
Als Kenner der Kirchenväter wusste Cajetan auch um einen Brief von Hieronymus an Hedybia aus dem späten 4. Jahrhundert n.Chr., in dem Hieronymus auf die Verse 16:9-20 zu sprechen kam und deren Unterschiede zum Matthäusevangelium. Als eine Lösungsmöglichkeit schlug Hieronymus vor, diese Verse nicht zu akzeptieren, weil sie nur in wenigen Exemplaren des Markusevangeliums vorhanden seien und in nahezu allen griechischen Handschriften fehlen würden.
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Cajetan, In omnes D. Pauli et ... |
Kardinal Cajetan schloss hieraus, dass die Echtheit der Verse 16:9-20 fraglich sei, und plädierte dafür, dass die katholische Kirche ihre Glaubenswahrheiten nicht auf diese Bibelstellen stützen sollte. Insbesondere durch verschiedene „Widerlegungen“ wurden die Thesen Cajetans öffentlich verbreitet.
2) Im Jahr 1516 publizierte Erasmus von Rotterdam eine kritische Ausgabe des griechischen Textes des Neuen Testaments. Es handelte sich dabei um die erste veröffentlichte Druckausgabe in griechischer Sprache, die europaweit bekannt wurde.
In den später herausgegebenen Anmerkungen zum Bibeltext erwähnte Erasmus ebenfalls das Zeugnis des Hieronymus aus dem Brief an Hedybia, ohne ausdrücklich für oder gegen die Echtheit der Verse 16:9-20 Stellung zu nehmen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa der Jesuit Jean de la Haye, der um 1609 sowohl zur Meinung Cajetans Stellung nimmt, als auch zum Brief des Hieronymus.
3) 1678 erörterte der französische Theologe Richard Simon die Frage der Echtheit des langen Markusschlusses bereits sehr umfangreich. Er zitierte sowohl Hieronymus als auch Cajetan und nahm auch auf weitere Gelehrtenmeinungen Bezug.


Letzten Endes war Richard Simon davon überzeugt, dass die Verse 16:9-20 echt sind. Seine Erörterung der möglichen Unechtheit nahm jedoch bereits breiten Raum ein und wog widerstreitende Gründe miteinander ab. Die Diskussion um die Echtheit der Verse war damit in Gang gesetzt.

Seine Übersicht wirkt bereits wie das Ergebnis einer umfassenden Recherche, in der alle zu seiner Zeit in Betracht kommenden Schriftzeugnisse ausgewertet sind. (Einige wichtige habe ich ebenfalls markiert.)
5) Nach Cajetan waren es die Gelehrten Johann David Michaelis (1788) und Johann Jakob Griesbach (1789) die an der Echtheit der Verse ausdrücklich zweifelten. Neben den bereits bekannten Argumenten für deren Unechtheit stützte Griesbach seine Meinung auch auf die Abweichungen und Besonderheiten des langen Markusschlusses gegenüber den Evangelien nach Matthäus und Lukas. Wie Cajetan ging er davon aus, dass der ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums verloren gegangen und des Evangelium nachträglich ergänzt worden sei.

Die These von der Unechtheit der Verse 16:9-20 war damit (zumindest als Mindermeinung) bereits zur Zeit der Französischen Revolution etabliert und bildete den Schlusspunkt von Überlegungen, die mit der Reformation begonnen hatten.

Das Bekanntwerden der Lesart des Codex Vaticanus diente offenbar vielen Gelehrten als ausdrücklicher Beweis für die Unechtheit der Verse 16:9-20, die sie indes bereits ohne die Handschrift vermutet hatten.
Bemerkenswert an der Entwicklung der These von der Unechtheit des langen Markusschlusses scheint die Tatsache, dass alle Gelehrten ihre Meinung auf externe Gründe stützten, vor allem auf das Zeugnis der Kirchenväter und Handschriftenbefunde. Erst nachdem die These etabliert war, wurden auch dem Text innewohnende Erwägungen umfassend nachgetragen - um 1826 etwa von Johann Valentin Henneberg, wie man unterm Link nachlesen kann.
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