1) Was bleibt von der Perikope über
Jesus' Ankunft in Jerusalem übrig, wenn man all das wieder abzieht,
was Matthäus, Lukas und Johannes hinzugedichtet haben - an
Palmwedeln, doppelten Eseln, verärgerten Pharisäern, neugierigen
Griechen, schreienden Steinen, Tränen über Jerusalem etc. ?
Ankunft in Jerusalem nach Johannes ... |
- Die Erzählung spielt bis zum Vers
11:10 noch auf dem letzten Wegstück in Richtung Jerusalem. Sie
erzählt nicht von einem „Einzug“ in die Stadt.
- Das Reittier ist ein Fohlen, dessen
Indienstnahme von Markus sehr detailliert beschrieben ist.
- Viele sich entkleidende (nackte?)
Menschen begegnen dem Leser. Die Jünger werfen ihre Gewänder dem
Fohlen über, die große Menge bettet sie in den Weg.
- Hosanna-Rufe, die sich nicht auf
Jesus zu beziehen scheinen.
- Während Jesus in den anderen Evangelien große Aufmerksamkeit mit seiner Ankunft erzielt, ist fraglich, ob bei Markus jemand eine besondere Notiz von ihm nimmt.
- Während Jesus in den anderen Evangelien große Aufmerksamkeit mit seiner Ankunft erzielt, ist fraglich, ob bei Markus jemand eine besondere Notiz von ihm nimmt.
- Jesus' tatsächliche Ankunft in
Jerusalem in Vers 11:11 ist unspektakulär. Er inspiziert kurz den
Tempel und geht dann mit den Zwölf nach Bethania.
Man liest diese Perikope und liest sie
erneut und es beschleicht einen dabei der Eindruck, dass das
Markusevangelium möglicherweise das Gegenteil, zumindest etwas ganz
anderes erzählt als Matthäus, Lukas und Johannes. Ein „bejubelter
Einzug“ von Jesus in Jerusalem scheint nach Markus nicht
stattgefunden zu haben.
Meinte Markus dies? |
In Vers 11:10 preisen die Pilger das
kommende „Königreich unseres Vaters David“ - eine Einzelheit,
die alle anderen Evangelisten gestrichen haben. Dieser Schrei der
Pilger steht konträr zur Verkündigung von Jesus, der das
„Königreich Gottes“ predigt und die Anrede „Vater“
ausschließlich für Gott verwendet. Wollte - so Markus - Jesus mit
seinem Ritt ein Zeichen setzen und sich abgrenzen von einem
Pilgerzug, der in einem nationalistisch verblendeten Freudentaumel
endete?
2) Wie Matthäus die Perikope
veränderte
Wie gewohnt ist der Leser des
Markusevangeliums beim Verständnis der Erzählung auf sich allein
gestellt, denn Markus erläutert die Geschehnisse nicht näher.
Matthäus ergänzt bereits in den
ersten Versen eine Eselin zu Markus' Fohlen und stellt heraus, dass
alles zur Erfüllung der Prophetenworte von Sacharja 9:9 geschehen
sei („Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir ...“).
Bereits hierdurch gelingt es Matthäus, eine „freudige
Ankunftsstimmung“ zu verbreiten und Jesus bewusst als „einziehenden
König“ handeln zu lassen.
Im Markus-Vers 11:9 ist unklar, ob sich
der Pilgerzug als loser Haufen vorwärts bewegt oder als geordneter
Zug („Und die Voranziehenden und die Nachfolgenden ...“).
Matthäus' Ergänzung in Vers 21:9 („Aber die Menge, die
Voranziehendem ihm und die Nachfolgenden ...“) deutet in leicht
stärkerem Maße auf eine Jesus umgebende Paradeformation hin.
Während die Menge im Markus-Vers 11:10
das „kommende Königreich unseres Vaters David“ preist, schallen
in Matthäus 21:9 dem „Sohn Davids“, mit dem zweifellos Jesus
gemeint ist, die „Hosanna“-Rufe entgegen.
Alsdann fügt Matthäus zwei Verse ein,
die das große Interesse des Volkes am Einzug von Jesus eindeutig
herausstellen: „10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die
ganze Stadt und fragte: Wer ist der? 11 Die Menge aber sprach: Das
ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.“ Kein Wort davon
bei Markus.
Schließlich setzt Jesus bei Matthäus
sofort zur Tempelreinigung an (21:11 „Und Jesus ging in den Tempel
hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und
stieß die Tische der Geldwechsler um und die Stände der
Taubenhändler ...“). Im Markusevangelium geht Jesus hingegen nach
einer kurzen Inspektion des Tempels mit den Zwölf nach Bethania,
weil es schon spät geworden war.
