1) Einige Bibelwissenschaftler bekennen
freimütig, dass die Geschichte über die „Verfluchung des
Feigenbaums“ (Mk 11:12ff) sie ratlos macht. Der Sinn dieser
Erzählung im Markusevangelium sei nicht mehr greifbar. Je mehr ich
mich mit dem Feigenbaum beschäftige, desto sympathischer finde ich
diese Einschätzung.
James Tissot via wikimedia |
Seit langem stehen sich in der
Wissenschaft zwei herrschende Meinungen zu dieser Frage gegenüber.
Beide verstehen den Feigenbaum gleichnishaft. Nach der einen
Auffassung symbolisiere der Feigenbaum den nur noch Finanzinteressen
dienenden „Jerusalemer Tempelbetrieb“, nach der anderen das
„ungläubige“ Volk von „Israel“. Neben diesen beiden
herrschenden Auffassungen finden sich auch einige abweichende
Positionen. Sowohl der Wikipedia-Artikel als auch ein etwas älterer
Beitrag von Thomas Breuer bieten hierzu informative Übersichten.
Die beiden herrschenden Meinungen
machen jeweils mehrere Argumente für sich geltend. Sowohl die
„Tempel-Theorie“ als auch die „Volk-Israel-Theorie“ gründet
sich letztlich auf einem Hauptargument, das durch weitere
Gesichtspunkte nur noch abgerundet wird. Bei der „Tempel-Theorie“
ist dieses Argument die textliche Verklammerung von Tempelaktion und
Feigenbaumverfluchung in der sogenannten Sandwich-Technik, bei der
„Volk-Israel-Theorie“ die Vorprägung der Feigen-Metapher durch
die hebräische Bibel. Mir geht es in diesem Beitrag nicht um die
Richtigkeit der Theorien an sich, sondern lediglich um die
Schlüssigkeit der beiden Hauptargumente. Meines Erachtens sind beide
Argumente nicht stichhaltig.
Ich habe versucht, den Feigenbaum
zunächst einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es geht
dabei um die Art, wie Markus Pflanzen im Allgemeinen und Obstgewächse
(einschließlich des Weinstocks und des Ölbaums) im Besonderen als
Metaphern verwendet. Mein Eindruck war, dass die Verwendungsweise bei
Markus sich in zwei wesentlichen Punkten von derjenigen von Matthäus
und Lukas unterscheidet. Außerdem scheint es im Markusevangelium
einen regelrechten „Obstbaum“-Abschnitt zu geben, der auch durch
die verwendeten Ortsnamen markiert wird. Er beginnt in Markus 11:1
(vor der Ankunft in Jerusalem) mit der Erwähnung von Betfage („Haus
der Frühfeigen“), nimmt seinen Weg u.a. über das
Weinbauerngleichnis in Mk 12:1ff und endet in Mk 14:32ff im Garten
Gethsemane (der „Ölpresse“) mit der Gefangennahme von Jesus und
der Flucht der Jünger.
2) Zunächst zu den zwei Theorien. Im
Markusevangelium wird die Perikope von der Tempelreinigung durch die
zwei Abschnitte der Feigenbaumverfluchung wie in einem Sandwich
eingerahmt.
A – Jesus verflucht den Feigenbaum – Mk 11:12ff
B – Jesus vertreibt die
Händler aus dem Tempel – Mk 11:15ff
A' – Verdorrung des Feigenbaums –
Mk 11:20ff
Gemäß der „Tempel-Theorie“ spiegele die eingerahmte Erzählung (Tempelaktion) die rahmende Erzählung (Feigenbaumverfluchung) symbolisch wider. Beide ineinander geschachtelten Geschichten stünden nach diesem Haupt-Argument in einem sogenannten „sandwich-agreement“.
Gemäß der „Tempel-Theorie“ spiegele die eingerahmte Erzählung (Tempelaktion) die rahmende Erzählung (Feigenbaumverfluchung) symbolisch wider. Beide ineinander geschachtelten Geschichten stünden nach diesem Haupt-Argument in einem sogenannten „sandwich-agreement“.
Eines der ergänzenden Argumente
dieser Auffassung formuliert der Wikipedia-Artikel sehr eingängig:
„Wie der Feigenbaum hat auch der Tempel(kult) zwar viele 'Blätter'
(Pilgerbetrieb und Geldgeschäfte), aber an Früchten ist nichts zu
finden. Deshalb wird der Tempel zerstört werden und analog der
Feigenbaum. Übertragen würde damit ein gut aussehender, aber
vorgetäuschter und falscher Schein (an Reife) verurteilt ...“
Die Ineinander-Schachtelung von zwei
Erzählungen ist eine von Markus mehrfach verwendete literarische
Technik. Man kann im Markusevangelium ungefähr 10 solcher Sandwiches
finden. Meiner Meinung nach wäre das Hauptargument der
„Tempel-Theorie“ dann schlüssig, wenn zumindest in der
überwiegenden Zahl aller anderen markinischen Sandwiches sich die
beiden verknüpften Erzählungen oder ihre Protagonisten ebenfalls
symbolisch spiegeln würden (Schluss vom Allgemeinen auf das
Besondere).
Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar
stehen die in einem markinischen Sandwich verklammerten Erzählungen
in einer thematischen Beziehung zueinander und gewiss sollen beide
Erzählungen im Licht der jeweils anderen gelesen werden. Das
Verhältnis der Erzählungen ist jedoch nicht das einer symbolischen
Spiegelung, sondern in erster Linie einer thematischen Weiterführung,
zuweilen auch einer kontrastreichen Gegenüberstellung. Eingangs
einige Beispiele „berühmter“ markinischer Sandwiches:
Markus 3:20ff
A – Jesus und seine Familie
B – Jesus und der Beelzebul-Vorwurf
A' – Jesus und seine wahre Familie
Markus 4:1-20
A – Gleichnis vom Sämann
B – Zweck der Gleichnisse
A' – Auslegung des Gleichnisses vom
Sämann
Markus 5:21ff
A – der Synagogenvorsteher Jairus
bittet Jesus, seine sterbende Tochter zu retten
B – die blutflüssige Frau rettet
sich durch die Berührung von Jesus' Gewand
A' – Jesus erweckt die Jairustochter
wieder zum Leben
Markus 6:7-30
A – Aussendung der Zwölf
B – Enthauptung des Täufers
A' - Rückkehr der Zwölf
Markus 14:1-10
A – Tötungsplan der Hohenpriester
und Schriftgelehrten
B – Salbung in Bethanien
A' – Judas plant mit den
Hohenpriestern den „Verrat“
Markus 14:53ff
A – Petrus folgt dem verhafteten
Jesus zum Palast des Hohenpriesters
B – Jesus vor dem Hohen Rat
A' – Petrus verleugnet Jesus vor dem
Palast des Hohenpriesters
Markus 15:40 – 16:8
A – Frauen um Maria von Magdala bei
der Kreuzigung
B – Grablegung durch Joseph von
Arimathäa
A' - Frauen um Maria von Magdala am
leeren Grab
Bei einigen Sandwiches kann man die
thematische Verbindung sehr deutlich erkennen.
- Die Heilung der blutflüssigen Frau
beruht auf ihrem Glauben an Jesus (Mk 5:34: Meine Tochter, dein
Glaube hat dich gerettet …). Gleichermaßen fordert Jesus den
Synagogenvorsteher Jairus auf: Fürchte dich nicht, glaube nur! (Mk
5:36). Das Thema ist hier „Glaube bewirkt Rettung“ und
wird in der Jairuserzählung weiterentwickelt und zu neuer Höhe
geführt (Totenerweckung).
- Jesus hält vor dem ganzen Hohen Rat
trotz Todesurteil und Gewaltanwendung mutig stand (Mk 14:55ff),
Petrus knickt hingegen vor einem jungen Mädchen (Magd des
Hohenpriesters) ein und verleugnet Jesus (Mk 14:66). Hier ist das
Thema „Standhaftigkeit bei Verfolgung“ und beide Erzählungen
werden zum Kontrast gegenüber gestellt.
Aber auch bei jenen Sandwiches, deren
thematische Verbindung nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen ist,
ist jedenfalls eine „symbolische Widerspiegelung“ nicht
feststellbar. Es gibt daher keine allgemeingültige Regel, mit
welcher Funktion die jeweiligen Geschichten im Sandwich miteinander
verbunden sind. Die literarische Form des markinischen Sandwichs sagt
daher „an sich“ nichts über die Beziehung aus, in der beide
Erzählungen stehen. Da es keine Regel gibt, kann auch nicht vom
Allgemeinen auf das Besondere geschlossen werden.
Dies schließt natürlich nicht aus,
dass ein solches Verhältnis ausnahmsweise bei den Erzählungen von
der Tempelaktion und der Feigenbaumverfluchung gegeben ist. Die
literarische Form des Sandwichs „an sich“ stellt dafür aber kein
schlüssiges Argument dar.
3) Das Hauptargument der
„Volk-Israel-Theorie“ ist dagegen, dass der Feigenbaum ein in der
hebräischen Bibel vorgeprägtes Bild für das Volk Israel sei.
Verwiesen wird dabei auf verschiedene Schriftstellen, z.B. Hosea 9:10ff - „Ich fand Israel wie Trauben in der Wüste und sah eure Väter wie die ersten Feigen am Feigenbaum; aber hernach … wurden sie zum Gräuel … Ephraim ist geschlagen, seine Wurzel ist verdorrt, sodass sie keine Frucht mehr bringen können ...“. Als ergänzendes Argument wird häufig hinzugesetzt, dass diese Interpretation sehr alt ist und bereits im antiken Christentum verbreitet war. So heißt es etwa in einem christlichen Text aus dem 2. Jahrhundert, der apokryphen Petrusoffenbarung: „Verstehst du nicht, dass der Feigenbaum das Haus Israel ist? Wie ein Mann in seinem Garten einen Feigenbaum gepflanzt hatte, und der brachte nicht Frucht ...“
Verwiesen wird dabei auf verschiedene Schriftstellen, z.B. Hosea 9:10ff - „Ich fand Israel wie Trauben in der Wüste und sah eure Väter wie die ersten Feigen am Feigenbaum; aber hernach … wurden sie zum Gräuel … Ephraim ist geschlagen, seine Wurzel ist verdorrt, sodass sie keine Frucht mehr bringen können ...“. Als ergänzendes Argument wird häufig hinzugesetzt, dass diese Interpretation sehr alt ist und bereits im antiken Christentum verbreitet war. So heißt es etwa in einem christlichen Text aus dem 2. Jahrhundert, der apokryphen Petrusoffenbarung: „Verstehst du nicht, dass der Feigenbaum das Haus Israel ist? Wie ein Mann in seinem Garten einen Feigenbaum gepflanzt hatte, und der brachte nicht Frucht ...“
Entgegen der „Volk-Israel-Theorie“
ist der Feigenbaum jedoch kein durch die hebräische Bibel
vorgeprägtes Bild für das „Volk Israel“. In der weit
überwiegenden Anzahl aller Schriftstellen ist er ein Symbol für
Frieden, materielle Sicherheit und die Fruchtbarkeit eines Landes.
Insgesamt taucht das Wort für Feigenbaum (συκῆ - suké) oder
die Feige als Frucht (σῦκον - sukon) in der Septuaginta 32 Mal
in 28 Schriftstellen auf.
Vor gut zwei Jahren hat Albert Altenähr
den schönen Beitrag „'… unter Weinstock und Feigenbaum' - Ein
biblisches Friedensbild“ geschrieben. In diesem kleinen Artikel
verweist Altenähr auch auf eine häufig wiederholte Phrase in der
hebräischen Bibel „ein jeder saß unter seinem Weinstock und
seinem Feigenbaum“ als Metapher eines friedlichen und materiell
gesicherten Lebens. Sie begegnet wörtlich oder mit nahestehenden
Worten in 6 Schriftstellen (nach der Septuaginta-Zählung: 3 Kön
2:46g, 4 Kön 18:31, 1 Makk 14:12, Micha 4:4, Sach 3:10, Jes 36:16).
Weitere Schriftstellen runden dieses Bild ab, etwa Deut 8:7-9: „Denn
der HERR, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ... ein Land,
darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel
wachsen, ... ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts
mangelt ...“ (ähnlich Num 13:23, Joel 2:22, Hag 2:19).
„Umgekehrt“, so Altenähr treffend,
„ist die Zerstörung von Weinstock und Feigenbaum ein Bild der
Kriegsnot“ oder eines Gottesgerichts, etwa Joel 1:6-12 „Denn es
zieht herauf in mein Land ein Volk, mächtig und ohne Zahl; das hat
Zähne wie die Löwen ... Es verwüstet meinen Weinstock und frisst
meinen Feigenbaum kahl, schält ihn ganz und gar ab, dass seine
Zweige weiß dastehen. … Das Feld ist verwüstet und der Acker
ausgedörrt ... Die Ackerleute sehen traurig drein, und die
Weingärtner heulen ... weil der Weinstock verdorrt ist und der
Feigenbaum verwelkt, … ja, alle Bäume auf dem Felde sind
verdorrt.“ (mit ähnlichem Sinn: LXX-Psalm 104:33, Ode 4:17, Hos
2:14, Nah 3:12, Hab 3:17, Jes 34:4, Jer 8:13). Vergleichbar auch,
wenn das Volk beim Durchzug durch die Wüste mit Mose hadert (Num
20:5): „Und warum habt ihr uns aus Ägypten geführt an diesen
bösen Ort, wo man nicht säen kann, wo weder Feigen noch Weinstöcke
noch Granatäpfel sind und auch kein Wasser zum Trinken ist?“
In 19 der insgesamt 28 Schriftstellen
der Septuaginta ist der Feigenbaum (meist gemeinsam mit dem
Weinstock) also gleichsam der Gradmesser eines friedlichen und
zufriedenstellenden Lebens. Hierzu kann letztlich auch Hohelied
2:10-13 (Zeichen des anbrechenden Liebesglücks) gezählt werden:
„Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und
dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist
herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm
Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit
ihren Blüten. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne,
komm her!“
6 Schriftstellen beziehen sich auf
einen singulären Sinn: die Feigenblätter von Adam und Eva (Gen
3:7), Jotams Parabel 'Bäume suchen einen König' (Richter 9:10-11),
Feigenkuchen als Heilmittel (4 Kön 20:7, Jes 38:21), als Ortsname
„Quelle“ oder „Brunnen der Feigen“ (2 Esra 12:13) und als
Sprichwort (Spr 27:18 - „Wer seinen Feigenbaum pflegt, der isst
Früchte davon ...“).
Im strengen Sinn kann man wohl auch
sagen, dass die Feigen (nicht der Feigenbaum!) in den verbleibenden 2
Schriftstellen eher gleichnishaft für die Wohlgeratenheit von
Menschen stehen und nicht für das Volk Israel an sich – in Jeremia
24:1-2 die „guten Feigen“ für gottgefälliges Verhalten und in
Hosea 9:10 die „Frühfeigen“ für Glaubenseifer.
Wie auch immer. Die Behauptung, dass
die hebräische Bibel den Feigenbaum als festgeprägte Metapher für
das Volk Israel verwende, ist einfach falsch. Dies schließt nicht
von vornherein aus, dass Markus den Feigenbaum mit diese Bedeutung
verwendet hat. Der hebräischen Bibel konnte er eine solche Metapher
jedoch nicht entnehmen.
4) Ein Blick darauf, wie Markus
Pflanzen im Allgemeinen und Obstgewächse im Besonderen verwendet.
Dabei nehme ich nur in Bezug, was Markus ausdrücklich mit Worten
sagt und nicht, was sich erst durch gedankliches Hinzusetzen ergibt.
4.1) Deutlich scheint zunächst, dass
im Galiläa-Abschnitt des Markusevangeliums fast ausnahmslos kleine
Pflanzen und Sträucher - und zwar insbesondere Getreide - als
Metapher oder Objekt in einer Perikope verwendet werden. Demgegenüber
begegnen im Jerusalem-Abschnitt fast ausnahmslos die klassischen
Obstbäume Israels (bzw. Obstgewächse). So steht etwa dem großen
Gleichnis vom Sämann im Galiläa-Teil (Mk 4:1ff) das große
Gleichnis von den untreuen Weinbauern im Jerusalem-Teil (Mk 12:1ff)
gegenüber.
Der Galiläa-Abschnitt enthält zudem
das Ährenraufen am Sabbat (Mk 2:23ff) und das Gleichnis von der
selbstwachsenden Saat (Mk 4:26ff). Die Getreide-Metapher scheint
zudem in die Themen vom Sauerteig (Mk 8:15) und in die Brotwunder
(Speisung der 5000 und 4000 – Mk 6:30ff und 8:1ff) zu „münden“.
Schließlich werden Gartenpflanzen, im Besonderen die Senfstaude (Mk
4:31-32), und das grüne Gras bei der Speisung der 5000 erwähnt (Mk
6:39). Obstbäume/Obstgewächse werden im Galiläa-Teil hingegen
grundsätzlich nicht erwähnt.
Der Jerusalem-Abschnitt zeigt genau das
umgekehrte Bild. Als Metaphern, Objekte der Handlung oder in
Ortsbezeichnungen begegnen wiederkehrend Weinstock oder Weinberg (Mk
12:1-9; 14:25), Feigenbaum (11:1, 11:13, 11:12-21; 13:28) und Ölbaum
(ausnahmslos in Ortsbezeichnungen 11:1, 13:3, 14:26, 14:32) bzw. ihre
Produkte. Als Produkt der Obstgewächse ist vor allem der Wein
bedeutsam, dem Jesus jedoch beim letzten Abendmahl abschwört (Mk
14:65 „Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom
Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon
trinke im Reich Gottes.“) und dessen Trinken er bei der Kreuzigung
zweifach verweigert (Mk 15:23 „Und sie gaben ihm Myrrhe (Anm.: ein
Baumharz) in Wein zu trinken; aber er nahm's nicht.“; Mk 15:36-37
„Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf
ein Rohr, gab ihm zu trinken ... Aber Jesus schrie laut und
verschied.“ - das in Mk 15:36 verwendete Wort für Essig (ὄξος
- oxos) bezeichnet einen billigen, sauren Wein oder Weinessig.)
Andere kleinere Pflanzen oder gar Getreide werden im
Jerusalem-Abschnitt nicht erwähnt.
Mein Eindruck ist, dass Markus hier
eine Gegenüberstellung vorgenommen hat (Galiläa: Getreide, kleine
Pflanzen und Sträucher ./. Jerusalem: Obstbäume). Dieses Bild wird
dennoch an einigen Stellen durchbrochen, in denen zwar nicht die
Pflanzen, aber aus diesen gewonnene Produkte genannt werden.
Der Galiläa-Abschnitt beinhaltet das
Gleichnis vom „Neuen Wein in neuen Schläuchen“ (Mk 2:22). Zudem
nehmen die Jünger bei ihrer Aussendung in Galiläa (Mk 6:13)
Krankenbehandlungen mit (Oliven-)Öl (ἐλαίῳ – elaiō) vor.
Im Jerusalem-Abschnitt begegnet das
beim letzten Abendmahl gebrochene Brot (Mk 14:22). Gewisse Feinheiten
sind zudem nur im griechischen Original ersichtlich. So verwendet
etwa die namenlose Salberin von Bethanien (Jerusalem) in Mk 14:3-5
kein Öl, sondern ein μύρον (muron), was als Wort streng
genommen lediglich eine „Flüssigkeit“ bedeutet, hier also einen
Pflanzensaft oder ein Parfüm vom Nardenstrauch. Der junge Mann, der
bei Jesus' Gefangennahme nackt flieht, trägt einen Sindon-Stoff (Mk
14:51-52). Auch das Grabtuch von Jesus ist aus dem gleichen
Sindon-Stoff (Mk 15:46), der aus Flachs oder Leinen hergestellt wird.
Entgegen den Übersetzungen benutzt Markus in 14:1 und 14:12 indes
nicht das Wort „Brot“ (Tage der Ungesäuerten Brote), sondern
spricht nur von den „Ungesäuerten“.
