1) Plötzlich und nur für einen
kleinen Moment taucht ein Mann im Markusevangelium auf, der auf dem
Weg zur Kreuzigung das Kreuz von Jesus nimmt. Wir erhalten vier
weitere Informationen über ihn, deren Nebeneinander und Reihenfolge
etwas überrascht:
Aktuelle Tätigkeit: Er geht vorbei
Name: Simon Kyrenäer
Kommt woher: Vom ἀγροῦ (agrou),
meist mit „Feld“ übersetzt
Familie: Vater von Alexander und
Rufus
via jesusistheword.org |
(Nur am Rande: Diesen Nordafrikaner aus
Libyen in Passionsdarstellungen als Schwarzen abzubilden, scheint mir
zwar keine von Markus beabsichtigte und geografisch etwas unrichtige,
ansonsten aber sehr gelungene humanistische Botschaft zu sein.)
Hans Thüsing übersetzt Markus 15,21
wie folgt: „Sie zwingen einen, der vorbeigeht, Simon von Zyrene,
der vom Felde kommt, den Vater des Alexander und des Rufus, sein
Kreuz zu tragen.“
Im vorliegenden Beitrag interessiert
mich nur das griechische Wort ἀγρός (agros), das in Markus
15,21 regelmäßig mit „Feld“ übersetzt wird. Es wird im
Markusevangelium insgesamt 8 Mal verwendet. Jeder kennt dieses Wort.
Es ist das „Agrar“ in Agrarwirtschaft oder Agrargenossenschaft.
In der Septuaginta wird es meist im Sinne von „Feld“ oder „Acker“
verwendet. Die Übersetzung mit „Feld“ ist in drei Versen des
Markusevangeliums jedoch ausgeschlossen, nämlich in Markus 5,14;
6,36 und 6,56. Grund genug, sich über dieses Wort Gedanken zu machen
und zu prüfen, ob das Verständnis des Wortes als „Feld“ auch
für die anderen Verse eher ungeeignet ist und der Absicht von Markus
widerspricht.
Man könnte meinen, dass es eigentlich
egal sei, ob Simon gerade vom Feld kommt oder vom Tempel oder -
meinetwegen auch - vom Frühschoppen. Aber für mich hat sich mit
diesem kleinen Wörtchen eine neue Sicht auf das Markusevangelium
erschlossen und Dinge, denen ich bislang wenig Beachtung schenkte,
sind plötzlich mitten ins Zentrum gerückt.
2) Zunächst eine Übersicht zu allen 8
Stellen in sieben unterschiedlichen Übersetzungen (Hans Thüsing,
Offene Bibel, Luther, Elberfelder, Einheitsübersetzung, Schlachter
2000, DhaBaR-Übersetzung)
x | 5:14 | 6:36 | 6:56 | 10:29 | 10:30 | 11:8 | 13:16 | 15:21 |
HansThüsing | Gehöfte | Gehöfte | Gehöfte | Äcker | Äcker | Felder | Feld | Felde |
OffeneBibel | Land | Bauernhöfe | Bauernhöfe | Felder | Felder | Felder | Feld | Feld |
Luther | Lande | Höfe | Höfe | Äcker | Äcker | Felder | Feld | Feld |
Elberfelder | Land | Höfe | Gehöfte | Äcker | Äcker | Felder | Feld | Feld |
EinheitsÜb | Dörfer | Gehöft | Gehöfte | Äcker | Äcker | Felder | Feld | Feld |
Schlachter | Land | Höfe | Gehöfte | Äcker | Äcker | Bäume | Feld | Feld |
DhaBaR | Feldorte | Feldorte | Feldorte | Felder | Felder | Felder | Feld | Feld |
Mein Eindruck ist, dass sich alle
Übersetzer an die eigentliche Bedeutung „Feld“ bzw. „Acker“
gehalten haben, sofern der Kontext dem nicht widersprach (den
„Ausreißer“ Schlachter 2000 zu Mk 11:8 mal außen vor, er beruht
wohl auf der Textvariante „δενδρων“ statt „ἀγρῶν“).
