Donnerstag, 12. Februar 2015

Woher kam eigentlich Simon von Kyrene? Vom Feld?


1) Plötzlich und nur für einen kleinen Moment taucht ein Mann im Markusevangelium auf, der auf dem Weg zur Kreuzigung das Kreuz von Jesus nimmt. Wir erhalten vier weitere Informationen über ihn, deren Nebeneinander und Reihenfolge etwas überrascht:

Aktuelle Tätigkeit:        Er geht vorbei
Name:                         Simon Kyrenäer
Kommt woher:             Vom ἀγροῦ (agrou), meist mit „Feld“ übersetzt
Familie:                       Vater von Alexander und Rufus

via jesusistheword.org
(Nur am Rande: Diesen Nordafrikaner aus Libyen in Passionsdarstellungen als Schwarzen abzubilden, scheint mir zwar keine von Markus beabsichtigte und geografisch etwas unrichtige, ansonsten aber sehr gelungene humanistische Botschaft zu sein.)

Hans Thüsing übersetzt Markus 15,21 wie folgt: „Sie zwingen einen, der vorbeigeht, Simon von Zyrene, der vom Felde kommt, den Vater des Alexander und des Rufus, sein Kreuz zu tragen.

Im vorliegenden Beitrag interessiert mich nur das griechische Wort ἀγρός (agros), das in Markus 15,21 regelmäßig mit „Feld“ übersetzt wird. Es wird im Markusevangelium insgesamt 8 Mal verwendet. Jeder kennt dieses Wort. Es ist das „Agrar“ in Agrarwirtschaft oder Agrargenossenschaft. In der Septuaginta wird es meist im Sinne von „Feld“ oder „Acker“ verwendet. Die Übersetzung mit „Feld“ ist in drei Versen des Markusevangeliums jedoch ausgeschlossen, nämlich in Markus 5,14; 6,36 und 6,56. Grund genug, sich über dieses Wort Gedanken zu machen und zu prüfen, ob das Verständnis des Wortes als „Feld“ auch für die anderen Verse eher ungeeignet ist und der Absicht von Markus widerspricht.

Man könnte meinen, dass es eigentlich egal sei, ob Simon gerade vom Feld kommt oder vom Tempel oder - meinetwegen auch - vom Frühschoppen. Aber für mich hat sich mit diesem kleinen Wörtchen eine neue Sicht auf das Markusevangelium erschlossen und Dinge, denen ich bislang wenig Beachtung schenkte, sind plötzlich mitten ins Zentrum gerückt.


2) Zunächst eine Übersicht zu allen 8 Stellen in sieben unterschiedlichen Übersetzungen (Hans Thüsing, Offene Bibel, Luther, Elberfelder, Einheitsübersetzung, Schlachter 2000, DhaBaR-Übersetzung)

x 5:14 6:36 6:56 10:29 10:30 11:8 13:16 15:21
HansThüsing Gehöfte Gehöfte Gehöfte Äcker Äcker Felder Feld Felde
OffeneBibel Land Bauernhöfe Bauernhöfe Felder Felder Felder Feld Feld
Luther Lande Höfe Höfe Äcker Äcker Felder Feld Feld
Elberfelder Land Höfe Gehöfte Äcker Äcker Felder Feld Feld
EinheitsÜb Dörfer Gehöft Gehöfte Äcker Äcker Felder Feld Feld
Schlachter Land Höfe Gehöfte Äcker Äcker Bäume Feld Feld
DhaBaR Feldorte Feldorte Feldorte Felder Felder Felder Feld Feld

Mein Eindruck ist, dass sich alle Übersetzer an die eigentliche Bedeutung „Feld“ bzw. „Acker“ gehalten haben, sofern der Kontext dem nicht widersprach (den „Ausreißer“ Schlachter 2000 zu Mk 11:8 mal außen vor, er beruht wohl auf der Textvariante „δενδρων“ statt „ἀγρῶν“). Für die drei kritischen Verse, aber auch bei der Entscheidung zwischen „Feld“ und „Acker“ scheint hingegen der jeweils passendste Begriff für jeden Vers gesucht worden zu sein. Etwas kritisch kann man sicher sehen, dass hier für ein einziges Wort im Griechischen auch bei renomierten Übersetzungen bis zu vier oder sogar fünf unterschiedliche deutsche Begriffe verwendet wurden. Ein Sinnzusammenhang – so er denn besteht – geht dabei unweigerlich verloren.

