Dienstag, 2. Februar 2016

Rezension zu Lorenz Wilkens: „Deine Treue hat dich geheilt“


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1) Unter den seriösen deutschsprachigen Büchern, die in den letzten Jahren zum Markusevangelium erschienen sind, ist vielleicht keines so eigenständig, wie Lorenz Wilkens' „Deine Treue hat dich geheilt“: Studien über die Heilungsmacht Jesu und die apokalyptische Erwartung im Markusevangelium, Verlag Peter Lang, 2011, ca. 200 Seiten. Diese Eigenständigkeit beruht vor allem auf dem thematischen und methodischen Schwerpunkt von Lorenz Wilkens. Sein Interesse am Markusevangelium unterscheidet sich sowohl von dem der „historisch-kritischen Methode“ als auch dem der „narrativen Exegese“. Er gehört auch nicht zu jenen Theologen, deren Ziel es ist, im Markusevangeliums die alten Glaubensdogmen wiederzufinden.

Laut dem Klappentext des Verlags zielen Wilkens' Überlegungen auf eine „Erneuerung von Theologie“. Meinem Eindruck nach unternimmt das Buch noch weit mehr. Ich würde sagen (Lorenz Wilkens mag mir vergeben, falls ich mich täusche!), dass seine Intention eher ein erneuertes Selbstverständnis als Christ und ein erneuertes Christ-Sein an sich ist. Seinem Buch hat er einen Gedanken von Gershom Scholem vorangestellt: „Der Gerechte … lebt in der wahren Distanz; der Gerechte lebt in seiner Treue (Habakuk II,4); Treue aber ist ein Distanzverhältnis.

Das Markusevangelium beschreibt – so Lorenz Wilkens - vor allem zwei Typen, die ein solches Treue-Verhältnis zu Jesus verfehlen: Menschen mit unreinem Geist (oder Dämon) und die breite Volksmenge.

links: Lorenz Wilkens
Die unreinen Geister im Markusevangelium huldigen Jesus in der Regel als „Sohn Gottes“ oder mit ähnlichem Hoheitstitel und beugen sich seiner Autorität, zuweilen gar niederkniend oder sich vor ihm hinwerfend. Sie begegnen ihm jedoch furchtsam und widerstreben einer Beziehung mit ihm. In Mk 1:21 ff „wird von einem Menschen gesprochen, der sich in einem 'unreinen Geist' befindet; der schreit: 'Was ist (zwischen) mir und dir, Jesus von Nazareth? Bist Du gekommen, uns zu vernichten? Ich kenne dich, wer Du bist, der Heilige Gottes.'“ … Er zitiert die Witwe von Zarpath, bei der Elia Aufenthalt genommen hat – 1 Kön 17 … 'Was ist (zwischen) mir und dir? Du bist zu mir gekommen, dass meiner Sünde gedacht und mein Sohn getötet würde.'“ Der Mann mit dem unreinen Geist „... sieht Jesus und identifiziert ihn unvermittelt mit Elia, mithin sich mit der Witwe von Zarpath, deren Sohn auf den Tod erkrankt war.“ Die Dämonisierten ängstigen sich vor Jesus in der Sorge, dass er zur Bestrafung ihrer Sünden und Verfehlungen gekommen ist. Ihnen mangelt es an Vertrauen, sie ziehen sich furchtsam in sich zurück. Der besessene Gerasener schreit in Mk 5:7 - „Was ist (zwischen) mir und dir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!

Die breite Volksmenge steht im Markusevangelium für das genaue Gegenteil: „So reflexhaft, wie die psychisch Kranken sich von ihm abstoßen, zieht es die Menge zu ihm hin. Die Menschen sind nicht bei sich; es handelt sich um Massenhysterie.“ - etwa in Mk 3:10 („Denn er heilte viele, sodass alle, die geplagt waren, über ihn herfielen, um ihn anzurühren.“) „Sie werden ihm nicht zum Gegenüber. Sie verlieren die Distanz voneinander …; daher verlieren sie die Achtung vor dem Schonraum ... Sie ziehen ihm die Kraft aus dem Leib ohne Rücksicht … Sie machen ihn zu ihrem Idol; er will es nicht ...

