Mittwoch, 12. Juni 2024

Kein Postkarten-Flair für diese „Räuberhöhle“


1) Wenn Josephus Flavius im 5. Buch seines „Jüdischen Krieges“ den Jerusalemer Tempelkomplex beschreibt, will er zunächst verdeutlichen, wie wehrhaft die Bauten errichtet wurden und wie schwierig sich die Eroberung für die Römer im Krieg gestaltete. Aber schnell wechselt Josephus in den Duktus des plaudernden Historikers, der seine interessierte Leserschaft auf gelehrte Weise mit einer gefälligen Beschreibung des Tempels unterhält. In ausführlicher Darstellung benennt er architektonische Einzelheiten und Gestaltungen der Tempelanlage. Dabei spart er auch nicht mit Urteilen, die man eher in einem antiken Reiseführer erwarten würde: „Der äußere Anblick des Tempels ließ nichts vermissen, was irgendwie Herz und Auge überwältigen konnte. Auf allen Seiten mit schweren Goldplatten belegt, blitzte er, wenn ihn die ersten Strahlen der Sonne trafen, im feurigsten Glanze auf …“ (§ 222). 

 

Angesichts vieler baulicher Details wiederholt Josephus, wie hingerissen die Besucher reagierten und voller Bewunderung staunten. Auch Philo von Alexandria schlägt diesen Ton an: „Die herrliche Ausstattung des Baus ist also weit sichtbar und erweckt das Staunen der Beschauer, namentlich der von Ferne kommenden Fremden, die … von seiner Schönheit und Pracht beeindruckt sind.“ (Über die Einzelgesetze, Buch I, 73).

Man kann sich leicht vorstellen, welcher Touristenmagnet dieser Tempel heutzutage wäre: Motiv vieler Postkarten und Hochglanzbilder. Täglich würden tausende Selfies vor der prächtigen Kulisse in den Social Media gepostet werden. Gläubiger, Pilger und Touristen würden umringt von Händlern mit Devotionalien und anderen Waren in Massen über das Gelände strömen. Uns würde es bestimmt ebenso ergehen!

Markus scheint sich dieser weitverbreiteten Bewunderung für den Jerusalemer Tempel wohlbewusst gewesen zu sein, denn am Anfang des 13. Kapitels lässt er einen Jünger auftreten, der ebenfalls solchem Staunen Ausdruck verleiht: „13:1 Als Jesus den Tempel verließ, sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!“ (Einheitsübersetzung).

Die Antwort von Jesus ist berühmt. Neben anderen Bibelversen hat sie in den letzten 50 Jahren Anlass zu vielen Monografien über die Haltung von Jesus zum Jerusalemer Tempel gegeben. Meist geht es dabei um die Frage, ob der „historische Jesus“ nur die tatsächlichen Verhältnisse im Tempel kritisierte oder ob er den Tempel als Institution grundsätzlich ablehnte. Aber dies ist nicht Thema dieses Beitrags. Mich interessiert allein die Sichtweise von Markus.


2) Auffällig ist, dass Markus im Abschnitt Mk 11:11 – 14:49 keine naturgetreue Beschreibung des Tempels gibt. Er spricht vom Tempel ganz allgemein und in fast abstrakter Weise. Er erwähnt keine Treppenaufgänge, keine Eingangstore, keine Säulengänge, keine Höfe und Vorhöfe, keinen Tempelplatz, keine einzelnen Bauten und keinen Altar. Der Tempel (ἱερόν) ist bei Markus einfach nur der Tempel. Nur das im Abschnitt Mk 14:58 – 15:38 drei Mal erwähnte Heiligtum (ναός) scheint sich funktional vom Tempel abzuheben.

Markus erwähnt nicht nur den Altar nicht, auch sonst findet sich in seiner Darstellung kein eindeutiger Hinweis auf einen regulären Opfer- und Kultbetrieb im Tempel - wie ich schon einmal schrieb ("Das abwesende Lamm beim Abendmahl"). Im Mittelpunkt des Berichts stehen vielmehr die ökonomischen Vorgänge im Tempel. Bei Jesus erstem Auftritt im Tempel (Mk 11:15) begegnen uns nur „Händler und Käufer“ und als Inventar nur die „Tische der Geldwechsler“ und „Sitze der Taubenhändler“. Schließlich nennt Markus dann noch die „Schatzkammer“ des Tempels in Mk 12:41 (Geschichte von den zwei Scherflein der armen Witwe).

Jedes Detail, das Markus ausdrücklich benennt, bezieht sich auf das Finanzwesen des Tempels, der von Jesus in Anlehnung an Jeremia 7:11 als „Räuberhöhle“ angeprangert wird – Mk 11:17. Im Markusevangelium wird im Tempel nur gekauft und gehandelt, Geld gewechselt und Geld abgeliefert.