Beginnen wir zunächst mit Markus 5,14; 6,36 und 6,56.

3) ἀγρός (agros) als Ansiedlung bzw. menschlicher Aufenthaltsort in Unterscheidung zu Stadt und Dorf

Der eindeutigste Vers ist insoweit Mk 6,56 (alle Zitate hier nach der Offenen Bibel): „Und wo er auch hinging, in Dörfer, in Städte oder in Bauernhöfe (ἀγροὺς - agrous), legten sie die Kranken auf die Marktplätze und baten ihn darum, dass auch nur die Quaste (den Saum) seines Gewandes berühren zu dürfen. Und alle, die ihn berührten, wurden geheilt.

Vers Mk 6,36 unterscheidet zwischen Dörfern und ἀγροὺς (agrous): „35 Und als die Stunde schon spät geworden war, kamen seine Jünger zu ihm und sagten: 'Diese Gegend ist abgelegen und die Stunde ist schon spät – 36 verabschiede die Leute doch, damit sie zu den umliegenden Bauernhöfen (ἀγροὺς - agrous) und Dörfern gehen und sich etwas zu essen kaufen.'

In Vers Mk 5,14 ist es die „Stadt“, die von den ἀγροὺς (agrous) unterschieden wird: „Und die Hirten flohen und berichteten davon in Stadt und Land (ἀγροὺς - agrous). Da machten die Leute sich auf den Weg, um mit eigenen Augen zu sehen, was da geschehen war.

Zusammenfassend kann man sicher sagen, dass der Begriff ἀγρός (agros) in diesen drei Versen zum einen als eine bestimmte Form eines menschlichen Siedlungsortes vorgestellt und zum anderen von „Stadt“ und „Dorf“ unterschieden wird. Der landwirtschaftliche Bezug des Wortes kommt bei den „Bauernhöfen“ der Offenen Bibel besonders gut zur Geltung, findet sich aber auch in den „Gehöften“ und „Höfen“. Die „Feldorte“ der DhaBaR-Übersetzung sind zwar schön konkordant, wirken aber eher nichtssagend und treffen die Bedeutung des Wortes in diesen Versen (als menschliche Ansiedlung bzw. Aufenthaltsort von Menschen) eher nicht. Aus diesem Grund würde ich auch in Mk 5,14 die Übersetzung „Land“ weniger favorisieren.


4) ἀγρός (agros) als materielle Lebensgrundlage des Familienhaushalts

Markus verwendet den Begriff erst wieder ab dem 10. Kapitel und nun in einem anderen Zusammenhang, der auf den ersten Blick nicht deutlich ist. Ich will zunächst die Verse Markus 10,29-30 und 13,16 in ihrem Kontext anführen:

Mk 10,28-30 (nach der Erzählung vom reichen Mann)
28 Petrus sagte zu ihm: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ 29 Jesus sagte: „Amen, ich sage euch: Es gibt niemanden, der Haus (οἰκίαν - oikian) oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Felder (ἀγροὺς – agrous) wegen mir und wegen des Evangeliums zurückgelassen hat, 30 der nicht das Hundertfache bekommen wird: jetzt, in dieser Zeit, Häuser (οἰκίας - oikias) und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Felder (ἀγροὺς – agrous), wenn auch unter Verfolgungen, und im kommenden Zeitalter ewiges Leben.

