Freitag, 12. Februar 2016

Verfluchter Feigenbaum I


1) Einige Bibelwissenschaftler bekennen freimütig, dass die Geschichte über die „Verfluchung des Feigenbaums“ (Mk 11:12ff) sie ratlos macht. Der Sinn dieser Erzählung im Markusevangelium sei nicht mehr greifbar. Je mehr ich mich mit dem Feigenbaum beschäftige, desto sympathischer finde ich diese Einschätzung. 

James Tissot via wikimedia
Seit langem stehen sich in der Wissenschaft zwei herrschende Meinungen zu dieser Frage gegenüber. Beide verstehen den Feigenbaum gleichnishaft. Nach der einen Auffassung symbolisiere der Feigenbaum den nur noch Finanzinteressen dienenden „Jerusalemer Tempelbetrieb“, nach der anderen das „ungläubige“ Volk von „Israel“. Neben diesen beiden herrschenden Auffassungen finden sich auch einige abweichende Positionen. Sowohl der Wikipedia-Artikel als auch ein etwas älterer Beitrag von Thomas Breuer bieten hierzu informative Übersichten.

Die beiden herrschenden Meinungen machen jeweils mehrere Argumente für sich geltend. Sowohl die „Tempel-Theorie“ als auch die „Volk-Israel-Theorie“ gründet sich letztlich auf einem Hauptargument, das durch weitere Gesichtspunkte nur noch abgerundet wird. Bei der „Tempel-Theorie“ ist dieses Argument die textliche Verklammerung von Tempelaktion und Feigenbaumverfluchung in der sogenannten Sandwich-Technik, bei der „Volk-Israel-Theorie“ die Vorprägung der Feigen-Metapher durch die hebräische Bibel. Mir geht es in diesem Beitrag nicht um die Richtigkeit der Theorien an sich, sondern lediglich um die Schlüssigkeit der beiden Hauptargumente. Meines Erachtens sind beide Argumente nicht stichhaltig.

Ich habe versucht, den Feigenbaum zunächst einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es geht dabei um die Art, wie Markus Pflanzen im Allgemeinen und Obstgewächse (einschließlich des Weinstocks und des Ölbaums) im Besonderen als Metaphern verwendet. Mein Eindruck war, dass die Verwendungsweise bei Markus sich in zwei wesentlichen Punkten von derjenigen von Matthäus und Lukas unterscheidet. Außerdem scheint es im Markusevangelium einen regelrechten „Obstbaum“-Abschnitt zu geben, der auch durch die verwendeten Ortsnamen markiert wird. Er beginnt in Markus 11:1 (vor der Ankunft in Jerusalem) mit der Erwähnung von Betfage („Haus der Frühfeigen“), nimmt seinen Weg u.a. über das Weinbauerngleichnis in Mk 12:1ff und endet in Mk 14:32ff im Garten Gethsemane (der „Ölpresse“) mit der Gefangennahme von Jesus und der Flucht der Jünger.


2) Zunächst zu den zwei Theorien. Im Markusevangelium wird die Perikope von der Tempelreinigung durch die zwei Abschnitte der Feigenbaumverfluchung wie in einem Sandwich eingerahmt.

A – Jesus verflucht den Feigenbaum – Mk 11:12ff
       B – Jesus vertreibt die Händler aus dem Tempel – Mk 11:15ff
A' – Verdorrung des Feigenbaums – Mk 11:20ff

Gemäß der „Tempel-Theorie“ spiegele die eingerahmte Erzählung (Tempelaktion) die rahmende Erzählung (Feigenbaumverfluchung) symbolisch wider. Beide ineinander geschachtelten Geschichten stünden nach diesem Haupt-Argument in einem sogenannten „sandwich-agreement“.

Eines der ergänzenden Argumente dieser Auffassung formuliert der Wikipedia-Artikel sehr eingängig: „Wie der Feigenbaum hat auch der Tempel(kult) zwar viele 'Blätter' (Pilgerbetrieb und Geldgeschäfte), aber an Früchten ist nichts zu finden. Deshalb wird der Tempel zerstört werden und analog der Feigenbaum. Übertragen würde damit ein gut aussehender, aber vorgetäuschter und falscher Schein (an Reife) verurteilt ...

Die Ineinander-Schachtelung von zwei Erzählungen ist eine von Markus mehrfach verwendete literarische Technik. Man kann im Markusevangelium ungefähr 10 solcher Sandwiches finden. Meiner Meinung nach wäre das Hauptargument der „Tempel-Theorie“ dann schlüssig, wenn zumindest in der überwiegenden Zahl aller anderen markinischen Sandwiches sich die beiden verknüpften Erzählungen oder ihre Protagonisten ebenfalls symbolisch spiegeln würden (Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere).

Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar stehen die in einem markinischen Sandwich verklammerten Erzählungen in einer thematischen Beziehung zueinander und gewiss sollen beide Erzählungen im Licht der jeweils anderen gelesen werden. Das Verhältnis der Erzählungen ist jedoch nicht das einer symbolischen Spiegelung, sondern in erster Linie einer thematischen Weiterführung, zuweilen auch einer kontrastreichen Gegenüberstellung. Eingangs einige Beispiele „berühmter“ markinischer Sandwiches:

Markus 3:20ff
A – Jesus und seine Familie
B – Jesus und der Beelzebul-Vorwurf
A' – Jesus und seine wahre Familie

Markus 4:1-20
A – Gleichnis vom Sämann
B – Zweck der Gleichnisse
A' – Auslegung des Gleichnisses vom Sämann

Markus 5:21ff
A – der Synagogenvorsteher Jairus bittet Jesus, seine sterbende Tochter zu retten
B – die blutflüssige Frau rettet sich durch die Berührung von Jesus' Gewand
A' – Jesus erweckt die Jairustochter wieder zum Leben

Markus 6:7-30
A – Aussendung der Zwölf
B – Enthauptung des Täufers
A' - Rückkehr der Zwölf

Markus 14:1-10
A – Tötungsplan der Hohenpriester und Schriftgelehrten
B – Salbung in Bethanien
A' – Judas plant mit den Hohenpriestern den „Verrat“

Markus 14:53ff
A – Petrus folgt dem verhafteten Jesus zum Palast des Hohenpriesters
B – Jesus vor dem Hohen Rat
A' – Petrus verleugnet Jesus vor dem Palast des Hohenpriesters

Markus 15:40 – 16:8
A – Frauen um Maria von Magdala bei der Kreuzigung
B – Grablegung durch Joseph von Arimathäa
A' - Frauen um Maria von Magdala am leeren Grab

Bei einigen Sandwiches kann man die thematische Verbindung sehr deutlich erkennen.

- Die Heilung der blutflüssigen Frau beruht auf ihrem Glauben an Jesus (Mk 5:34: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet …). Gleichermaßen fordert Jesus den Synagogenvorsteher Jairus auf: Fürchte dich nicht, glaube nur! (Mk 5:36). Das Thema ist hier „Glaube bewirkt Rettung“ und wird in der Jairuserzählung weiterentwickelt und zu neuer Höhe geführt (Totenerweckung).

- Jesus hält vor dem ganzen Hohen Rat trotz Todesurteil und Gewaltanwendung mutig stand (Mk 14:55ff), Petrus knickt hingegen vor einem jungen Mädchen (Magd des Hohenpriesters) ein und verleugnet Jesus (Mk 14:66). Hier ist das Thema „Standhaftigkeit bei Verfolgung“ und beide Erzählungen werden zum Kontrast gegenüber gestellt.

Aber auch bei jenen Sandwiches, deren thematische Verbindung nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen ist, ist jedenfalls eine „symbolische Widerspiegelung“ nicht feststellbar. Es gibt daher keine allgemeingültige Regel, mit welcher Funktion die jeweiligen Geschichten im Sandwich miteinander verbunden sind. Die literarische Form des markinischen Sandwichs sagt daher „an sich“ nichts über die Beziehung aus, in der beide Erzählungen stehen. Da es keine Regel gibt, kann auch nicht vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen werden.

Dies schließt natürlich nicht aus, dass ein solches Verhältnis ausnahmsweise bei den Erzählungen von der Tempelaktion und der Feigenbaumverfluchung gegeben ist. Die literarische Form des Sandwichs „an sich“ stellt dafür aber kein schlüssiges Argument dar.


3) Das Hauptargument der „Volk-Israel-Theorie“ ist dagegen, dass der Feigenbaum ein in der hebräischen Bibel vorgeprägtes Bild für das Volk Israel sei.

Verwiesen wird dabei auf verschiedene Schriftstellen, z.B. Hosea 9:10ff - „Ich fand Israel wie Trauben in der Wüste und sah eure Väter wie die ersten Feigen am Feigenbaum; aber hernach … wurden sie zum Gräuel … Ephraim ist geschlagen, seine Wurzel ist verdorrt, sodass sie keine Frucht mehr bringen können ...“. Als ergänzendes Argument wird häufig hinzugesetzt, dass diese Interpretation sehr alt ist und bereits im antiken Christentum verbreitet war. So heißt es etwa in einem christlichen Text aus dem 2. Jahrhundert, der apokryphen Petrusoffenbarung: „Verstehst du nicht, dass der Feigenbaum das Haus Israel ist? Wie ein Mann in seinem Garten einen Feigenbaum gepflanzt hatte, und der brachte nicht Frucht ...