In Mk 11:17 erneuert Jesus für den Jerusalemer Tempel die Vision eines „Gebetshauses für alle Völker“ (Jesaja 56:7). Jedoch betet im Markusevangelium niemand im Tempel außer Jesus, der in Mk 12:29 das Schema Jisrael anstimmt. Alle anderen Autoritäten suchen im Tempel nur die Auseinandersetzung oder Diskussion (Mk 11:27 – 12:34).

Mehr berichtet uns Markus vom Tempel nicht. Vor diesem Hintergrund kann man wohl sagen, dass Markus ein eher abstraktes Bild vom Tempel entwirft. Er lehnt nicht nur die Postkartenidyllen und Reiseführerbeschreibungen ab, sondern seine Sichtweise reduziert den Tempel insgesamt auf dessen Finanzwesen. Es ist, als zeichne Markus eine Skizze vom Tempel, auf dem jedes schöne architektonische und religiöse Beiwerk ausradiert ist und nur das nackte Geld eine Szene von mächtigen, aber indifferenten Steinen und Bauten beherrscht.


3) Anlass für diesen kleinen Beitrag war eine Diskussion zwischen den Gelehrten Eve-Marie Becker und Markus Lau über die Bedeutung des Wortes „γαζοφυλάκιον“ in der Geschichte von den zwei Scherflein der Witwe (Mk 12:41, 12:43): "Und er setzte sich gegenüber dem
γαζοφυλάκιον und beobachtete, wie die Menge Kupfergeld in das γαζοφυλάκιον wirft. Und viele Reiche warfen viel. Und es kam eine arme Witwe und warf zwei Scherflein ein, das ist ein Quadrans."

Dieses griechische Wort wird von den deutschen Bibelausgaben unterschiedlich übersetzt: Gotteskasten, Opferkasten, Schatzkasten, Schatzhaus, Sammelkasten, Schatzkammer. Um was handelt es sich dabei? Um die große Schatzkammer des Tempels oder um eine kleine Spendenbox irgendwo auf dem Tempelareal?

Während Lau den Begriff in Übereinstimmung mit dem Wortgebrauch der Septuaginta und von Josephus als Tempelbankdepot, also landläufig als Schatzkammer, identifiziert, in dem sowohl der Tempelschatz als auch private Besitztümer von Einwohnern aufbewahrt wurden, versteht Becker den Begriff als „Opferbox“ und schreibt: „Doch Laus Interpretation ist schon deswegen nicht zwingend, als sich laut Josephus … die Schatzkammern nahe den Säulenhallen im inneren Hof, der nicht allgemein zugänglich war, befanden. Im Frauenhof dagegen, in dem sich die Witwe ja nur aufgehalten haben kann, standen wohl die dreizehn Opferboxen, in die verschiedene Spenden – für religiöse Opfer, Almosen oder zum Erhalt des Tempelbetriebs – eingelegt werden konnten.

Beckers naturalistische Interpretation scheint auf den ersten Blick sehr naheliegend. Ihr Argument gewinnt seine Überzeugungskraft dadurch, dass sie die kleine Geschichte im Markusevangelium vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse im Jerusalemer Tempel interpretiert (wie sie vor allem bei Josephus und im Mischna-Traktat Middot „Von den Maßen des Tempels“ überliefert sind): Frauen konnten sich doch nur im Vorhof der Frauen aufhalten! Ergo …

Ein solches Argument erschließt sich indes nicht, wenn man die Geschichte allein im Kontext des Markusevangeliums interpretiert, denn bei Markus hat der Tempel keine Säulenhallen, keinen inneren Hof und keinen Frauenhof; dafür beherrschen dort aber mächtige Finanzströme die Szenerie.

Diese Überlegung wirft die schöne methodologische Frage auf, was der richtige Kontext zur Interpretation einer Perikope im Markusevangelium ist. Sind es die realen historischen Verhältnisse, die wir vielleicht doch eher in den Schriften des Josephus wiedergegeben finden, wie Eve-Marie Becker meint? Oder sind es diejenigen Interpretationen, die Markus uns von diesen Verhältnissen gibt und die von seiner eigenen Sichtweise geprägt sind? Ich persönlich glaube, dass die Geschehnisse im Markusevangelium eher in ihrer „eigenen Welt“ spielen und die realen geschichtlichen Umstände zu ihrem Verständnis gar nicht so ausschlaggebend sind, dass uns Markus aber häufig auf ganz andere Art mehr über die Historie zu sagen weiß als zum Beispiel das viel tempelfreundlichere Lukasevangelium.


Literatur

Philo von Alexandria, Über die Einzelgesetze, Buch I, 73
Josephus Flavius, Jüdischer Krieg, Buch V, 222
Markus Lau, Die Witwe, das γαζοφυλάκιον und der Tempel ..., ZNW 107 (2016), 186ff.
Eve-Marie Becker, Was die „arme Witwe“ lehrt ..., NTS 65 (2019), 148ff.

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