Mk 13,12-17
12 Und Ausliefern wird ein Bruder seinen Bruder in den Tod und ein Vater sein Kind, und erheben werden sich Kinder gegen ihre Eltern und töten werden sie sie. 13 Und ihr werdet von allen gehasst werden wegen meines Namens. Der aber, der bis zum Ende standhaft bleibt, wird gerettet werden. 14 Wenn ihr dann aber den Gräuel der Verwüstung stehen seht, wo er nicht soll – der Leser sei aufmerksam! –, dann sollen die in Judäa in die Berge fliehen. 15 Wer auf dem Dach ist, soll nicht hinabsteigen, um hineinzugehen, um etwas aus seinem Haus (οἰκίας - oikias) zu holen; 16 und wer auf dem Feld (ἀγρὸν - agron) ist, soll nicht zurückkehren, um sein Obergewand zu holen. 17 Aber Wehe denen, die in jenen Tagen schwanger sind oder stillen!

Beide Textstellen haben auf den ersten Blick nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun. Gleichwohl begegnen uns in beiden neben dem Begriff ἀγρός (agros) auch das Wort „Haus“ und der Bezug zur „Familie“.

4.1) Hilfreich erweisen sich meines Erachtens zunächst die Verse Mk 10,29-10,30 mit der Dreiheit Haus-Familienmitglieder-ἀγρός (agros).

Die Auslegung der Verse im Hinblick auf die Familienmitglieder erscheint im Licht von Mk 3,33-35 („Jesus wahre Verwandte“) eher unproblematisch: „Und er antwortete ihnen und sagte: 'Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?' 34 Und während er der Reihe nach alle anschaute, die rings um ihn saßen, sagte er: 'Siehe, meine Mutter und meine Geschwister! 35 Denn wer immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.'“ Die Aussage in Mk 10,29-30 liegt hier sicherlich auf der Hand: Wer seine biologische Familie um der christlichen Botschaft willen verlässt, wird eine neue Familie unter Glaubensgeschwistern finden.

Während die Nennung der Familienmitglieder in Mk 10,29-30 eher auf den zwischenmenschlichen und emotionalen Austausch und Zusammenhalt der Familie abstellt, reflektiert „Haus“ hier wohl die Wohnstätte, den Ort der Begegnung mit Freunden und Gästen sowie die wirtschaftliche Haushaltsführung der Familie.

Wenn wir versuchen, dem Begriff ἀγρός (agros) nun einen präzisen Sinn im Hinblick auf die Familie zu geben, so können damit nur die landwirtschaftlich genutzten Ländereien – egal welcher Größe - gemeint sein, die die materielle Lebensgrundlage der meisten antiken Familien darstellten. Es ist der Ort, an dem Haushalts- und Familienmitglieder arbeiten und/oder finanziellen Gewinn zum Zwecke der Haushaltsführung und des Familienlebens schöpfen. Die Übersetzung mit „Äcker“ scheint bezogen allein auf die Verse 10,29-30 wohl noch treffender als Felder.

4.2) In gleicher Weise wird die Familie auch in den Versen Mk 13,12-17 in den Blick genommen.

Hier nun mit der Prophezeiung, dass in den „endzeitlichen Wehen“ und den damit einhergehenden Kriegen und Verfolgungen der zwischenmenschliche Zusammenhalt der Familie gänzlich verloren geht und „Häuser“ sowie „Ländereien“ bei der Flucht in die Berge aufgegeben werden müssen.

Die „Familie“, so wie sie in der Antike bestand, wird nach der Ansage des markinischen Jesus in Mk 13,12-17 zerstört werden.

(Vers 11,8 lasse ich wegen der textkritischen Probleme und des richtigen Verständnisses des Wortes „στιβάδας“ in diesem Beitrag zunächst außen vor, will jedoch kurz darauf hinweisen, dass auch dort der Familienbezug nicht fehlt: Mk 11,10 „Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David!“)

4.3) Was will Markus mit dieser Thematisierung des Begriffes sagen?