Das Matthäusevangelium präsentiert
dem Leser eine königliche Ankunft in Jerusalem; das Markusevangelium
hingegen eine rätselhafte Szene, deren Zusammenhänge undeutlich
bleiben.
3) Lektüre rückwärts
Aus dem Umstand, dass die drei anderen
Evangelisten die Erzählung vom königlichen Einzug wesentlich
umgestaltet haben, lässt sich nicht schließen, dass im
Markusevangelium davon gar keine Rede ist. Es erscheint sinnvoll, die
Verse Mk 11:7-11 rückwärts zu lesen, um die vielleicht maßgeblichen
Punkte exakt bestimmen zu können. Ich vermeide in diesem Beitrag
eine Auslegung der Verse, so weit dies möglich ist. Mich
interessiert lediglich, ob sich auf der reinen Textebene die
Handlungen der Leute auf Jesus beziehen und in welchem Maß dies
eindeutig ist.
3.1) Vers 11:11
Καὶ εἰσῆλθεν εἰς
Ἱεροσόλυμα εἰς τὸ ἱερὸν καὶ
περιβλεψάμενος πάντα, ὀψίας ἤδη οὔσης
τῆς ὥρας, ἐξῆλθεν εἰς Βηθανίαν μετὰ
τῶν δώδεκα.
Und er hineinkam in Jerusalem in den Tempel;
und umhergeblickt (habend) alles, spät schon gewesen die Stunde,
herauskam er nach Bethania mit den Zwölf.
Markus stellt Jesus bei der
tatsächlichen Ankunft in Jerusalem in Vers 11 ohne Jünger und Volk
dar. Erst auf dem Rückweg nach Bethania treten die Jünger wieder in
Erscheinung. Der Vers vermittelt den Eindruck einer „einsamen“
Ankunft.
3.2) Vers 11:10
Εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη
βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ Ὡσαννὰ
ἐν τοῖς ὑψίστοις.
Gesegnet das kommende Königreich
des Vaters (von) uns, David! Hosanna in den Höchsten!
Der zweite Teil des Pilgerrufs bezieht
sich nicht auf Jesus, sondern auf ein „kommendes davidisches
Königreich“. Vom ersten Kapitel des Markusevangeliums an verkündet
Jesus die „βασιλεία τοῦ θεοῦ“ (basileia tou
theou), das „Königreich des Gottes“ bzw. die „Königsherrschaft
des Gottes“. Es handelt sich hierbei um einen starr feststehenden
Begriff, den Markus nie abwandelt und auch nicht mit vergleichbaren
Worten ausdrückt. Vor dem Vers 11:10 taucht er insgesamt 11 Mal auf
(Mk 1:15, 4:11, 4:26, 4:30, 9:1, 9:47, 10:14, 10:15, 10:23, 10:24,
10:25).
Der Pilgerruf steht damit in starkem
Kontrast zur Verkündigung von Jesus und bezieht sich offensichtlich
auf einen irdischen, unabhängigen Staat Judäa, wie ihn die
Aufständischen im Jüdisch-Römischen Krieg um 70 n.Chr. zur
mutmaßlichen Leb- und Schaffenszeit von Markus anstrebten. Die
Ambition der Pilger widerspricht damit dem von Jesus verkündeten
Evangelium.
Dass die anderen Evangelisten diesen
Begriff in ihren eher frommen Einzugsgeschichten vermieden haben,
scheint seine Anstößigkeit zu belegen. Es liegt meines Erachtens
mehr als nahe, dass zwischen Jesus und diesen Pilgern widerstreitende
Zielsetzungen bestehen.
3.3) Vers 11:9
καὶ οἱ προάγοντες καὶ
οἱ ἀκολουθοῦντες ἔκραζον, Ὡσαννά·
Εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι
κυρίου·
Und die Voranziehenden und die Nachfolgenden
kreischten: Hosanna! Gesegnet der Kommende im Namen (vom) Herrn!
In diesem Vers finden sich zwei
Formulierungen, die dafür sprechen könnten, dass sich das Handeln
und die Rufe der Pilger auf Jesus beziehen. Zum einen „die
Voranziehenden und die Nachfolgenden“ und zum anderen der erste
Teil des Pilgerrufs mit der Segnung des „Kommenden“.
