Donnerstag, 9. April 2015

Mk 1,40-45: Die rätselhafte Behandlung des Aussätzigen


1) Im Markusevangelium gibt es Erzählungen, die in Details, aber auch im Ganzen unverständlich sind. Zumindest für „uns“ - oder jedenfalls zumindest für mich. Ich würde mir manchmal wünschen, über das Wissen und den Verstehenshintergrund der allerersten antiken Leser von Markus zu verfügen, weil ich glaube, dass sie ihn wesentlich besser begreifen konnten als wir. 

Reinigung des Aussätzigen

Vielleicht führt es ein wenig weiter, wenn man versteht, aus welchen genauen Gründen man nicht versteht; wenn man die einzelnen Stellen der Erzählung benennt, die sich einem Verständnis widersetzen; wenn man das Maß von Sicherheit abschätzt, mit dem man vielleicht einzelne Fragen beantworten kann.

Ein Beispiel für eine solche Erzählung ist die sogenannte „Heilung“ des Aussätzigen in Mk 1,40-45. „Sogenannt“, weil für jeden ernsthaften Leser der Szene sofort ersichtlich ist, dass weder der Aussätzige noch Jesus die „Krankheit“ und deren „Heilung“ thematisieren. Der Aussätzige ist lediglich an seiner „Reinigung“ interessiert und Jesus sagt ihm auch nur diese zu. Nur quasi nebenbei verschwindet dabei auch der Aussatz.

Der spannendere Abschnitt ist der zweite Teil der Erzählung, der einen fortwährenden Rollentausch während der ganzen Geschichte nahelegt: Zunächst behandelt Jesus im ersten Teil einen unreinen Aussätzigen wie einen Reinen, da er ihn berührt. Alsdann behandelt er den Gereinigten wie einen Unreinen bzw. einen Dämon, indem er ihn hinauswirft und ihm Schweigen gebietet. Zuletzt findet sich Jesus selbst in der Rolle des Aussätzigen wieder und ist nicht mehr in der Lage, in eine Stadt zu gehen. Dies scheint die Geschichte zu sein, die Markus erzählen will. Ich vermute mal, dass nicht nur für mich der Sinngehalt des Erzählten weitestgehend im Dunkeln liegt.

Wie immer beginne ich zunächst mit dem möglichst wortwörtlich übersetzten Text:


40 Und kommt zu ihm ein Aussätziger,
             herbeirufend ihn
             und kniefällig sagend ihm:
                                Wenn du willst,
                                du (bist) fähig mich (zu) reinigen.
41         Und erzürnt
             ausgestreckt habend die Hand ihn berührte er
             und sagt ihm:
                                Ich will!
                                (Sei) gereinigt!
42         Und sogleich wegkam von ihm der Aussatz
             und er war gereinigt.

43        Und ihn anschnautzend
            sogleich rauswarf er ihn
44        und sagt ihm:
                               Sieh, (dass) niemandem nichts du sagst,
                               sondern führe (dich) vor,
                               zeige dich selbst dem Priester
                               und hinbringe für die Reinigung (von) Dir,
                               was verordnet hat Mose;
                               zum Zeugnis (für) sie!
45        Er aber, weggekommen,
                               anfing zu verkünden vieles
                               und weiterberichtete das Wort,
            so dass nicht-mehr er (war) fähig,
            (im) Lichten in (eine) Stadt hineinzukommen;
            aber draußen auf wüsten Orten war er
            und sie kamen zu ihm (von) überall.


(Nur nebenbei: Die Lesart „erzürnt“ statt „mitfühlend“ in Mk 1,41 scheint mir trotz gewisser Zweifel original zu sein - hierzu Bart Ehrman -, ändert an den hier aufgeworfenen Fragen aber nichts.)

Folgende Übersicht kann den Text vielleicht verständlicher gliedern:

Teil 1
1.1) Aussätziger: bittet um Reinigung, vertraut auf das Können von Jesus, aber zweifelt an seinem guten Willen
1.2) Jesus: Aussage über seine Bereitwilligkeit und Reinigungsspruch
1.3) Aussätziger: Verschwinden des Aussatzes und Erfolg der Reinigung

Teil 2
2.1) Jesus: Abkanzeln und Rauswerfen des Gereinigten, Schweige- und Opfergebot
2.2) Gereinigter: unter Verstoß gegen das Schweigegebot beginnt er mit einer Verkündigung
2.3) Jesus: findet sich in der Rolle des Aussätzigen wieder, aber das Volk kommt zu ihm


Bemerkenswert scheint, dass der Fortgang der Erzählung offensichtlich in „Tripletten“ erfolgt. Beide Teile weisen je drei Unterabschnitte auf, die Aktionen des Aussätzigen und von Jesus lassen sich – vielleicht nicht ganz zwingend – ebenfalls dreiteilen.