Anfänglich ist der ἀγρός (agros) bei Markus eine Ansiedlung, in die zunächst die Kunde vom heilsamen Wirken Jesus dringt (Mk 5,14) und in der er dann selbst Rettung bewirkt (Mk 6,56). Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird der ἀγρός (agros) als materielle Lebensgrundlage der Familie in den Blick genommen, die es für das Evangelium zu verlassen gilt (Mk 10,29-30) und die in den Endzeitwirren zwangsläufig verlassen wird (Mk 13,16).

Meinem Eindruck nach wollte Markus darauf verweisen, dass die Verkündung des Evangeliums Jesus (nicht nur in Städte und Dörfer, sondern) auch auf jene Ländereien führte, die die Lebensgrundlage der antiken Familien darstellten, und dass das Evangelium von dort aus gleichsam an den Grundfesten der traditionellen Familie „rüttelt“ und innerfamiliäre Spannungen hervorruft, die den einzelnen Gläubigen in seinen sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen vor ernsthafte Probleme stellt.

Markus thematisiert diesbezüglich nicht die großflächige Ausbreitung des christlichen Glaubens über Städte und Ländergrenzen im Mittelmeerraum hinweg, sondern erörtert - gleichsam mit dem Mikroskop – vor welche privaten Probleme das einzelne Individuum bei der Annahme des Glaubens gestellt ist. Was sagt meine Familie zu mir und meinem neuen Glauben und wo finde ich persönlichen Halt, wenn die Familie mit mir bricht oder ich mit der Familie? Kann ich meine Glaubensgeschwister im Haus meiner Familie empfangen und wo komme ich selbst unter, wenn ich meine Familie verlasse? Wie vereinbare ich meine Arbeit mit meinem neuen Glauben und wie kann ich mich ernähren und mein Leben bestreiten, wenn mir die finanzielle Lebensgrundlage, die in die familiären Beziehungen eingebettet ist, aufgrund meines Glaubens entzogen ist?

Nicht unerwartet ist die Antwort des markinischen Jesus „radikal“: Mk 10,30 “Es gibt niemanden, … der nicht das Hundertfache bekommen wird: jetzt, in dieser Zeit, Häuser (οἰκίας - oikias) und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Felder (ἀγροὺς – agrous) ...

5) Simon von Kyrene

Er heißt „Simon Kyrenäer, kommend vom ἀγροῦ (agrou), der Vater Alexanders und Rufus' ...“.

Auch in Mk 15,21 taucht ἀγρός (agros) im Kontext von Familienverhältnissen auf („Vater von ...“).

Wenn die – auf den ersten Blick überflüssige – Bemerkung in Mk 15,21, dass Simon vom ἀγροῦ (agrou) kommt, und die Problematisierung dieses Begriffes im Markusevangelium einen Sinn ergibt, so – denke ich jedenfalls – kann es nur dieser sein:

Simon kommt von jenen Ländereien, in denen das Evangelium verkündet wurde, von denen es ausgehend familiäre Spannungen und Zerwürfnisse bewirkt und die es, obwohl diese Ländereien die Lebensgrundlage darstellen, in der Nachfolge Jesu zu verlassen gilt. Es ist das Wort, dass Jesus zu dem reichen Mann in Mk 10,21 sagt: „Jesus aber sah ihn an und gewann ihn lieb, und er sagte zu ihm: 'Eins fehlt dir: Geh, verkaufe alles, was du hast, und gib den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Und komm, folge mir nach!'“ Wer den ἀγρός (agros) für das Evangelium verließ, gab die herkömmliche wirtschaftliche Lebensgrundlage auf.

Hat Simon das getan? Sein „Kommen“ vom ἀγροῦ (agrou) könnte implizieren, dass er ihn im Sinne von Mk 10,29 „verlassen“ hat, muss es aber nicht. Der Vers sagt dies nicht ausdrücklich.

P.S. Das deutsche Wort „Landgut“ scheint mir übrigens geeignet, alle Bedeutungsnuancen von ἀγρός (agros) im Markusevangelium abzudecken.

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