiten die „von Jerusalem
herabgekommenen“ Schriftgelehrten Meinungen unter dem Volk („Er
hat den Beelzebul“, und: „Er treibt die bösen Geister aus durch
ihren Obersten“).
Obwohl Jesus in Mk 12:35 die
theologische Auffassung der Schriftgelehrten öffentlich in Frage
stellt, nach der der Christus ein Sohn Davids sei, stellen sich die
Schriftgelehrten seiner Rede nicht entgegen - anders als Jesus in Mk 3:23 gegen den Beelzebul-Vorwurf der Schriftgelehrten.
2.2) In Mk 7:1.5 treten sie gemeinsam
mit den Pharisäern auf, werden aber beide Male in der Aufzählung
nach den Pharisäern genannt (Mk 7:5 - "Da fragten ihn die Pharisäer
und Schriftgelehrten: Warum leben deine Jünger nicht nach den
Satzungen der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen?")
An vier Stellen sind die
Schriftgelehrten gemeinsam mit den Hohenpriestern genannt, auch hier
jeweils nach ihnen. (Mk 10:33 „... und der Menschensohn wird
überantwortet werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten...“,
Mk 11:18 „Und es kam vor die Hohenpriester und Schriftgelehrten,
und sie trachteten danach, wie sie ihn umbrächten.“, Mk 14:1 „Und
die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List
ergreifen und töten könnten.“, Mk 15:31 „Desgleichen
verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den
Schriftgelehrten ...“)
Fünf Stellen widmen sich dem
Dreierbund Hohenpriester, Älteste und Schriftgelehrte, wobei an vier
von ihnen die Hohenpriester als erste genannt sind (Mk 11:27, 14:43,
14:53, 15:1). Zwei dieser Verse, die die konkrete Verfolgung von
Jesus betreffen, nennen die Schriftgelehrte als zweite vor den
Ältesten (Mk 11:27 „Und als er im Tempel umherging, kamen zu ihm
die Hohenpriester und Schriftgelehrten und Ältesten ...“, Mk 14:43
„... kam herzu Judas … und mit ihm eine Schar mit Schwertern und
mit Stangen, von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und
Ältesten.“) Bei der Durchführung des Gerichtsverfahrens werden
sie hingegen an dritter Stelle hinter den Ältesten angeführt (Mk
14:53 „Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester; und es
versammelten sich alle Hohenpriester und Ältesten und
Schriftgelehrten.“ Mk 15:1 „... hielten die Hohenpriester Rat mit
den Ältesten und Schriftgelehrten … und sie banden Jesus, führten
ihn ab und überantworteten ihn Pilatus.“)
Bei der Leidensankündigung in Mk 8:31
stehen die Ältesten vor den Hohenpriestern und Schriftgelehrten an
erster Stelle: „Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn
muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und
Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei
Tagen auferstehen.“
2.3) Mein Eindruck ist, dass die
Zuerstnennung der Ältesten in Mk 8:31 nichts über diese Gruppe
direkt aussagen soll, sondern vielmehr indirekt etwas über die
Schriftgelehrten: Dass sich die Schriftgelehrten stets hinter anderen
verstecken.
Die Ältesten sind im Markusevangelium
die lautlosesten Gegner, sie treten nie allein auf und werden nur
selten erwähnt. Ihre Nennung an erster Stelle in Mk 8:31 noch vor
den Hohenpriestern und Schriftgelehrten (als den eigentlichen
„Mordtreibern“) wirkt meines Erachtens inhaltlich verfehlt und scheint deshalb eher
auf etwas ganz anderes zu verweisen, dass nämlich die
Schriftgelehrten nie an erster Stelle genannt sind.
3) Im biblischen Hintergrund des
markinischen Themas der Schriftgelehrten als den Hauptgegnern von
Jesus liegt gewiss Jeremia 8:8. Für die in der Luther-Übersetzung
genannten „Schreiber“ verwenden die Septuaginta und Markus exakt
das gleiche Wort - γραμματεῖς (grammateis).
„5 Warum will denn dies Volk zu
Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen
Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
6 Ich sehe und höre, dass sie nicht
die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und
der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie
ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
7 Der Storch unter dem Himmel weiß
seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in
der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN
nicht wissen.
8 Wie könnt ihr sagen: »Wir sind
weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns«? Ist's doch lauter
Lüge, was die Schreiber (γραμματεῦσιν - grammateusin) daraus machen.
9 Die Weisen müssen zuschanden,
erschreckt und gefangen werden; denn was können sie Weises lehren,
wenn sie des HERRN Wort verwerfen?
...
12 Sie werden mit Schande dastehen,
weil sie solche Gräuel getrieben haben; aber sie wollen sich nicht
schämen und wissen nichts von Scham. Darum sollen sie fallen unter
den Fallenden, und wenn ich sie heimsuchen werde, sollen sie stürzen,
spricht der HERR.
13 Ich will unter ihnen Lese halten,
spricht der HERR, sodass keine Trauben am Weinstock und keine Feigen
am Feigenbaum übrig bleiben, ja, auch die Blätter abfallen sollen;
und was ich ihnen gegeben habe, das soll ihnen genommen werden.“
Auf Jeremia 8:13 wird Markus beim
Gleichnis vom Feigenbaum (Mk 11:12, 11:20, 13:28) auch zurückkommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen