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1) Unter den seriösen
deutschsprachigen Büchern, die in den letzten Jahren zum
Markusevangelium erschienen sind, ist vielleicht keines so
eigenständig, wie Lorenz Wilkens' „Deine Treue hat dich geheilt“:
Studien über die Heilungsmacht Jesu und die apokalyptische Erwartung
im Markusevangelium, Verlag Peter Lang, 2011, ca. 200 Seiten. Diese
Eigenständigkeit beruht vor allem auf dem thematischen und
methodischen Schwerpunkt von Lorenz Wilkens. Sein Interesse am
Markusevangelium unterscheidet sich sowohl von dem der
„historisch-kritischen Methode“ als auch dem der „narrativen Exegese“. Er gehört auch nicht zu jenen Theologen, deren Ziel es
ist, im Markusevangeliums die alten Glaubensdogmen wiederzufinden.
Laut dem Klappentext des Verlags zielen
Wilkens' Überlegungen auf eine „Erneuerung von Theologie“.
Meinem Eindruck nach unternimmt das Buch noch weit mehr. Ich würde
sagen (Lorenz Wilkens mag mir vergeben, falls ich mich täusche!),
dass seine Intention eher ein erneuertes Selbstverständnis als
Christ und ein erneuertes Christ-Sein an sich ist. Seinem Buch hat er
einen Gedanken von Gershom Scholem vorangestellt: „Der Gerechte …
lebt in der wahren Distanz; der Gerechte lebt in seiner Treue
(Habakuk II,4); Treue aber ist ein Distanzverhältnis.“
Das Markusevangelium beschreibt – so
Lorenz Wilkens - vor allem zwei Typen, die ein solches
Treue-Verhältnis zu Jesus verfehlen: Menschen mit unreinem Geist (oder Dämon)
und die breite Volksmenge.
links: Lorenz Wilkens |
Die unreinen Geister im
Markusevangelium huldigen Jesus in der Regel als „Sohn Gottes“
oder mit ähnlichem Hoheitstitel und beugen sich seiner Autorität,
zuweilen gar niederkniend oder sich vor ihm hinwerfend. Sie begegnen
ihm jedoch furchtsam und widerstreben einer Beziehung mit ihm. In Mk
1:21 ff „wird von einem Menschen gesprochen, der sich in einem
'unreinen Geist' befindet; der schreit: 'Was ist (zwischen) mir und
dir, Jesus von Nazareth? Bist Du gekommen, uns zu vernichten? Ich
kenne dich, wer Du bist, der Heilige Gottes.'“ … Er zitiert die
Witwe von Zarpath, bei der Elia Aufenthalt genommen hat – 1 Kön 17
… 'Was ist (zwischen) mir und dir? Du bist zu mir gekommen, dass
meiner Sünde gedacht und mein Sohn getötet würde.'“ Der Mann mit
dem unreinen Geist „... sieht Jesus und identifiziert ihn
unvermittelt mit Elia, mithin sich mit der Witwe von Zarpath, deren
Sohn auf den Tod erkrankt war.“ Die Dämonisierten ängstigen sich
vor Jesus in der Sorge, dass er zur Bestrafung ihrer Sünden und
Verfehlungen gekommen ist. Ihnen mangelt es an Vertrauen, sie ziehen
sich furchtsam in sich zurück. Der besessene Gerasener schreit in Mk
5:7 - „Was ist (zwischen) mir und dir, Jesus, du Sohn Gottes, des
Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!“
Die breite Volksmenge steht im
Markusevangelium für das genaue Gegenteil: „So reflexhaft, wie die
psychisch Kranken sich von ihm abstoßen, zieht es die Menge zu ihm
hin. Die Menschen sind nicht bei sich; es handelt sich um
Massenhysterie.“ - etwa in Mk 3:10 („Denn er heilte viele, sodass
alle, die geplagt waren, über ihn herfielen, um ihn anzurühren.“)
„Sie werden ihm nicht zum Gegenüber. Sie verlieren die Distanz
voneinander …; daher verlieren sie die Achtung vor dem Schonraum
... Sie ziehen ihm die Kraft aus dem Leib ohne Rücksicht … Sie
machen ihn zu ihrem Idol; er will es nicht ...“
Die Theologie von Markus mündet nach
Wilkens in eine „Ontologie“, einer Seinsweise, einer gewissen Art
zu leben, zu handeln und zu denken. In dieser Seinsweise ist der
Mensch vor allem Partner in einer Treue-Beziehung zu Gott und zu
seinem Nächsten. Weit entfernt von einem Bruch mit der hebräischen
Bibel bringt Markus erneut zur Geltung, was spätestens seit Abraham
gegolten hat: der Bund oder das Bündnis zwischen Gott und Mensch in
einer Beziehung der Treue.