2) Mir scheint, dass der Text folgende Fragen aufwirft:

- Warum dreht sich die Erzählung um die Frage der kultischen Reinigung und nicht um die Heilung des Aussätzigen? (Mk 1,40-42)

- Woher weiß der Aussätzige von Jesu Können und warum zweifelt er an seinem guten Willen? (Mk 1,40)

- Warum behandelt Jesu anschließend den Gereinigten wie einen unreinen Geist bzw. Dämon, indem er ihn „rauswirft“ und „Schweigen gebietet“? (Mk 1,43-44, vgl. hierzu Mk 1,34: „und viele Dämonen rauswarf er, und nicht ließ er reden die Dämonen, weil sie kannten ihn.“)

- Warum gebietet Jesus dem Aussätzigen Schweigen sowie den Vollzug der Priesterschau und des Reinigungsopfers?

- Wer sind diejenigen, zu deren Zeugnis der Gereinigte Priesterschau und Kultopfer nach Moses Gebot durchführen soll? (Mk 1,44)

- Was ist das „Viele“, dass der Gereinigte ähnlich einem Apostel, aber ohne Auftrag verkündet, und welches „Wort“ berichtet er weiter? (Mk 1,45)

- Warum hält sich der Gereinigte anscheinend auch nicht an das Opferungsgebot im Widerspruch zu seinem Reinigungswunsch?

- Warum kann Jesus nicht mehr in eine Stadt gehen? (Mk 1,45)

- Was ist das Ziel von Markus' Darstellung?


3) Zur ersten Frage (Warum dreht sich die Erzählung um die Reinigung und nicht um die Heilung?) hat Oliver Achilles zweifellos zutreffende Antworten gefunden, indem er die Erzählung vor dem Hintergrund von Levitikus 13 ausgelegt hat. Diese Erläuterung kann sich auf den Markustext selbst stützen, da in Mk 1,44 auf die „Verordnungen“ von Mose verwiesen wird. Man kann hier sicherlich darauf vertrauen, dass Markus dieses Wissen und Verstehen bei seinen antiken Lesern vorausgesetzt hat und voraussetzen konnte.

Der erste Teil der zweiten Frage (Woher weiß der Aussätzige von Jesu Können?) ist wohl eher weniger problematisch. Jesus' „Ruf“ ist ihm zumindest nach Mk 1,28 schon in ganz Galiläa vorausgeeilt. Der zweite Teil der Frage (Wieso zweifelt der Aussätzige am guten Willen von Jesus?) bleibt indes ungeklärt.

Den zweiten Teil der sechsten Frage (Welches „Wort“ verbreitet der Aussätzige?) würde ich mir zutrauen, ohne größere Zweifel, aber entgegen der wohl herrschenden Auffassung zu beantworten. Diese geht davon aus, dass der Aussätzige die „ganze Geschichte“ weitererzählt. Bei Markus heißt es jedoch ausdrücklich, dass er das „Wort“ bzw. das „Gesagte“ (τὸν λόγον - ton logon) weiterberichtet. Meines Erachtens kann es sich dabei nur um Jesus Aussage „Ich will“ handeln, also seine geäußerte Bereitwilligkeit, eine „Reinigung“ vorzunehmen. Der erste Teil dieser Frage bleibt gleichwohl unbeantwortet.

Schließlich glaube ich, dass ich zumindest einen kleinen Teil des Sinngehalts der gesamten Erzählung erahne. In Mk 1,27 stellen die Synagogenbesucher fest, dass Jesus den unreinen Geistern gebietet und diese auf ihn „hören“ bzw. ihm „gehorchen“. Markus verwendet für dieses Gehorchen das Wort ὑπακούουσιν (hypakouousin), dass sich auch tatsächlich vom Wortstamm „Hören“ herleitet. Ein Anliegen des Textes dürfte daher der Vergleich zwischen den unreinen Geistern und dem gereinigten Aussätzigen sein, der wohl auch zu diesem „Vergleichszweck“ wie ein Dämon behandelt wird. Die unreinen Geister scheinen auf Jesus zu hören, der gereinigte Aussätzige tut dies zweifellos nicht.


4) Alle übrigen Fragen bleiben im Grunde ungeklärt. Sicherlich kann man zu diesen gute und sinnvolle Antworten finden und versuchen, ein wenig mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Aber wirklich gewiss kann man sich dieser Antworten wohl eher nicht sein.

Es ist eine ganze Menge, die da offen bleibt und sich einem Verständnis widersetzt.

Tja …

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