Gewissermaßen zwischen Galiläa und
Jerusalem werden in Mk 8:24 zudem Bäume (δένδρα – dendra [im
engeren Sinn: Obstbäume, im Gegensatz zu den wegen ihres Holzes
genutzten Bäumen - ξύλα]) bei der ersten Blindenheilung in
Bethsaida erwähnt: „Ich erblicke die Menschen, dass wie Bäume
...“. Da Bethsaida nach Mk 6:45 auf der „gegenüberliegenden
Seite“ liegt, zählt es für Markus offenbar nicht mehr zu Galiläa
(realgeografisch lag Bethsaida – sofern es von den Archäologen
zutreffend identifiziert wurde - auch tatsächlich auf der östlichen
Jordanseite in der Gaulanitis).
4.2) Mit gebotener Vorsicht kann man
sicher sagen, dass die „Tempel-Theorie“ und „Volk-Israel-Theorie“
in einer Hinsicht richtig liegen. Sofern der Feigenbaum im
Markusevangelium gleichnishaft zu verstehen sein sollte, symbolisiert
er sicherlich keine Einzelperson. Für die Annahme etwa, dass der
Feigenbaum beispielsweise den Hohenpriester symbolisiere, besteht
keinerlei Anhalt. Gleiches scheint auch für den Weinberg/-stock und
den Ölbaum zu gelten.
Vielmehr spricht alles dafür, dass der
Feigenbaum (ebenso die anderen Obstgewächse) in einer gedanklichen
Beziehung zu Israel oder Jerusalem steht und möglicherweise eine
Institution (wie den Tempelbetrieb), eine Personengemeinschaft (wie
das Volk Israel oder die Stadt Jerusalem), ein Zeichen der Zeit (als
Gradmesser für Frieden, Wohlgedeihen und Zufriedenheit) oder ein
anderes immaterielles Gut (etwa das mosaische Gesetz oder die
Reinheitsgebote etc.) bezeichnet.
Bäume scheinen im Markusevangelium
daher keine einzelnen Menschen zu symbolisieren. Falls Sie überhaupt
„Menschen“ gleichnishaft abbilden, dann augenscheinlich
Personenmehrheiten, Gruppen von Menschen.
4.3) Markus' Nachfolger Matthäus und
Lukas haben sich an diese Vorgaben nicht gehalten, sondern die
Verwendung der Baum-Metapher in zwei Punkten wesentlich umgestaltet.
Einerseits verwenden beide die
Baum-Metapher auch im Galiläa-Abschnitt. Andererseits symbolisieren
Bäume bei Matthäus und Lukas auch Einzelmenschen. Beides wird
bereits bei der Verkündung von Johannes dem Täufer deutlich, wenn
Matthäus und Lukas ihm die Worte in den Mund legen, dass die Axt den
Bäumen bereits an die Wurzel gelegt ist – Mt 3:10 „Es ist schon
die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der
nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“
(vgl. Lk 3:9)
Explizit wird das Gleichnis „Baum =
einzelner Mensch“ im Gleichnis vom Baum und seinen Früchten
(ebenfalls aus dem Galiläa-Abschnitt) – Mt 12:33 „Nehmt an, ein
Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein; oder nehmt an, ein
Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein. Denn an der
Frucht erkennt man den Baum. Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes
reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der Mund
über. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz
seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem
bösen Schatz ...“ (vgl. Lk 6:43)
Man kann schließlich feststellen, dass
vor allem Matthäus aber auch Lukas selbst in Erzählungen, die sie
von Markus übernehmen, die Baum-Metapher „einarbeiten“. Während
etwa Markus den Senfstrauch im Gleichnis vom Senfkorn mit den
Gartenpflanzen (λαχάνων – lachanōn: die Luther-Bibel
übersetzt mit „Kräuter“) vergleicht, bezeichnen Matthäus und
Lukas ihn ausdrücklich als Baum:
Mk 4:32 „... und wenn es gesät ist,
so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große
Zweige ...“
Mt 13:32 „... wenn es aber gewachsen
ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum ...“
Lk 13:19 „... und in seinen Garten
säte; und es wuchs und wurde ein Baum …“
Ebenso bei der Ankunft in Jerusalem:
Während die Pilger bei Markus die von den Feldern abgeschlagenen
„stibades“ in den Weg ausbreiten (Mk 11:8), sind es bei Matthäus
Zweige von den Bäumen (Mt 21:8).
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