Mit dem „Kommenden im Namen (vom)
Herrn“ kann theoretisch Jesus, aber auch jeder X-Beliebige gemeint
sein. Markus verwendet hier ein exaktes Zitat aus Psalm 118,26 (LXX
117,26). Dort ist zweifelsfrei jeder der „Gerechten“ gemeint, die
durch das „Tor des Herrn“ einziehen. Dass im Markusevangelium mit
der „Segnung des Kommenden“ durch die Pilger vor allem Jesus
gemeint ist, dürfte daher eher unwahrscheinlich sein.
Stärker auf Jesus könnte hingegen die
Bezeichnung „die Voranziehenden und die Nachfolgenden“ hinweisen.
Das „normale“ Leserverständnis wird sicher zunächst dahingehen,
dass mit dieser Beschreibung jene gemeint sind, die eben gerade Jesus
voran und hinter ihm hergehen. Problematisch mag dafür sein, dass im
vorhergehenden Vers 11:8 nicht Jesus selbst genannt ist, sondern
diejenigen, die ihre Gewänder und die Strohmatten in den Weg betten.
Auch die Tatsache, dass Matthäus es für notwendig erachtet hat,
hier das Wörtchen „ihm“ zu ergänzen (Mt 21:9 „οἱ
προάγοντες αὐτὸν καὶ οἱ ἀκολουθοῦντες“
- „die Voranziehenden ihm und die Nachfolgenden“), macht
deutlich, dass auch er die Bezeichnung von Markus als uneindeutig und
für seine Zwecke als korrekturbedürftig ansah.
3.4) Verse 11:7-8
7 καὶ φέρουσιν τὸν
πῶλον πρὸς τὸν Ἰησοῦν καὶ ἐπιβάλλουσιν
αὐτῷ τὰ ἱμάτια αὐτῶν, καὶ ἐκάθισεν
ἐπ᾽ αὐτόν.
Und sie bringen das Fohlen zu dem Jesus und
aufwerfen ihm die Gewänder (von) ihnen, und er setzte (sich) auf es.
8 καὶ πολλοὶ τὰ ἱμάτια
αὐτῶν ἔστρωσαν εἰς τὴν ὁδόν, ἄλλοι
δὲ στιβάδας κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν.
Und
viele die Gewänder (von) ihnen betteten in den Weg, andere aber
Strohmatten, geschlagen (habend) aus den Feldern.
Diese beiden Verse verknüpfen die
Geschichte von der Indienstnahme des Fohlens mit den Handlungen der
Pilger und bilden das Zentrum der Perikope Mk 11:1-11. Unabhängig
vom konkreten Sinngehalt des „Entkleidens“ (siehe hierzu 2 Kön 9:13) scheint sich das Tun der Jünger und der Pilger spiegelbildlich
zu entsprechen. Die Jünger werfen die Gewänder auf das Fohlen, die
Menge bettet sie in den Weg. Jesus setzt sich auf das Fohlen. Einen
Ritt auf dem Fohlen über die in den Weg ausgebreiteten Gewänder
erwähnt Markus nicht ausdrücklich.
Meines Erachtens überwiegt in Vers
11:8 der Eindruck, dass die Gewänder für Jesus in den Weg gebreitet
werden. Dies ist sicher nicht eindeutig, aber es scheint eher
überspannt, für das Gegenteil argumentieren zu wollen.
In Vers 11:7 besteht wohl keinerlei
Zweifel. Das Aufwerfen der Gewänder auf das Fohlen bezieht sich
eindeutig auf Jesus.
4) Faszinierend finde ich, dass im
Fortgang des Textes der Eindruck, ob sich die Handlungen auf die
Person von Jesus beziehen, Schritt für Schritt rückläufig ist.
In Vers 7 erscheint dies eindeutig, in
Vers 8 fehlt zwar diese Eindeutigkeit, aber überwiegende Gründe
sprechen dafür, Vers 9 hält zunächst noch die Waage, spricht dann
jedoch eher dagegen, Vers 10 bezieht sich eindeutig nicht auf Jesus
und befremdet stark. In Vers 11 scheint die Erzählung wie eine
Luftblase zu platzen und das Gefühl einer täuschenden Illusion
macht sich breit.
5) Konservative Bibelausleger würden
sicher dafür argumentieren, dass Markus die Erzählung vom Einzug
„in Wahrheit“ nicht anders meint als Matthäus, Lukas und
Johannes, sich aber nur etwas unglücklich ausgedrückt hat. Neben
dem Wortlaut von Markus sprechen meiner Meinung nach im Wesentlichen
drei Gründe gegen eine solche Auffassung.