Entgegen der „Volk-Israel-Theorie“ ist der Feigenbaum jedoch kein durch die hebräische Bibel vorgeprägtes Bild für das „Volk Israel“. In der weit überwiegenden Anzahl aller Schriftstellen ist er ein Symbol für Frieden, materielle Sicherheit und die Fruchtbarkeit eines Landes. Insgesamt taucht das Wort für Feigenbaum (συκῆ - suké) oder die Feige als Frucht (σῦκον - sukon) in der Septuaginta 32 Mal in 28 Schriftstellen auf.

Vor gut zwei Jahren hat Albert Altenähr den schönen Beitrag'… unter Weinstock und Feigenbaum' - Ein biblisches Friedensbild“ geschrieben. In diesem kleinen Artikel verweist Altenähr auch auf eine häufig wiederholte Phrase in der hebräischen Bibel „ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum“ als Metapher eines friedlichen und materiell gesicherten Lebens. Sie begegnet wörtlich oder mit nahestehenden Worten in 6 Schriftstellen (nach der Septuaginta-Zählung: 3 Kön 2:46g, 4 Kön 18:31, 1 Makk 14:12, Micha 4:4, Sach 3:10, Jes 36:16). Weitere Schriftstellen runden dieses Bild ab, etwa Deut 8:7-9: „Denn der HERR, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ... ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen, ... ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt ...“ (ähnlich Num 13:23, Joel 2:22, Hag 2:19).

Umgekehrt“, so Altenähr treffend, „ist die Zerstörung von Weinstock und Feigenbaum ein Bild der Kriegsnot“ oder eines Gottesgerichts, etwa Joel 1:6-12 „Denn es zieht herauf in mein Land ein Volk, mächtig und ohne Zahl; das hat Zähne wie die Löwen ... Es verwüstet meinen Weinstock und frisst meinen Feigenbaum kahl, schält ihn ganz und gar ab, dass seine Zweige weiß dastehen. … Das Feld ist verwüstet und der Acker ausgedörrt ... Die Ackerleute sehen traurig drein, und die Weingärtner heulen ... weil der Weinstock verdorrt ist und der Feigenbaum verwelkt, … ja, alle Bäume auf dem Felde sind verdorrt.“ (mit ähnlichem Sinn: LXX-Psalm 104:33, Ode 4:17, Hos 2:14, Nah 3:12, Hab 3:17, Jes 34:4, Jer 8:13). Vergleichbar auch, wenn das Volk beim Durchzug durch die Wüste mit Mose hadert (Num 20:5): „Und warum habt ihr uns aus Ägypten geführt an diesen bösen Ort, wo man nicht säen kann, wo weder Feigen noch Weinstöcke noch Granatäpfel sind und auch kein Wasser zum Trinken ist?

In 19 der insgesamt 28 Schriftstellen der Septuaginta ist der Feigenbaum (meist gemeinsam mit dem Weinstock) also gleichsam der Gradmesser eines friedlichen und zufriedenstellenden Lebens. Hierzu kann letztlich auch Hohelied 2:10-13 (Zeichen des anbrechenden Liebesglücks) gezählt werden: „Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit ihren Blüten. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

6 Schriftstellen beziehen sich auf einen singulären Sinn: die Feigenblätter von Adam und Eva (Gen 3:7), Jotams Parabel 'Bäume suchen einen König' (Richter 9:10-11), Feigenkuchen als Heilmittel (4 Kön 20:7, Jes 38:21), als Ortsname „Quelle“ oder „Brunnen der Feigen“ (2 Esra 12:13) und als Sprichwort (Spr 27:18 - „Wer seinen Feigenbaum pflegt, der isst Früchte davon ...“).

Im strengen Sinn kann man wohl auch sagen, dass die Feigen (nicht der Feigenbaum!) in den verbleibenden 2 Schriftstellen eher gleichnishaft für die Wohlgeratenheit von Menschen stehen und nicht für das Volk Israel an sich – in Jeremia 24:1-2 die „guten Feigen“ für gottgefälliges Verhalten und in Hosea 9:10 die „Frühfeigen“ für Glaubenseifer.