2) Im vergangenen Jahr wurde der
berühmte Kleist-Literaturpreis an die Berliner Schriftstellerin
Monika Rinck verliehen. Als ihren wichtigsten Lehrer benannte die
„theorie- und gedankenhungrige“ Dichterin „keinen toten
Philosophen und auch keinen Großdenker der Gegenwart, ihr
wichtigster Lehrer sei der Religionswissenschaftler Lorenz Wilkens
gewesen – weil 'er in seinen Seminaren noch den abwegigsten Einfall
habe gelten und aufnehmen oder auch einfach habe stehen lassen
können, ohne ihn zwanghaft mit anderen Gedanken zu
versöhnen.'“
Nach dem Studium von Theologie und
Philosophie in Tübingen sowie Religionswissenschaft in Berlin war
Lorenz Wilkens als Wissenschaftler, Dozent und Pfarrer tätig.
Inhaltlich und stilistisch sind seine Studien von diesem Lebensweg
geprägt: „Sie weisen auf eine Berufspraxis zurück, die zwischen
der Lehre und Forschung an der Universität und der kirchlichen
Arbeit in Erwachsenenbildung und Pfarramt regelmäßig zu wechseln
hatte.“ Seine Methode bestimmt Wilkens als „zwischen Exegese,
systematischer Theologie und Religionswissenschaft hin und her“
gehend. Zu Beginn der 1990er Jahre gründete er in Berlin mit
Gleichgesinnten die „Markusgesellschaft“ und seine Treue zum
ältesten Evangelium ist ungebrochen.
3) Wie gewinnt man theologische
Einsichten aus dem Markusevangelium?
„Im Markus-Evangelium fehlen große
Reden wie die matthäische Bergpredigt, die lukanische Feldrede oder
die Reden des Offenbarers im Johannes-Evangelium. Statt dessen setzt
der Autor alles daran, dass die Lehre Jesu mit der Situation, in der
sie entsteht, verbunden bleibt. Die Lehre Jesu begegnet oft
verschränkt mit Heilungsberichten ... Die Lehre soll von der
Krankheit, von dem Gespräch mit den Pharisäern … und von der
Realität des Ochlos (Anm.: die Volksmenge) nicht abstrahiert werden.
Wenn solche Abstraktion eine Bedingung des Lehramts ist, spricht das
Markus-Evangelium sich gegen es aus.“
Markus zwingt die Theologen, von ihren
ehrwürdigen Stühlen herabzusteigen und zu einfachen Lesern seiner
kleinen Geschichten zu werden. Der fast zweitausendjährige Weg der
Theologie, sich an Jesus' heiligen Predigten in den anderen
Evangelien, an ehrwürdigen Glaubensvorstellungen und hohen Dogmen zu
erbauen, wird mit markinischer List und Ironie hintertrieben.
Vielmehr gilt es, die markinischen Perikopen antidogmatisch zu lesen,
sie zu verstehen und zu überdenken, um in ihnen die zunächst fast
unscheinbaren Wahrheiten aufzustöbern. Selbst (oder vor allem?) die
christologischen Hoheitstitel wie „Christus“ oder „Sohn Gottes“
sind da nur störend und lenken vom Wesentlichen ab.