Die Theologie von Markus mündet nach Wilkens in eine „Ontologie“, einer Seinsweise, einer gewissen Art zu leben, zu handeln und zu denken. In dieser Seinsweise ist der Mensch vor allem Partner in einer Treue-Beziehung zu Gott und zu seinem Nächsten. Weit entfernt von einem Bruch mit der hebräischen Bibel bringt Markus erneut zur Geltung, was spätestens seit Abraham gegolten hat: der Bund oder das Bündnis zwischen Gott und Mensch in einer Beziehung der Treue.


2) Im vergangenen Jahr wurde der berühmte Kleist-Literaturpreis an die Berliner Schriftstellerin Monika Rinck verliehen. Als ihren wichtigsten Lehrer benannte die „theorie- und gedankenhungrige“ Dichterin „keinen toten Philosophen und auch keinen Großdenker der Gegenwart, ihr wichtigster Lehrer sei der Religionswissenschaftler Lorenz Wilkens gewesen – weil 'er in seinen Seminaren noch den abwegigsten Einfall habe gelten und aufnehmen oder auch einfach habe stehen lassen können, ohne ihn zwanghaft mit anderen Gedanken zu versöhnen.'

Nach dem Studium von Theologie und Philosophie in Tübingen sowie Religionswissenschaft in Berlin war Lorenz Wilkens als Wissenschaftler, Dozent und Pfarrer tätig. Inhaltlich und stilistisch sind seine Studien von diesem Lebensweg geprägt: „Sie weisen auf eine Berufspraxis zurück, die zwischen der Lehre und Forschung an der Universität und der kirchlichen Arbeit in Erwachsenenbildung und Pfarramt regelmäßig zu wechseln hatte.“ Seine Methode bestimmt Wilkens als „zwischen Exegese, systematischer Theologie und Religionswissenschaft hin und her“ gehend. Zu Beginn der 1990er Jahre gründete er in Berlin mit Gleichgesinnten die „Markusgesellschaft“ und seine Treue zum ältesten Evangelium ist ungebrochen.


3) Wie gewinnt man theologische Einsichten aus dem Markusevangelium?

Im Markus-Evangelium fehlen große Reden wie die matthäische Bergpredigt, die lukanische Feldrede oder die Reden des Offenbarers im Johannes-Evangelium. Statt dessen setzt der Autor alles daran, dass die Lehre Jesu mit der Situation, in der sie entsteht, verbunden bleibt. Die Lehre Jesu begegnet oft verschränkt mit Heilungsberichten ... Die Lehre soll von der Krankheit, von dem Gespräch mit den Pharisäern … und von der Realität des Ochlos (Anm.: die Volksmenge) nicht abstrahiert werden. Wenn solche Abstraktion eine Bedingung des Lehramts ist, spricht das Markus-Evangelium sich gegen es aus.

Markus zwingt die Theologen, von ihren ehrwürdigen Stühlen herabzusteigen und zu einfachen Lesern seiner kleinen Geschichten zu werden. Der fast zweitausendjährige Weg der Theologie, sich an Jesus' heiligen Predigten in den anderen Evangelien, an ehrwürdigen Glaubensvorstellungen und hohen Dogmen zu erbauen, wird mit markinischer List und Ironie hintertrieben. Vielmehr gilt es, die markinischen Perikopen antidogmatisch zu lesen, sie zu verstehen und zu überdenken, um in ihnen die zunächst fast unscheinbaren Wahrheiten aufzustöbern. Selbst (oder vor allem?) die christologischen Hoheitstitel wie „Christus“ oder „Sohn Gottes“ sind da nur störend und lenken vom Wesentlichen ab.

