1) Um mich der Gestalt des blinden
Bartimäus anzunähern, beginne ich mit der ersten „Blinden“-Heilung,
die eine der dunkelsten und geheimnisvollsten Begebenheiten im
Markusevangelium ist. Eingangs einige Beobachtungen:
via shelaughs.org |
Die Szene Mk 8,22ff spielt in
Bethsaida. Jesus hatte die Jünger bereits in Mk 6,45 „angetrieben“,
ohne ihn über das „Meer“ nach Bethsaida überzusetzen. Wegen
eines „Windes“ kamen die Jünger (immerhin geübte Fischer) aber
vom Kurs ab und landeten in Genessaret an. In Mk 8,13 soll es erneut
„hinüber“ gehen, aber die Jünger diskutieren, dass sie „kein
Brot“ dabei hätten. Jesus wirft ihnen nun vor, dass sie ihr Herz
„versteinerten“ (πεπωρωμένην). Es erscheint
überlegenswert, ob die Jünger etwa absichtlich nicht nach Bethsaida
wollen.
In Bethsaida bringt man einen Blinden
zu Jesus mit der Bitte, diesen „anzurühren“. Jesus wird ihn
jedoch nicht „anrühren“, sondern ihm die „Hände auflegen“.
Bei der Heilung des Taubstummen in Mk 7,31ff war es umgekehrt. Die
Leute baten, dass Jesus ihm die „Hände auflege“, aber Jesus
„rührte an“ seine Zunge.
Jesus führt den Blinden aus Bethsaida
heraus, nachdem er seine Hand ergriffen hat. Er fragt ihn, ob er
etwas erblicke, nachdem er ihm in die Augen (ὄμματα - ommata)
gespuckt (moderne Übersetzungen vermeiden es gern, dies deutlich zu
machen; lobenswert die „Offene Bibel“) und die Hände aufgelegt
hat. Eine Vielzahl von Kommentatoren geht davon aus, dass das
Wegführen aus Bethsaida dazu dient, die Heilung nicht öffentlich
vor Publikum geschehen zu lassen. Dagegen legt Mk 8,26 („Geh nicht
hinein in das Dorf“) aber nahe, dass mit Bethsaida an sich „etwas
nicht stimmt“.
Die Reaktion des Blinden auf Jesus´
Frage ist wörtlich wie folgt beschrieben:
καὶ | ἀναβλέψας | ἔλεγεν | Βλέπω | τοὺς | ἀνθρώπους | ὅτι | ὡς | δένδρα | ὁρῶ | περιπατοῦντας |
und | aufblickend | (er) sagte | (Ich) erblicke | die | Menschen | dass | wie | Bäume | (ich) sehe | (sie) umhergehen |
Jesus legt seine Hände erneut auf die
Augen (ὀφθαλμοὺς - ophthalmous) des Blinden, der alsdann
„durchblickt“, wiederhergestellt ist und alles "fernsichtig" (so
wörtlich τηλαυγῶς – télaugós) anblickt.
Beachtlich scheint in Mk 8,22ff auch
der Gebrauch zweier unterschiedlicher Wörter für Augen, nämlich
ὄμματα (ommata) und ὀφθαλμοὺς (ophthalmous). Wenn
man davon ausgeht, dass Markus nicht nur zwei Synonyme verwendete,
sondern einen Unterschied andeuten wollte, dann wäre es nahe
liegend, das erste Wort eher im übertragenen Sinn zu deuten und das
zweite tatsächlich als das biologische Sehorgan zu verstehen. Dazu
kommen unterschiedliche Verben für „sehen“. In den Grundformen
sind es βλέπω (blepó) und ὁράω
(horaó). Zur Unterscheidung habe ich ersteres vorläufig mit
„blicken“ und letzteres mit „sehen“ übersetzt.
2) Die Antwort des Blinden ist aus
mehreren Gründen erstaunlich. Man würde bei einem naturalistischen
Verständnis der Szene zunächst erwarten, dass der Blinde antwortet:
„Ja, aber undeutlich“. Oder das er Jesus selbst verschwommen
sieht und dies bekundet. Oder das er voller Begeisterung über einen
– wenn auch trüben – Lichtschein in Freudenrufe ausbricht. Oder …
Er erblickt jedoch nicht Jesus, sondern „die“ Menschen, von denen
wir aus dem Text nicht einmal wissen, ob sie anwesend sind. In Frage
steht, ob er damit gar die Menschheit insgesamt meint oder zumindest
die im Evangelium handelnden Menschen. In Frage steht damit auch der
Charakter der Szene: Beschreibt Markus den Vorgang einer „wirklichen“
Blindenheilung? Hat der Blinde nach dem ersten Handauflegen eine
seherische Vision (wie andere antike Blinde, z.B. Tiresias)? Ist die
Geschichte nur eine gleichnishafte Erzählung?
Um das Befremdliche der Szene zu
relativieren, wird in der Literatur gern auf antike Parallelen
verwiesen. So wird vom Kaiser Vespasian berichtet, der der Legende
nach ebenfalls einen Blinden mit Speichel geheilt habe. Schließlich
liegt der Bericht eines geheilten Blinden aus dem Asklepios-Heiligtum
von Epidauros vor, der als erstes ebenfalls Bäume erblickte.
