1) Im Markusevangelium gibt es
Erzählungen, die in Details, aber auch im Ganzen unverständlich
sind. Zumindest für „uns“ - oder jedenfalls zumindest für mich.
Ich würde mir manchmal wünschen, über das Wissen und den
Verstehenshintergrund der allerersten antiken Leser von Markus zu
verfügen, weil ich glaube, dass sie ihn wesentlich besser begreifen
konnten als wir.
Reinigung des Aussätzigen |
Vielleicht führt es ein wenig weiter,
wenn man versteht, aus welchen genauen Gründen man nicht versteht;
wenn man die einzelnen Stellen der Erzählung benennt, die sich einem
Verständnis widersetzen; wenn man das Maß von Sicherheit abschätzt,
mit dem man vielleicht einzelne Fragen beantworten kann.
Ein Beispiel für eine solche Erzählung
ist die sogenannte „Heilung“ des Aussätzigen in Mk 1,40-45.
„Sogenannt“, weil für jeden ernsthaften Leser der Szene sofort
ersichtlich ist, dass weder der Aussätzige noch Jesus die
„Krankheit“ und deren „Heilung“ thematisieren. Der Aussätzige
ist lediglich an seiner „Reinigung“ interessiert und Jesus sagt
ihm auch nur diese zu. Nur quasi nebenbei verschwindet dabei auch der
Aussatz.
Der spannendere Abschnitt ist der
zweite Teil der Erzählung, der einen fortwährenden Rollentausch
während der ganzen Geschichte nahelegt: Zunächst behandelt Jesus im
ersten Teil einen unreinen Aussätzigen wie einen Reinen, da er ihn
berührt. Alsdann behandelt er den Gereinigten wie einen Unreinen
bzw. einen Dämon, indem er ihn hinauswirft und ihm Schweigen
gebietet. Zuletzt findet sich Jesus selbst in der Rolle des
Aussätzigen wieder und ist nicht mehr in der Lage, in eine Stadt zu
gehen. Dies scheint die Geschichte zu sein, die Markus erzählen
will. Ich vermute mal, dass nicht nur für mich der Sinngehalt des
Erzählten weitestgehend im Dunkeln liegt.
Wie immer beginne ich zunächst mit dem
möglichst wortwörtlich übersetzten Text:
40 Und kommt zu ihm ein Aussätziger,
herbeirufend ihn
und kniefällig sagend ihm:
Wenn du willst,
du (bist) fähig mich (zu) reinigen.
41 Und erzürnt
ausgestreckt habend die Hand ihn
berührte er
und sagt ihm:
Ich will!
(Sei) gereinigt!
42 Und sogleich wegkam von ihm der
Aussatz
und er war gereinigt.
43 Und ihn anschnautzend
sogleich rauswarf er ihn
44 und sagt ihm:
Sieh, (dass) niemandem nichts du
sagst,
sondern führe (dich) vor,
zeige dich selbst dem Priester
und hinbringe für die Reinigung
(von) Dir,
was verordnet hat Mose;
zum Zeugnis (für) sie!
45 Er aber, weggekommen,
anfing zu verkünden vieles
und weiterberichtete das Wort,
so dass nicht-mehr er (war) fähig,
(im) Lichten in (eine) Stadt
hineinzukommen;
aber draußen auf wüsten Orten war
er
und sie kamen zu ihm (von) überall.
(Nur nebenbei: Die Lesart „erzürnt“
statt „mitfühlend“ in Mk 1,41 scheint mir trotz gewisser Zweifel
original zu sein - hierzu Bart Ehrman -, ändert an den hier aufgeworfenen Fragen aber
nichts.)
Folgende Übersicht kann den Text
vielleicht verständlicher gliedern:
Teil 1
1.1) Aussätziger: bittet um Reinigung,
vertraut auf das Können von Jesus, aber zweifelt an seinem guten
Willen
1.2) Jesus: Aussage über seine
Bereitwilligkeit und Reinigungsspruch
1.3) Aussätziger: Verschwinden des
Aussatzes und Erfolg der Reinigung
Teil 2
2.1) Jesus: Abkanzeln und Rauswerfen des Gereinigten, Schweige- und Opfergebot
2.1) Jesus: Abkanzeln und Rauswerfen des Gereinigten, Schweige- und Opfergebot
2.2) Gereinigter: unter Verstoß gegen
das Schweigegebot beginnt er mit einer Verkündigung
2.3) Jesus: findet sich in der Rolle des Aussätzigen wieder, aber das Volk kommt zu ihm
2.3) Jesus: findet sich in der Rolle des Aussätzigen wieder, aber das Volk kommt zu ihm
Bemerkenswert scheint, dass der
Fortgang der Erzählung offensichtlich in „Tripletten“ erfolgt.
