1) Als ich das erste Mal im Markusevangelium las, war ich 17 oder 18 Jahre alt. Damals wollte ich mir einen Überblick über die letzten Tage im Leben von Jesus aus den historischen Quellen verschaffen. Bei meiner Lektüre ging ich davon aus - wie selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken -, dass es sich beim Markusevangelium um einen Bericht handelt, in dem historische Erinnerungen an Jesus mit christlichen Glaubenswahrheiten und antikem Aberglauben in einer nicht leicht durchschaubaren Gedankenwelt verschmolzen sind. Gleichwohl hegte ich die Hoffnung, dass ich durch sehr sorgfältiges Lesen einige historische Umstände und Geschehnisse im Bericht des Markus entdecken könnte.
Jesus vor Pilatus |
Jahre später habe ich gelernt, dass dieses Vorverständnis des Textes von fast allen historisch interessierten Gelehrten geteilt wird, wenn auch natürlich nicht derart naiv. Diese Gelehrten hatten über ihre Herangehensweise an den Text Reflexionen angestellt, komplizierte Theorien über dessen Entstehung gebildet und Argumente gewonnen, die ihre Art der Lektüre und Interpretation rechtfertigten. Wie unterschiedlich die Auffassungen dieser Gelehrten im Detail auch waren, sie änderten mehrheitlich nichts an diesem Grundverständnis, nach welchem vor allem die letzten Kapitel des Markusevangeliums als ein auf wirklichen Erinnerungen beruhender Bericht verstanden wurde - wenn auch von späteren theologischen Anschauungen des Evangelisten stark durchtränkt und verformt. Die Gelehrten begriffen sich daher als Archäologen am Bibeltext, die theologische Schichten im Text des Markusevangeliums entfernten, um die darunter verborgenen historischen Geschehnisse um Jesus gleichsam auszugraben und freizulegen.
In diesem Beitrag möchte ich am Beispiel des Verhörs vor Pilatus (vor allem am Vers Markus 15:2) zeigen, warum ich, aber auch viele moderne Gelehrte dieses Verständnis des Markusevangeliums nicht mehr teilen und sich die Meinung über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit im Bericht des Markus in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben hat.
2) Traditionelle Gelehrte fühlen sich vor allem im Kapitel 15 des Markusevangeliums den vermeintlich historischen Geschehensabläufen ganz nahe. In seiner rechtshistorischen Abhandlung „Der Prozess Jesu – aus römisch-rechtlicher Perspektive“ meint Christoph G. Paulus, em. Professor für römisches Recht, sogar berücksichtigen zu müssen, dass Pilatus das Verhör in Latein führte, Jesus auf Aramäisch antwortete und bei der Übersetzung durch anwesende Dolmetscher etwaige feinsinnige Nuancen in den Äußerungen der Anwesenden verloren gingen (S. 17f.). Er kommt schließlich auf die Eröffnung des Prozesses durch Pilatus in Markus 15:2 (S. 27f.) zu sprechen und versucht, den Text vor dem Hintergrund des antiken römischen Strafrechts zu interpretieren:
a) Anklagefrage: 1 Und alsbald am frühen Morgen hielten die Hohenpriester Rat samt den Ältesten und Schriftgelehrten und das ganze Synedrium, und sie banden Jesus und führten ihn weg und überlieferten ihn dem Pilatus. 2 Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? ...
b) Jesu Antwort: Er aber antwortete und sprach zu ihm: Du sagst es.
Für Markuskenner dürfte indes angesichts der Frage des Pilatus offensichtlich sein, dass dieser Wortlaut nicht aus einem historischen Gerichtsprotokoll stammt oder auf Augenzeugenberichten beruht, sondern der Dichtkunst des Evangelisten Markus zu verdanken ist. Warum ist das so?
Die Frage des Pilatus, der eine prozessrechtlich ordnungsgemäße Anklageerhebung durch die Hohenpriester gar nicht erst abwartet und als Richter sofort vorprescht, lautet wörtlich:
Dieser Wortlaut findet sich im Markusevangelium auch in anderen an Jesus gerichteten „Du bist (σὺ εἶ)“-Äußerungen. Die Frage des Pilatus fügt sich zwanglos in eine ganze Reihe von Aussagen oder Fragen anderer Figuren in der Erzählung ein:
Aufgrund dieser Beobachtung dürfte es bereits als sehr unwahrscheinlich gelten, dass alle diese Charaktere tatsächlich ganz zufällig den gleichen Wortlaut gewählt haben: Freund und Freund als auch Gott und die Dämonen. Vielmehr liegt es nahe, dass der Schriftsteller, der die Geschichte verfasst hat, all diesen Figuren die gleichen Worte in den Mund legte.
Besonders auffällig sind die weiteren Wort- und Sinnübereinstimmungen des Verses Markus 15:2 mit dem sogenannten Petrusbekenntnis (Markus 8:29).
