1) In der nebenstehenden Abbildung habe
ich den griechischen Wortlaut der Verse 11:1-11 des Markusevangeliums
über die Ankunft von Jesus in Jerusalem in einen Fließtext gesetzt.
Gerötet ist die Schilderung über die Beschaffung des Fohlens, dem
Reittier von Jesus. Wörter, die das Angebundensein, das Lösen und
das Bringen des Fohlens bezeichnen, sind gelb unterlegt. Der blaue
Text beinhaltet die anschließenden Handlungen und Rufe der Pilger.
Wie man sieht, ist der gerötete Text doppelt so umfangreich wie der
blaue. Das Hauptaugenmerk von Markus lag in dieser Perikope
anscheinend auf der Indienstnahme des Fohlens.
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Dieses Fohlen wird von Jesus in Mk
11:2 gegenüber zwei Jüngern wie folgt beschrieben:
εὑρήσετε πῶλον
δεδεμένον ἐφ’ ὃν οὐδεὶς οὔπω ἀνθρώπων
ἐκάθισεν·
(ihr) findet Fohlen, gebunden, auf welchem
niemand noch-nicht (von) Menschen saß
Das einzige „gebundene Fohlen“, von
dem wir mit Sicherheit wissen, das Markus es kannte, ist das Fohlen
des „mythischen“ Schilo aus dem Segen Jakobs in Bereschit (LXX-Genesis) 49:11. Zunächst die deutsche Übersetzung der
Septuaginta (Gen 49:10-11):
„Nicht wird weichen von Juda der
Fürst und von seinen Hüften der Herrscher, bis das, was für ihn
aufbewahrt ist, kommt, und er selbst ist die Erwartung der Völker.
Er bindet sein Fohlen (πῶλον) an einen Weinstock und das Fohlen
(πῶλον) seiner Eselin an die Weinranke. Im Wein wird er sein
Kleid waschen und im Blut der Traube seinen Umhang.“
Justin der Märtyrer hat in der Mitte
des 2. Jahrhunderts n.Chr. die Markusverse 11:2-4 ebenfalls als
Anspielung auf Genesis 49:11 verstanden: „Jener Satz aber: 'Er
bindet an den Weinstock sein Füllen und wäscht sein Gewand im Blute
der Traube' sollte sinnbildlich andeuten, was Christus erleben und
was er vollbringen werde. Denn ein Eselsfüllen stand am Eingange
eines Dorfes, an einen Weinstock angebunden, und das befahl er seinen
Jüngern ihm zuzuführen, und als es ihm zugeführt war, bestieg er
es, setzte sich darauf und zog in Jerusalem ein, wo das
Hauptheiligtum der Juden war, ...“ (1. Apologie, 32. Kapitel).
2) Aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. sind
uns neben Markus vermutlich noch drei weitere Interpretationen der
„Prophezeiung“ aus Gen 49:10-11 überliefert: die der
Qumran-Gelehrten, die der Aufständischen im Jüdisch-Römischen-Krieg
und die von Joseph ben Mathitjahu, genannt Flavius Josephus.
Mit Sicherheit gilt dies nur für die Qumran-Gelehrten bzw. für den Verfasser einer Schrift, die in Qumran gefunden wurde. Es handelt sich dabei um das sogenannte Genesis-Florilegium (4Q252). Das Pergament ist etwas beschädigt, so dass der Text lückenhaft ist. Dessen Übersetzung liest sich auszugsweise wie folgt:
„… 'Herrschaft soll [nicht] vom
Stamm Juda weichen.' Während Israels Herrschaft soll ein Davidischer
Nachkomme auf dem Thron [nicht en]den. Denn 'der Stab' ist der Bund
des Königreiches … [Die Fü]hrer Israels, sie sind 'die Füße',
bis der Messias der Gerechtigkeit, der Zweig Davids, kommt, weil ihm
und seinem Samen der Bund des Königreichs Seines Volkes auf ewig
gegeben war, weil … er ... die Torah mit den Männern der Gemeinde
hielt, weil ... das ist die Versammlung der Männer von ... Er gab
...“
Der Verfasser der Qumran-Schrift hat in
Gen 49:10-11 also eine messianische Prophezeiung gesehen und unter
dem „Schilo“ in Entsprechung zu Jeremia 23:5, 33:15-17 einen
„Messias der Gerechtigkeit“ und „Spross Davids“ verstanden.
3) Josephus Flavius (Jüdischer Krieg,
Buch 6, Kapitel 5, Ziffer 4) schreibt:
„312 Was aber die Juden am meisten
für den Krieg begeisterte, das war ein doppelsinniger
Prophetenspruch, der sich ebenfalls in den heiligen Schriften
vorfindet und besagt, dass um jene Zeit aus dem Lande der Juden ein
Herrscher der Welt hervorgehen werde. 313 Dieses Wort haben nun die
Juden von einem der Ihrigen ausgelegt, so dass selbst viele weise
Männer mit ihrem Urtheile hier fehlgegangen sind, während doch der
Gottesspruch nur die Erhebung des Vespasian zur Kaiserwürde, die in
Judäa durch das Heer erfolgte, hat andeuten wollen.“
Josephus sagt nicht ausdrücklich, dass
mit dem „doppelsinnigen Prophetenspruch“ Jakobs Segen aus Gen
49:10-11 gemeint ist. Die Mehrheit der Gelehrten hat ihn jedoch
darauf bezogen, eine Minderheit auf Bileams Orakel in 4. Mose
24:16ff. Maßgebend für die herrschende Meinung war dabei u.a., dass
die jüdische Herrschaft in Judäa mit Vespasian geendet habe und
„das im Wein gewaschene Kleid und der im Traubenblut gewaschene
Umhang“ als ein orakelhafter Hinweis auf das kaiserliche
Purpurgewand interpretiert werden könnte. Die Schilo-Prophezeiung
scheint zu den Ausführungen von Josephus gut zu passen.