Der Bedeutung … der Würdetitel 'Christus' und 'Sohn Gottes' begegnet das Markusevangelium mit eigentümlicher Zurückhaltung. Es stellt sie in Brechungen dar. Es bringt sie in die Schwebe. Man möchte fast sagen, es demontiere sie – zu Gunsten der Vorstellung vom Menschensohn … Der Begriff des Menschensohns ist dabei konnotativ mit der Überlieferung des Gottesknechts verbunden. Doch in seinem Sterben bekennt sich Jesus, indem er Psalm 22 betet, als nichts anderes mehr denn den leidenden Menschen. … Jesus überließ sich am Ende ganz der Verheißung des Psalms, dass Gott den ungehemmten Ausdruck des Leidens mit der Rettung beantworten werde.


4) Lorenz Wilkens' „Deine Treue hat dich geheilt“ umfasst 6 längere Beiträge, die um die vorbenannten Themen, um die Heilungs- und Menschensohn-Geschichten des Markusevangeliums kreisen. Als Anhang hat Wilkens „drei Meditationen“ beigefügt.

Meditatives Nachdenken über das Markusevangelium begegnet dem Leser indes auf jeder einzelnen Seite des Buchs. Wilkens ist stets auch Philosoph und denkt in philosophischen Begrifflichkeiten. Seine Überlegungen enthalten viele meditative und philosophierende Gedankenausflüge, -splitter und -sprünge, die sich von geradliniger und klarer Exegese durchaus auch entfernen. Teilweise ist sein Buch nicht ganz einfach zu lesen.

Aufgrund dessen erscheinen mir seine Studien nicht unbedingt für eine breitere Leserschaft bestimmt, was ich persönlich sehr bedauere. Dass Wilkens auch ein solches Publikum anzusprechen weiß, belegt eine schöne Predigt von ihm zu Mk 14:3ff, die hier nachzulesen ist.


5) Mein Interesse an seinem Buch bestand vor allem darin, über meinen eigenen Tellerrand zu schauen und der Frage nachzugehen, inwieweit christliches Denken fähig ist, einen unverfälschten Markus wertzuschätzen und als Anregung zu positiven geistlichen Überlegungen dienstbar zu machen.

In dieser Hinsicht hat mich Lorenz Wilkens' „Deine Treue hat dich geheilt“ mehr als beeindruckt.

Mit der dumpfen Kolonialherren-Mentalität der „historisch-kritischen Methode“ (die in ihrer Verblendung selbst hohe biblische Erzählkunst stets für naive Fabeln banaler Volksfrömmigkeit hält) hat Wilkens nichts am Hut. „Die exegetische Tradition hat das intellektuelle Niveau des Evangeliums unterschätzt … Ich möchte in den hier vorgelegten Studien die … Meinung widerlegen, das Evangelium sei eine kunstlose Reihung kunstlos erzählter Überlieferungen.“ Die „narrative Exegese“ (wie ich sie im kleinen Stil pflegen mag), muss Lorenz Wilkens letztlich als unzureichend erscheinen.

Lorenz Wilkens' Buch erinnert an die Möglichkeit, dass

- die Auslegung des biblischen Textes und das theologische Nachdenken über ihn eine glückliche Einheit bilden und nicht das eine auf Kosten des anderen erfolgt

- der christliche Glaube zugleich biblisch, authentisch und intelligent sein kann

- sich zukünftig junge Christen, die die alten Dogmen längst hinter sich gelassen haben, wieder unbefangen für biblische Texte interessieren

Die Liebe zu sich selbst folgt aus der Liebe zu Gott … Wenn ich mein Leben überdenke, so finde ich darin die Wirkung der Autorität Gottes. Ich sehe es daran, dass ich nicht imstande bin, die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens dem Verlangen nach Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Beide gehören zusammen. Diese Einsicht ist ein Element meines Lebens. Aber wenn ich sie in meinem Leben finde, so in eins damit in dem Leben meiner Mitmenschen. Da ist kein Unterschied. Ich werde meinen Nächsten lieben wie mich selbst. Ich tue es zu wenig und bin oft weit davon entfernt, aber meine Fähigkeit wird zunehmen, je mehr ich mich, dem Schma Jisrael folgend, in die Geschichten vertiefe, die von Gott erzählen.

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