„Der Bedeutung … der Würdetitel
'Christus' und 'Sohn Gottes' begegnet das Markusevangelium mit
eigentümlicher Zurückhaltung. Es stellt sie in Brechungen dar. Es
bringt sie in die Schwebe. Man möchte fast sagen, es demontiere sie
– zu Gunsten der Vorstellung vom Menschensohn … Der Begriff des
Menschensohns ist dabei konnotativ mit der Überlieferung des
Gottesknechts verbunden. Doch in seinem Sterben bekennt sich Jesus,
indem er Psalm 22 betet, als nichts anderes mehr denn den leidenden
Menschen. … Jesus überließ sich am Ende ganz der Verheißung des
Psalms, dass Gott den ungehemmten Ausdruck des Leidens mit der
Rettung beantworten werde.“
4) Lorenz Wilkens' „Deine Treue hat
dich geheilt“ umfasst 6 längere Beiträge, die um die vorbenannten
Themen, um die Heilungs- und Menschensohn-Geschichten des
Markusevangeliums kreisen. Als Anhang hat Wilkens „drei
Meditationen“ beigefügt.
Meditatives Nachdenken über das
Markusevangelium begegnet dem Leser indes auf jeder einzelnen Seite
des Buchs. Wilkens ist stets auch Philosoph und denkt in
philosophischen Begrifflichkeiten. Seine Überlegungen enthalten
viele meditative und philosophierende Gedankenausflüge, -splitter
und -sprünge, die sich von geradliniger und klarer Exegese durchaus
auch entfernen. Teilweise ist sein Buch nicht ganz einfach zu lesen.
Aufgrund dessen erscheinen mir seine
Studien nicht unbedingt für eine breitere Leserschaft bestimmt, was
ich persönlich sehr bedauere. Dass Wilkens auch ein solches Publikum
anzusprechen weiß, belegt eine schöne Predigt von ihm zu Mk 14:3ff,
die hier nachzulesen ist.
5) Mein Interesse an seinem Buch
bestand vor allem darin, über meinen eigenen Tellerrand zu schauen
und der Frage nachzugehen, inwieweit christliches Denken fähig ist,
einen unverfälschten Markus wertzuschätzen und als Anregung zu
positiven geistlichen Überlegungen dienstbar zu machen.
In dieser Hinsicht hat mich Lorenz
Wilkens' „Deine Treue hat dich geheilt“ mehr als beeindruckt.
Mit der dumpfen
Kolonialherren-Mentalität der „historisch-kritischen Methode“
(die in ihrer Verblendung selbst hohe biblische Erzählkunst stets
für naive Fabeln banaler Volksfrömmigkeit hält) hat Wilkens nichts am
Hut. „Die exegetische Tradition hat das intellektuelle Niveau des
Evangeliums unterschätzt … Ich möchte in den hier vorgelegten
Studien die … Meinung widerlegen, das Evangelium sei eine kunstlose
Reihung kunstlos erzählter Überlieferungen.“ Die „narrative Exegese“ (wie ich sie im kleinen
Stil pflegen mag), muss Lorenz Wilkens letztlich als unzureichend
erscheinen.
Lorenz Wilkens' Buch erinnert an die
Möglichkeit, dass
- die Auslegung des biblischen Textes
und das theologische Nachdenken über ihn eine glückliche Einheit
bilden und nicht das eine auf Kosten des anderen erfolgt
- der christliche Glaube zugleich
biblisch, authentisch und intelligent sein kann
- sich zukünftig junge Christen, die
die alten Dogmen längst hinter sich gelassen haben, wieder
unbefangen für biblische Texte interessieren
„Die Liebe zu sich selbst folgt aus
der Liebe zu Gott … Wenn ich mein Leben überdenke, so finde ich
darin die Wirkung der Autorität Gottes. Ich sehe es daran, dass ich
nicht imstande bin, die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens dem
Verlangen nach Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Beide gehören
zusammen. Diese Einsicht ist ein Element meines Lebens. Aber wenn ich
sie in meinem Leben finde, so in eins damit in dem Leben meiner
Mitmenschen. Da ist kein Unterschied. Ich werde meinen Nächsten
lieben wie mich selbst. Ich tue es zu wenig und bin oft weit davon
entfernt, aber meine Fähigkeit wird zunehmen, je mehr ich mich, dem
Schma Jisrael folgend, in die Geschichten vertiefe, die von Gott
erzählen.“
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