Für die drei kritischen Verse, aber auch bei der Entscheidung
zwischen „Feld“ und „Acker“ scheint hingegen der jeweils
passendste Begriff für jeden Vers gesucht worden zu sein. Etwas
kritisch kann man sicher sehen, dass hier für ein einziges Wort im
Griechischen auch bei renomierten Übersetzungen bis zu vier oder
sogar fünf unterschiedliche deutsche Begriffe verwendet wurden. Ein
Sinnzusammenhang – so er denn besteht – geht dabei unweigerlich
verloren.
Beginnen wir zunächst mit Markus 5,14;
6,36 und 6,56.
3) ἀγρός (agros) als Ansiedlung
bzw. menschlicher Aufenthaltsort in Unterscheidung zu Stadt und Dorf
Der eindeutigste Vers ist insoweit Mk
6,56 (alle Zitate hier nach der Offenen Bibel): „Und wo er auch
hinging, in Dörfer, in Städte oder in Bauernhöfe (ἀγροὺς -
agrous), legten sie die Kranken auf die Marktplätze und baten ihn
darum, dass auch nur die Quaste (den Saum) seines Gewandes berühren
zu dürfen. Und alle, die ihn berührten, wurden geheilt.“
Vers Mk 6,36 unterscheidet zwischen
Dörfern und ἀγροὺς (agrous): „35 Und als die Stunde schon
spät geworden war, kamen seine Jünger zu ihm und sagten: 'Diese
Gegend ist abgelegen und die Stunde ist schon spät – 36
verabschiede die Leute doch, damit sie zu den umliegenden Bauernhöfen
(ἀγροὺς - agrous) und Dörfern gehen und sich etwas zu essen
kaufen.'“
In Vers Mk 5,14 ist es die „Stadt“,
die von den ἀγροὺς (agrous) unterschieden wird: „Und die
Hirten flohen und berichteten davon in Stadt und Land (ἀγροὺς
- agrous). Da machten die Leute sich auf den Weg, um mit eigenen
Augen zu sehen, was da geschehen war.“
Zusammenfassend kann man sicher sagen,
dass der Begriff ἀγρός (agros) in diesen drei Versen zum einen
als eine bestimmte Form eines menschlichen Siedlungsortes vorgestellt
und zum anderen von „Stadt“ und „Dorf“ unterschieden wird.
Der landwirtschaftliche Bezug des Wortes kommt bei den „Bauernhöfen“
der Offenen Bibel besonders gut zur Geltung, findet sich aber auch in
den „Gehöften“ und „Höfen“. Die „Feldorte“ der
DhaBaR-Übersetzung sind zwar schön konkordant, wirken aber eher
nichtssagend und treffen die Bedeutung des Wortes in diesen Versen
(als menschliche Ansiedlung bzw. Aufenthaltsort von Menschen) eher
nicht. Aus diesem Grund würde ich auch in Mk 5,14 die Übersetzung
„Land“ weniger favorisieren.
4) ἀγρός (agros) als materielle
Lebensgrundlage des Familienhaushalts
Markus verwendet den Begriff erst
wieder ab dem 10. Kapitel und nun in einem anderen Zusammenhang, der
auf den ersten Blick nicht deutlich ist. Ich will zunächst die Verse
Markus 10,29-30 und 13,16 in ihrem Kontext anführen:
Mk 10,28-30 (nach der Erzählung vom
reichen Mann)
28 Petrus sagte zu ihm: „Siehe, wir
haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ 29 Jesus sagte:
„Amen, ich sage euch: Es gibt niemanden, der Haus (οἰκίαν -
oikian) oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder
Kinder oder Felder (ἀγροὺς – agrous) wegen mir und wegen
des Evangeliums zurückgelassen hat, 30 der nicht das Hundertfache
bekommen wird: jetzt, in dieser Zeit, Häuser (οἰκίας -
oikias) und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Felder
(ἀγροὺς – agrous), wenn auch unter Verfolgungen, und im
kommenden Zeitalter ewiges Leben.