3.1) Dies zu Grunde gelegt, ergibt sich
zunächst ein Hinweis auf die unter den Aufständischen im
Jüdisch-Römischen-Krieg verbreitete „Volksmeinung“.
Wie der Verfasser der Qumran-Schrift
hätten die Aufständischen den „Schilo“ aus Gen 49:10-11 auf
einen irdischen jüdischen Messias bezogen, der sich zum
Weltenherrscher aufschwingt.
3.2) Josephus hingegen hätte darunter
den künftigen römischen Kaiser Vespasian verstanden.
4) Zurück zu Markus. Man kann sicher
davon ausgehen, dass Markus die verbreitete messianische
Interpretation kannte, wonach unter dem „Schilo“ ein irdischer
davidischer Messias zu verstehen ist.
Wenn es - wie ich in meinem letzten Beitrag angenommen habe - richtig ist, dass die Pilgerrufe vor allem in Mk 11:10 sich auf ein irdisches davidisches Königreich Judäa beziehen, dann würde Markus - aus seiner Sicht - eine ähnliche „nationalistische Verblendung des Volkes“ wie Josephus thematisieren.
Im Markusvers 11:4 finden die Jünger das Fohlen schließlich vor einer Tür, draußen auf dem „ἀμφόδου“ (amphodou). Hätte Markus nur sagen wollen, dass das Fohlen auf dem Weg oder der Straße angebunden war – so die meisten deutschen Übersetzungen -, hätte er einfach das Wort verwenden können, dass er dafür stets und an vielen anderen Stellen verwendet: ὁδός (hodos).
Wenn es - wie ich in meinem letzten Beitrag angenommen habe - richtig ist, dass die Pilgerrufe vor allem in Mk 11:10 sich auf ein irdisches davidisches Königreich Judäa beziehen, dann würde Markus - aus seiner Sicht - eine ähnliche „nationalistische Verblendung des Volkes“ wie Josephus thematisieren.
Im Markusvers 11:4 finden die Jünger das Fohlen schließlich vor einer Tür, draußen auf dem „ἀμφόδου“ (amphodou). Hätte Markus nur sagen wollen, dass das Fohlen auf dem Weg oder der Straße angebunden war – so die meisten deutschen Übersetzungen -, hätte er einfach das Wort verwenden können, dass er dafür stets und an vielen anderen Stellen verwendet: ὁδός (hodos).
In der antiken Literatur wird das Wort
amphodos häufig für ein Straßen- oder Wohnviertel gebraucht, da dieses auf allen
Seiten von Weg umgeben ist. Ein solcher Weg wäre ein Ringweg, ein
Straßenring etc. Dieser Sinngehalt scheint zu Mk 11:4 jedoch eher
schlecht zu passen. Wörtlich bedeutet das zusammengesetzte
Substantiv „amph-odon“ in etwa Beidseits-Weg. Ich
mutmaße, dass Markus das Wort vielleicht im Sinn von Doppelweg oder Scheideweg verstanden haben
wollte.
6) Normalerweise wird angenommen, dass
die Rufe von „Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“ zwei völlig
gegensätzliche Haltungen des Volkes zu Jesus ausdrücken: hoher
zustimmender Jubel und vernichtendes Todeswort.
Meinem Eindruck nach gilt dies für das
Markusevangelium nicht. Die Kluft zwischen Jesus und dem Volk ist in
Mk 11:10 insgeheim bereits weit aufgebrochen; sie ist nur noch nicht
manifest. Das Volk sucht den irdischen herrschaftlichen Messias, den
der leidende Gottesknecht Jesus nicht geben wird - daher der
„Doppelweg“. Die zukünftige „Ent-Täuschung“ des Volkes über
Jesus ist spätestens in Mk 11:10 angelegt. Jesus' Enttäuschung über
das Volk wird in der auf den Einzug folgenden Feigenbaum-Geschichte
offenbar.
Es sind lediglich die frommen
Abwandlungen von Matthäus, Lukas und vor allem Johannes, die diesen
straffen Sinngehalt der Markuserzählung verwischen. Dabei mag Lukas
derjenige Evangelist sein, der in seiner Einzugsgeschichte noch etwas von dem von Markus intendierten
Sinn zurückbehalten hat und scheinbar auch mit Josephus darin
übereinstimmt, dass das Volk in seinem „Irrtum“ die Katastrophe
des Jüdisch-Römischen-Krieg herausgefordert hat:
„19:41 Und als er nahe hinzukam, sah
er die Stadt und weinte über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du
erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor
deinen Augen verborgen. 43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen,
da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern
und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden
gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem
andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du
heimgesucht worden bist.“
7) Justin der Märtyrer jedenfalls
fährt im Hinblick auf Genesis 49:11 fort:
„Und hernach wurde er gekreuzigt,
damit auch der übrige Teil der Weissagung erfüllt werde. Denn das
Wort 'Er wäscht sein Gewand im Blute der Traube' deutete im voraus
das Leiden an, das er erdulden sollte, um durch sein Blut die zu
reinigen, die an ihn glauben.“
Der alte Justin trifft hier vielleicht
voll ins Schwarze. Tatsächlich mag Markus die Genesis-Stelle in
einem solchen Licht gesehen haben.
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