Wie auch immer. Die Behauptung, dass die hebräische Bibel den Feigenbaum als festgeprägte Metapher für das Volk Israel verwende, ist einfach falsch. Dies schließt nicht von vornherein aus, dass Markus den Feigenbaum mit diese Bedeutung verwendet hat. Der hebräischen Bibel konnte er eine solche Metapher jedoch nicht entnehmen.


4) Ein Blick darauf, wie Markus Pflanzen im Allgemeinen und Obstgewächse im Besonderen verwendet. Dabei nehme ich nur in Bezug, was Markus ausdrücklich mit Worten sagt und nicht, was sich erst durch gedankliches Hinzusetzen ergibt.


4.1) Deutlich scheint zunächst, dass im Galiläa-Abschnitt des Markusevangeliums fast ausnahmslos kleine Pflanzen und Sträucher - und zwar insbesondere Getreide - als Metapher oder Objekt in einer Perikope verwendet werden. Demgegenüber begegnen im Jerusalem-Abschnitt fast ausnahmslos die klassischen Obstbäume Israels (bzw. Obstgewächse). So steht etwa dem großen Gleichnis vom Sämann im Galiläa-Teil (Mk 4:1ff) das große Gleichnis von den untreuen Weinbauern im Jerusalem-Teil (Mk 12:1ff) gegenüber.

Der Galiläa-Abschnitt enthält zudem das Ährenraufen am Sabbat (Mk 2:23ff) und das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4:26ff). Die Getreide-Metapher scheint zudem in die Themen vom Sauerteig (Mk 8:15) und in die Brotwunder (Speisung der 5000 und 4000 – Mk 6:30ff und 8:1ff) zu „münden“. Schließlich werden Gartenpflanzen, im Besonderen die Senfstaude (Mk 4:31-32), und das grüne Gras bei der Speisung der 5000 erwähnt (Mk 6:39). Obstbäume/Obstgewächse werden im Galiläa-Teil hingegen grundsätzlich nicht erwähnt.

Der Jerusalem-Abschnitt zeigt genau das umgekehrte Bild. Als Metaphern, Objekte der Handlung oder in Ortsbezeichnungen begegnen wiederkehrend Weinstock oder Weinberg (Mk 12:1-9; 14:25), Feigenbaum (11:1, 11:13, 11:12-21; 13:28) und Ölbaum (ausnahmslos in Ortsbezeichnungen 11:1, 13:3, 14:26, 14:32) bzw. ihre Produkte. Als Produkt der Obstgewächse ist vor allem der Wein bedeutsam, dem Jesus jedoch beim letzten Abendmahl abschwört (Mk 14:65 „Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes.“) und dessen Trinken er bei der Kreuzigung zweifach verweigert (Mk 15:23 „Und sie gaben ihm Myrrhe (Anm.: ein Baumharz) in Wein zu trinken; aber er nahm's nicht.“; Mk 15:36-37 „Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken ... Aber Jesus schrie laut und verschied.“ - das in Mk 15:36 verwendete Wort für Essig (ὄξος - oxos) bezeichnet einen billigen, sauren Wein oder Weinessig.) Andere kleinere Pflanzen oder gar Getreide werden im Jerusalem-Abschnitt nicht erwähnt.

Mein Eindruck ist, dass Markus hier eine Gegenüberstellung vorgenommen hat (Galiläa: Getreide, kleine Pflanzen und Sträucher ./. Jerusalem: Obstbäume). Dieses Bild wird dennoch an einigen Stellen durchbrochen, in denen zwar nicht die Pflanzen, aber aus diesen gewonnene Produkte genannt werden.

Der Galiläa-Abschnitt beinhaltet das Gleichnis vom „Neuen Wein in neuen Schläuchen“ (Mk 2:22). Zudem nehmen die Jünger bei ihrer Aussendung in Galiläa (Mk 6:13) Krankenbehandlungen mit (Oliven-)Öl (ἐλαίῳ – elaiō) vor.

Im Jerusalem-Abschnitt begegnet das beim letzten Abendmahl gebrochene Brot (Mk 14:22). Gewisse Feinheiten sind zudem nur im griechischen Original ersichtlich. So verwendet etwa die namenlose Salberin von Bethanien (Jerusalem) in Mk 14:3-5 kein Öl, sondern ein μύρον (muron), was als Wort streng genommen lediglich eine „Flüssigkeit“ bedeutet, hier also einen Pflanzensaft oder ein Parfüm vom Nardenstrauch. Der junge Mann, der bei Jesus' Gefangennahme nackt flieht, trägt einen Sindon-Stoff (Mk 14:51-52). Auch das Grabtuch von Jesus ist aus dem gleichen Sindon-Stoff (Mk 15:46), der aus Flachs oder Leinen hergestellt wird. Entgegen den Übersetzungen benutzt Markus in 14:1 und 14:12 indes nicht das Wort „Brot“ (Tage der Ungesäuerten Brote), sondern spricht nur von den „Ungesäuerten“.