Beide Teile weisen je drei Unterabschnitte auf, die Aktionen des
Aussätzigen und von Jesus lassen sich – vielleicht nicht ganz
zwingend – ebenfalls dreiteilen.
2) Mir scheint, dass der Text folgende
Fragen aufwirft:
- Warum dreht sich die Erzählung um
die Frage der kultischen Reinigung und nicht um die Heilung des
Aussätzigen? (Mk 1,40-42)
- Woher weiß der Aussätzige von Jesu
Können und warum zweifelt er an seinem guten Willen? (Mk 1,40)
- Warum behandelt Jesu anschließend
den Gereinigten wie einen unreinen Geist bzw. Dämon, indem er ihn
„rauswirft“ und „Schweigen gebietet“? (Mk 1,43-44, vgl.
hierzu Mk 1,34: „und viele Dämonen rauswarf er, und nicht ließ er
reden die Dämonen, weil sie kannten ihn.“)
- Warum gebietet Jesus dem Aussätzigen Schweigen sowie den Vollzug der Priesterschau und des Reinigungsopfers?
- Wer sind diejenigen, zu deren Zeugnis der Gereinigte Priesterschau und Kultopfer nach Moses Gebot durchführen soll? (Mk 1,44)
- Was ist das „Viele“, dass der Gereinigte ähnlich einem Apostel, aber ohne Auftrag verkündet, und welches „Wort“ berichtet er weiter? (Mk 1,45)
- Warum hält sich der Gereinigte anscheinend auch nicht an das Opferungsgebot im Widerspruch zu seinem Reinigungswunsch?
- Warum kann Jesus nicht mehr in eine Stadt gehen? (Mk 1,45)
- Was ist das Ziel von Markus' Darstellung?
3) Zur ersten Frage (Warum dreht sich
die Erzählung um die Reinigung und nicht um die Heilung?) hat Oliver Achilles zweifellos zutreffende Antworten gefunden, indem er die
Erzählung vor dem Hintergrund von Levitikus 13 ausgelegt hat. Diese
Erläuterung kann sich auf den Markustext selbst stützen, da in Mk 1,44
auf die „Verordnungen“ von Mose verwiesen wird. Man kann hier
sicherlich darauf vertrauen, dass Markus dieses Wissen und Verstehen
bei seinen antiken Lesern vorausgesetzt hat und voraussetzen konnte.
Der erste Teil der zweiten Frage (Woher
weiß der Aussätzige von Jesu Können?) ist wohl eher weniger
problematisch. Jesus' „Ruf“ ist ihm zumindest nach Mk 1,28 schon
in ganz Galiläa vorausgeeilt. Der zweite Teil der Frage (Wieso
zweifelt der Aussätzige am guten Willen von Jesus?) bleibt indes
ungeklärt.
Den zweiten Teil der sechsten Frage
(Welches „Wort“ verbreitet der Aussätzige?) würde ich mir
zutrauen, ohne größere Zweifel, aber entgegen der wohl herrschenden
Auffassung zu beantworten. Diese geht davon aus, dass der Aussätzige
die „ganze Geschichte“ weitererzählt. Bei Markus heißt es
jedoch ausdrücklich, dass er das „Wort“ bzw. das „Gesagte“
(τὸν λόγον - ton logon) weiterberichtet. Meines Erachtens
kann es sich dabei nur um Jesus Aussage „Ich will“ handeln, also
seine geäußerte Bereitwilligkeit, eine „Reinigung“ vorzunehmen.
Der erste Teil dieser Frage bleibt gleichwohl unbeantwortet.
Schließlich glaube ich, dass ich
zumindest einen kleinen Teil des Sinngehalts der gesamten Erzählung
erahne. In Mk 1,27 stellen die Synagogenbesucher fest, dass Jesus den
unreinen Geistern gebietet und diese auf ihn „hören“ bzw. ihm
„gehorchen“. Markus verwendet für dieses Gehorchen das Wort
ὑπακούουσιν (hypakouousin), dass sich auch tatsächlich
vom Wortstamm „Hören“ herleitet. Ein Anliegen des Textes dürfte daher der
Vergleich zwischen den unreinen Geistern und dem gereinigten
Aussätzigen sein, der wohl auch zu diesem „Vergleichszweck“ wie
ein Dämon behandelt wird. Die unreinen Geister scheinen auf Jesus zu
hören, der gereinigte Aussätzige tut dies zweifellos nicht.
4) Alle übrigen Fragen bleiben im
Grunde ungeklärt. Sicherlich kann man zu diesen gute und sinnvolle
Antworten finden und versuchen, ein wenig mehr Licht ins Dunkel zu
bringen. Aber wirklich gewiss kann man sich dieser Antworten wohl
eher nicht sein.
Es ist eine ganze Menge, die da offen
bleibt und sich einem Verständnis widersetzt.
Tja …
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