Mk 13,12-17
12 Und Ausliefern wird ein Bruder
seinen Bruder in den Tod und ein Vater sein Kind, und erheben werden
sich Kinder gegen ihre Eltern und töten werden sie sie. 13 Und ihr
werdet von allen gehasst werden wegen meines Namens. Der aber, der
bis zum Ende standhaft bleibt, wird gerettet werden. 14 Wenn ihr dann
aber den Gräuel der Verwüstung stehen seht, wo er nicht soll –
der Leser sei aufmerksam! –, dann sollen die in Judäa in die Berge
fliehen. 15 Wer auf dem Dach ist, soll nicht hinabsteigen, um
hineinzugehen, um etwas aus seinem Haus (οἰκίας - oikias) zu
holen; 16 und wer auf dem Feld (ἀγρὸν - agron) ist, soll nicht
zurückkehren, um sein Obergewand zu holen. 17 Aber Wehe denen, die
in jenen Tagen schwanger sind oder stillen!
Beide Textstellen haben auf den ersten
Blick nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun. Gleichwohl begegnen
uns in beiden neben dem Begriff ἀγρός (agros) auch das Wort
„Haus“ und der Bezug zur „Familie“.
4.1) Hilfreich erweisen sich meines
Erachtens zunächst die Verse Mk 10,29-10,30 mit der Dreiheit
Haus-Familienmitglieder-ἀγρός (agros).
Die Auslegung der Verse im Hinblick auf die Familienmitglieder erscheint im Licht von Mk 3,33-35 („Jesus wahre Verwandte“) eher unproblematisch: „Und er antwortete ihnen und sagte: 'Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?' 34 Und während er der Reihe nach alle anschaute, die rings um ihn saßen, sagte er: 'Siehe, meine Mutter und meine Geschwister! 35 Denn wer immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.'“ Die Aussage in Mk 10,29-30 liegt hier sicherlich auf der Hand: Wer seine biologische Familie um der christlichen Botschaft willen verlässt, wird eine neue Familie unter Glaubensgeschwistern finden.
Die Auslegung der Verse im Hinblick auf die Familienmitglieder erscheint im Licht von Mk 3,33-35 („Jesus wahre Verwandte“) eher unproblematisch: „Und er antwortete ihnen und sagte: 'Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?' 34 Und während er der Reihe nach alle anschaute, die rings um ihn saßen, sagte er: 'Siehe, meine Mutter und meine Geschwister! 35 Denn wer immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.'“ Die Aussage in Mk 10,29-30 liegt hier sicherlich auf der Hand: Wer seine biologische Familie um der christlichen Botschaft willen verlässt, wird eine neue Familie unter Glaubensgeschwistern finden.
Während die Nennung der
Familienmitglieder in Mk 10,29-30 eher auf den zwischenmenschlichen
und emotionalen Austausch und Zusammenhalt der Familie abstellt,
reflektiert „Haus“ hier wohl die Wohnstätte, den Ort der
Begegnung mit Freunden und Gästen sowie die wirtschaftliche
Haushaltsführung der Familie.
Wenn wir versuchen, dem Begriff ἀγρός
(agros) nun einen präzisen Sinn im Hinblick auf die Familie zu
geben, so können damit nur die landwirtschaftlich genutzten
Ländereien – egal welcher Größe - gemeint sein, die die
materielle Lebensgrundlage der meisten antiken Familien darstellten.
Es ist der Ort, an dem Haushalts- und Familienmitglieder arbeiten
und/oder finanziellen Gewinn zum Zwecke der Haushaltsführung und des
Familienlebens schöpfen. Die Übersetzung mit „Äcker“ scheint
bezogen allein auf die Verse 10,29-30 wohl noch treffender als
Felder.
4.2) In gleicher Weise wird die Familie
auch in den Versen Mk 13,12-17 in den Blick genommen.
Hier nun mit der Prophezeiung, dass in den „endzeitlichen Wehen“ und den damit einhergehenden Kriegen und Verfolgungen der zwischenmenschliche Zusammenhalt der Familie gänzlich verloren geht und „Häuser“ sowie „Ländereien“ bei der Flucht in die Berge aufgegeben werden müssen.
Die „Familie“, so wie sie in der
Antike bestand, wird nach der Ansage des markinischen Jesus in Mk
13,12-17 zerstört werden.
(Vers 11,8 lasse ich wegen der
textkritischen Probleme und des richtigen Verständnisses des Wortes
„στιβάδας“ in diesem Beitrag zunächst außen vor, will
jedoch kurz darauf hinweisen, dass auch dort der Familienbezug nicht
fehlt: Mk 11,10 „Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters
David!“)
4.3) Was will Markus mit dieser
Thematisierung des Begriffes sagen?
Anfänglich ist der ἀγρός (agros)
bei Markus eine Ansiedlung, in die zunächst die Kunde vom heilsamen
Wirken Jesus dringt (Mk 5,14) und in der er dann selbst Rettung
bewirkt (Mk 6,56). Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird der ἀγρός
(agros) als materielle Lebensgrundlage der Familie in den Blick
genommen, die es für das Evangelium zu verlassen gilt (Mk 10,29-30)
und die in den Endzeitwirren zwangsläufig verlassen wird (Mk 13,16).
Meinem Eindruck nach wollte Markus
darauf verweisen, dass die Verkündung des Evangeliums Jesus (nicht
nur in Städte und Dörfer, sondern) auch auf jene Ländereien
führte, die die Lebensgrundlage der antiken Familien darstellten,
und dass das Evangelium von dort aus gleichsam an den Grundfesten der
traditionellen Familie „rüttelt“ und innerfamiliäre Spannungen
hervorruft, die den einzelnen Gläubigen in seinen sozialen und
wirtschaftlichen Beziehungen vor ernsthafte Probleme stellt.
Markus thematisiert diesbezüglich
nicht die großflächige Ausbreitung des christlichen Glaubens über
Städte und Ländergrenzen im Mittelmeerraum hinweg, sondern erörtert
- gleichsam mit dem Mikroskop – vor welche privaten Probleme das
einzelne Individuum bei der Annahme des Glaubens gestellt ist. Was
sagt meine Familie zu mir und meinem neuen Glauben und wo finde ich
persönlichen Halt, wenn die Familie mit mir bricht oder ich mit der Familie? Kann ich meine
Glaubensgeschwister im Haus meiner Familie empfangen und wo komme ich
selbst unter, wenn ich meine Familie verlasse? Wie vereinbare ich
meine Arbeit mit meinem neuen Glauben und wie kann ich mich ernähren
und mein Leben bestreiten, wenn mir die finanzielle Lebensgrundlage,
die in die familiären Beziehungen eingebettet ist, aufgrund meines
Glaubens entzogen ist?
Nicht unerwartet ist die Antwort des
markinischen Jesus „radikal“: Mk 10,30 “Es gibt niemanden, … der nicht
das Hundertfache bekommen wird: jetzt, in dieser Zeit, Häuser
(οἰκίας - oikias) und Brüder und Schwestern und Mütter und
Kinder und Felder (ἀγροὺς – agrous) ...“
5) Simon von Kyrene
Er heißt „Simon Kyrenäer, kommend
vom ἀγροῦ (agrou), der Vater Alexanders und Rufus' ...“.
Auch in Mk 15,21 taucht ἀγρός
(agros) im Kontext von Familienverhältnissen auf („Vater von
...“).
Wenn die – auf den ersten Blick
überflüssige – Bemerkung in Mk 15,21, dass Simon vom ἀγροῦ
(agrou) kommt, und die Problematisierung dieses Begriffes im
Markusevangelium einen Sinn ergibt, so – denke ich jedenfalls –
kann es nur dieser sein:
Simon kommt von jenen Ländereien, in
denen das Evangelium verkündet wurde, von denen es ausgehend
familiäre Spannungen und Zerwürfnisse bewirkt und die es, obwohl
diese Ländereien die Lebensgrundlage darstellen, in der Nachfolge
Jesu zu verlassen gilt. Es ist das Wort, dass Jesus zu dem reichen
Mann in Mk 10,21 sagt: „Jesus aber sah ihn an und gewann ihn lieb,
und er sagte zu ihm: 'Eins fehlt dir: Geh, verkaufe alles, was du
hast, und gib den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben.
Und komm, folge mir nach!'“ Wer den ἀγρός (agros) für das
Evangelium verließ, gab die herkömmliche wirtschaftliche
Lebensgrundlage auf.
Hat Simon das getan? Sein „Kommen“
vom ἀγροῦ (agrou) könnte implizieren, dass er ihn im Sinne
von Mk 10,29 „verlassen“ hat, muss es aber nicht. Der Vers sagt
dies nicht ausdrücklich.
P.S. Das deutsche Wort „Landgut“
scheint mir übrigens geeignet, alle Bedeutungsnuancen von ἀγρός
(agros) im Markusevangelium abzudecken.
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