5.1) Den stärksten Widerhall dieser
Perikope finden wir in in den Versen Mk 10:32-34. So klingt Markus
(in der Lutherübersetzung), wenn Jesus „voran geht“:
32 Sie waren aber auf dem Wege hinauf
nach Jerusalem und Jesus ging ihnen voran; und sie entsetzten sich;
die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich. Und er nahm abermals die
Zwölf zu sich und fing an, ihnen zu sagen, was ihm widerfahren
werde: 33 Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der
Menschensohn wird überantwortet werden den Hohenpriestern und
Schriftgelehrten, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und den
Heiden überantworten. 34 Die werden ihn verspotten und anspeien und
geißeln und töten, und nach drei Tagen wird er auferstehen.
Die Gefühle von „Entsetzen“ und
„Furcht“ scheinen auch hier eine erhebliche Kluft zwischen Jesus'
eigenen Zielen und denen der Menge zu verdeutlichen.
5.2) Die Perikope Mk 11:1-11 ist meiner
Meinung nach Teil einer sehr sorgfältig ausgearbeiteten
literarischen Struktur innerhalb des Markusevangeliums. Dass sich
Markus undeutlich oder unglücklich ausgedrückt haben soll, halte
ich deshalb für ausgeschlossen. Diese Figur ist wie folgt gestaltet.
Vers 6:56 lautet:
καὶ ὅπου ἂν εἰσεπορεύετο
εἰς κώμας ἢ εἰς πόλεις ἢ εἰς ἀγροὺς
ἐν ταῖς ἀγοραῖς ἐτίθεσαν τοὺς
ἀσθενοῦντας, καὶ παρεκάλουν αὐτὸν
ἵνα κἂν τοῦ κρασπέδου τοῦ ἱματίου
αὐτοῦ ἅψωνται· καὶ ὅσοι ἂν ἥψαντο
αὐτοῦ ἐσώζοντο.
Und wo auch immer er hineingelangte in
Dörfer oder in Städte oder in Landgüter, auf die Märkte
legten sie die Geschwächten und baten ihn, dass auch nur den Saum
seines Gewandes sie berühren dürften; und alle, die berührten ihn,
wurden gerettet.
Die Reihenfolge der Örtlichkeiten ist
hier: Dörfer - Städte - Landgüter - Marktplätze.
Diese Örtlichkeiten tauchen in genau
der gleichen Reihenfolge im Jerusalem-Teil des Markusevangeliums
wieder und bezeichnen wichtige Stationen der Passion.
Es beginnt in unserer Perikope im Vers
11:1-2 bei der Indienstnahme des Fohlens:
… ἀποστέλλει δύο τῶν
μαθητῶν αὐτοῦ καὶ λέγει αὐτοῖς·
ὑπάγετε εἰς τὴν κώμην …
… er abordnete zwei
der Jünger (von) ihm und er sagt ihnen: Dahinzieht in das Dorf ...
Die nächste Station ist die
Beschaffung des Raumes für das Abendmahl in Vers 14:13:
καὶ ἀποστέλλει δύο
τῶν μαθητῶν αὐτοῦ καὶ λέγει αὐτοῖς
Ὑπάγετε εἰς τὴν πόλιν
und er abordnete zwei der
Jünger (von) ihm und er sagt ihnen: Dahinzieht in die Stadt ...
Im Vers 15:21 ist es der vom Landgut
kommende Simon von Kyrene, der von den Römern als Kreuzträger in
Dienst gezwungen wird
Καὶ ἀγγαρεύουσιν
παράγοντά τινα Σίμωνα Κυρηναῖον,
ἐρχόμενον ἀπ’ ἀγροῦ
und in-Dienst-zwingen sie
(einen) Vorbeiziehenden, (einen) gewissen Simon Kyrenaion, kommend
vom Landgut ...
Schließlich „ermarktet“ (kauft)
Josef von Arimathäa das Leichentuch für Jesus in Vers 15:46. Das
Partizip (ἀγοράσας) entspricht im Griechischen dem
Substantiv für „Markt“ (ἀγορά):
καὶ ἀγοράσας σινδόνα
…
und ermarktet habend (ein) Sindon-Leinen ...
5.3) Gegen eine nachlässige
Formulierung von Markus spricht zudem, dass die Perikope Mk 11:1-11
meinem Eindruck nach in chiastischer Struktur in der Form
A-B-C-D-C'-B'-A' gebaut ist, wobei in die B-Klausel eine
Parallelstruktur eingebettet ist und in die B'-Klausel ein
Unter-Chiasmus.
Ob es mir gelungen ist, den Chiasmus
vollständig und richtig nachzubauen, mag eher bezweifelt werden.
Dennoch dürfte die Form wohl im Großen und Ganzen stimmen. Hier in
der Lutherübersetzung:
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