Neben den Wortlautübereinstimmungen ist insbesondere der gleichwertige Sinn der Äußerungen von Jesus zu den Jüngern und Pilatus auffällig („ihr sagt“, „du sagst“). Angesichts all dieser Übereinstimmungen dürfte letztlich kein Zweifel mehr bestehen, dass in beiden Fällen der gleiche Autor den Wortlaut erdacht hat und nicht beide historischen Personen zufällig die gleichen Worte verwendeten.
3) Die Frage des Pilatus ist zudem Teil eines literarischen Leitmotivs im Markusevangelium. Drei Mal wird innerhalb der Erzählung explizit die Frage aufgeworfen, wer Jesus ist.
Auf diese Frage geben viele handelnde Personen im Markusevangelium teilweise auch ganz unterschiedliche Antworten. Bereits bei Jesus‘ erstem öffentlichen Auftritt in der Synagoge von Kapharnaum findet sich ein Mensch in unreinem Geist, der Jesus genau zu kennen behauptet: „Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“ (Markus 1:24). Bei seinem Kreuzestod ist es schließlich ein römischer Hauptmann, der erneut eine Identitätsaussage über Jesus formuliert: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15:39).
Bei näherer Prüfung kann man bemerken, dass all diese Bekundungen weniger etwas über Jesus aussagen, sondern vor allem etwas über die jeweils sprechende Person.
Die Dämonen mit ihrem unreinen Geist fürchten in Jesus den Sohn Gottes, der ihnen als Träger des heiligen Geistes übermächtig ist (Markus 1:23ff., 1:34, 3:11ff., 5:7). Die Menschen in seinem Heimatort können Jesus’ Identität nur im Kontext des Berufes und der familiären Verhältnisse einordnen und in ihm nur den Zimmermann und Sohn der Maria sehen (Markus 6:3). Das Volk, das Jesus’ Wunderwirken so schätzt, erkennt in ihm einen Propheten aus alter Zeit oder gar den wiedergekehrten Elija (Markus 6:15, 8:28). Herodes, den ein schlechtes Gewissen wegen der Hinrichtung von Johannes dem Täufer plagt, befürchtet, dass Jesus tatsächlich Johannes sei und sein Opfer zur Vergeltung auferstanden ist (Markus 6:16). Der Hohenpriester fürchtet in Jesus den Sohn Gottes mit himmlischer Macht (Markus 14:61) und Pilatus einen potentiellen Aufrührer, der irdische Macht an sich reißen könnte, und den er deshalb als „König der Judäer“ bezeichnet.
Unablässig tragen einzelne Charaktere im Markusevangelium vor, wer dieses Jesus für sie ist und welche Identität er ihrer Meinung nach hat. Auch die unterwürfige Syrophönizierin zählt dazu, die Jesus mit „Herr“ anredet (Markus 7:28), der blinde Bartimäus, der nach Jesus als „Sohn Davids“ ruft (Markus 10:47), die Jünger, die ihn als „Lehrer“ oder „Rabbi“ anreden (Markus 4:38, 9:38, 10:35, 13:1, 9:5, 11:21, 14:45), oder der junge Mann im leeren Grab, der von Jesus – gleichsam wie Paulus in seinen Briefen - als „dem Gekreuzigten“ spricht (Markus 16:6).
Gelehrte und Leser beurteilen diese Titel und Ehrenbezeichnungen regelmäßig danach, ob sie treffend oder eher unpassend sind, ob die handelnden Personen sie mit ehrlicher Überzeugung als Bekenntnis oder im Gegenteil mit innerer Distanz oder gar verhöhnend aussprechen.
Dabei sollte jedoch in erster Linie nicht das große Ganze übersehen werden. Das Markusevangelium ist eine Erzählung, in der die Frage nach der Identität von Jesus wiederholt gestellt wird und der Autor durch viele handelnde Personen, Dämonen und eine Himmelsstimme viele Antworten auf diese Frage geben lässt.
4) Dieses literarische Motiv, das um die Frage nach der Identität von Jesus kreist, prägt sich auch auf dem Höhepunkt der Erzählung aus.
Markus lässt Jesus, den Helden seiner Geschichte, nicht etwa wegen einer Tat X oder einer Handlung Y verurteilen und kreuzigen, sondern wegen einer angeblichen Identität.
Nicht weil Jesus irgendetwas getan hätte, sondern weil er jemand sein soll: der König der Judäer.
Literaturhinweise (traditionelle Auffassung)
Josef Blinzler, „Der Prozess Jesu“, 1951 (4. Aufl. 1969)
Gerhard Otte, „Neues zum Prozeß gegen Jesus?“, 1992
Christoph G. Paulus, „Der Prozess Jesu – aus römisch-rechtlicher Perspektive“, 2016
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