Gewissermaßen zwischen Galiläa und Jerusalem werden in Mk 8:24 zudem Bäume (δένδρα – dendra [im engeren Sinn: Obstbäume, im Gegensatz zu den wegen ihres Holzes genutzten Bäumen - ξύλα]) bei der ersten Blindenheilung in Bethsaida erwähnt: „Ich erblicke die Menschen, dass wie Bäume ...“. Da Bethsaida nach Mk 6:45 auf der „gegenüberliegenden Seite“ liegt, zählt es für Markus offenbar nicht mehr zu Galiläa (realgeografisch lag Bethsaida – sofern es von den Archäologen zutreffend identifiziert wurde - auch tatsächlich auf der östlichen Jordanseite in der Gaulanitis).


4.2) Mit gebotener Vorsicht kann man sicher sagen, dass die „Tempel-Theorie“ und „Volk-Israel-Theorie“ in einer Hinsicht richtig liegen. Sofern der Feigenbaum im Markusevangelium gleichnishaft zu verstehen sein sollte, symbolisiert er sicherlich keine Einzelperson. Für die Annahme etwa, dass der Feigenbaum beispielsweise den Hohenpriester symbolisiere, besteht keinerlei Anhalt. Gleiches scheint auch für den Weinberg/-stock und den Ölbaum zu gelten.

Vielmehr spricht alles dafür, dass der Feigenbaum (ebenso die anderen Obstgewächse) in einer gedanklichen Beziehung zu Israel oder Jerusalem steht und möglicherweise eine Institution (wie den Tempelbetrieb), eine Personengemeinschaft (wie das Volk Israel oder die Stadt Jerusalem), ein Zeichen der Zeit (als Gradmesser für Frieden, Wohlgedeihen und Zufriedenheit) oder ein anderes immaterielles Gut (etwa das mosaische Gesetz oder die Reinheitsgebote etc.) bezeichnet.

Bäume scheinen im Markusevangelium daher keine einzelnen Menschen zu symbolisieren. Falls Sie überhaupt „Menschen“ gleichnishaft abbilden, dann augenscheinlich Personenmehrheiten, Gruppen von Menschen.


4.3) Markus' Nachfolger Matthäus und Lukas haben sich an diese Vorgaben nicht gehalten, sondern die Verwendung der Baum-Metapher in zwei Punkten wesentlich umgestaltet.

Einerseits verwenden beide die Baum-Metapher auch im Galiläa-Abschnitt. Andererseits symbolisieren Bäume bei Matthäus und Lukas auch Einzelmenschen. Beides wird bereits bei der Verkündung von Johannes dem Täufer deutlich, wenn Matthäus und Lukas ihm die Worte in den Mund legen, dass die Axt den Bäumen bereits an die Wurzel gelegt ist – Mt 3:10 „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ (vgl. Lk 3:9)

Explizit wird das Gleichnis „Baum = einzelner Mensch“ im Gleichnis vom Baum und seinen Früchten (ebenfalls aus dem Galiläa-Abschnitt) – Mt 12:33 „Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein; oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein. Denn an der Frucht erkennt man den Baum. Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz ...“ (vgl. Lk 6:43)

Man kann schließlich feststellen, dass vor allem Matthäus aber auch Lukas selbst in Erzählungen, die sie von Markus übernehmen, die Baum-Metapher „einarbeiten“. Während etwa Markus den Senfstrauch im Gleichnis vom Senfkorn mit den Gartenpflanzen (λαχάνων – lachanōn: die Luther-Bibel übersetzt mit „Kräuter“) vergleicht, bezeichnen Matthäus und Lukas ihn ausdrücklich als Baum:

Mk 4:32 „... und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige ...

Mt 13:32 „... wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum ...
Lk 13:19 „... und in seinen Garten säte; und es wuchs und wurde ein Baum

Ebenso bei der Ankunft in Jerusalem: Während die Pilger bei Markus die von den Feldern abgeschlagenen „stibades“ in den Weg ausbreiten (Mk 11:8), sind es bei Matthäus Zweige von den Bäumen (Mt 21:8).

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