Letzterer befindet sich neben vielen anderen als Inschrift auf einer
Stele, die man in Epidauros ausgegraben hat und lautet knapp wie
folgt:
„Alketas von Halieis war blind. Er
sah einen Traum: Es träumte ihm, der Gott komme zu ihm und öffne
mit den Fingern seine Augen. Da habe er zuerst die Bäume im
Heiligtum gesehen. Als es Tag geworden war, kam er gesund heraus.“
Interessant ist, dass die Inschrift
ebenfalls die Wörter ὄμματα für Augen und δένδρη für
Bäume verwendet.
Neben diesen oberflächlichen
Parallelen hat die Inschrift von Epidauros mit dem Markusbericht
jedoch wenig gemeinsam. Der Blinde im Markusevangelium träumt nicht
und er sieht auch keine Bäume, sondern „die Menschen“, die wie
Bäume sind. Die Inschrift von Epidauros ist auch nicht befremdlich.
Es erscheint nicht im Ansatz erstaunlich, dass ein im Heiligen Hain
des Asklepios während des Träumens geheilter Blinder zunächst in
diesem Traum die Heiligen Bäume erblickt. Vergleichbar wäre ein in
Lourdes genesener Blinder, der in einer Vision als erstes ein
strahlendes Kreuz oder die Jungfrau Maria sieht. Ein solcher Bericht
kann mit „Omas Küchenpsychologie“ gedeutet werden, während die
Szene im Markusevangelium auf den ersten Blick eher einem
surrealistischen Gemälde von Salvador Dalí entsprungen zu sein
scheint.
3) 1992 veröffentlichte der
Bibelwissenschaftler R.S. Sugirtharajah seinen Aufsatz „Men, Trees
and Walking“. In diesem Aufsatz interpretierte Sugirtharajah die
Antwort des Blinden in Mk 8,24 vor dem Hintergund von Jotams Parabel
aus dem Buch der Richter 9,8ff:
„Die Bäume gingen hin, um einen
König über sich zu salben (Septuaginta: χρῖσαι - chrisai),
und sprachen zum Ölbaum: Sei unser König! Aber der Ölbaum
antwortete ihnen: Soll ich meine Fettigkeit lassen, die Götter und
Menschen an mir preisen, und hingehen, über den Bäumen zu schweben?
Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: Komm du und sei unser König!
Aber der Feigenbaum sprach zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit und
meine gute Frucht lassen und hingehen, über den Bäumen zu schweben?
Da sprachen die Bäume zum Weinstock: Komm du und sei unser König!
Aber der Weinstock sprach zu ihnen: Soll ich meinen Wein lassen, der
Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, über den Bäumen
zu schweben? Da sprachen alle Bäume zum Dornbusch: Komm du und sei
unser König! Und der Dornbusch sprach zu den Bäumen: Ist‘s wahr,
dass ihr mich zum König über euch salben wollt, so kommt und bergt
euch in meinem Schatten; wenn nicht, so gehe Feuer vom Dornbusch aus
und verzehre die Zedern Libanons.“
Der Gedanke lässt sich kurz wie folgt
zusammenfassen: Jesus kam und verkündete die Königsherrschaft
Gottes, aber „die Menschen“ suchen – wie die Bäume in Jotams
Parabel - einen irdischen König und versuchen in ihrer Blindheit aus
Jesus einen solchen König zu machen.
Vor etwa einem Jahr hat sich der
Oxforder Gelehrte David Lincicum der Auffassung von Sugirtharajah
angeschlossen, aber auch die Schwierigkeiten dieser Interpretation
deutlich gemacht: Zwar passt Jotams Parabel aus Richter 9,8ff
thematisch perfekt zu Markus; es bestehen aber keine wörtlichen
Übereinstimmungen zwischen der Septuaginta-Übersetzung von Richter
9,8ff und Markus 8,24 (im Griechischen für das Wort „umhergehen“
in der LXX: πορευόμενα ἐπορεύθησαν, bei Markus:
περιπατοῦντας; das Wort „Bäume“ in der LXX ξύλα
(im engeren Sinn Waldbäume), bei Markus δένδρα (im engeren
Sinn Obstbäume). Vor allem der letztere Wortunterschied ist
erheblich. Markus verwendet das Wort δένδρα (dendra) nur ein
einziges Mal. Wenn er direkt auf Richter 9,8ff anspielen wollte, dann
hätte er wohl unproblematisch ξύλα (xýla) verwenden können.
Die Lösung liegt meines Erachtens
darin, dass Markus nicht allein die Blindheit der Beherrschten,
sondern auch und vor allem die Blindheit der Herrscher und der nach
irdischer Macht Strebenden im Blick hatte. Markus spielte nicht nur
auf einen Text der jüdischen Bibel an, sondern auf zwei. Der zweite
Text ist der Traum des Königs Nebukadnezar, der von Daniel gedeutet
wird (Daniel 4):
„Ich, Nebukadnezar, hatte ... einen
Traum … Siehe, es stand ein Baum (LXX: δένδρον - dendron) in
der Mitte der Erde, der war sehr hoch. Und er wurde groß und mächtig
und seine Höhe reichte bis an den Himmel, und er war zu sehen bis
ans Ende der ganzen Erde … [Daniel:] Ach, mein Herr … Der Baum
(LXX: δένδρον - dendron), den du gesehen hast, … - das bist du,
König, der du so groß und mächtig bist …
Denn nach zwölf Monaten, als der König
auf dem Dach des königlichen Palastes in Babel sich erging
(LXX: περιπατῶν - peripatōn), hob er an und sprach: Das ist das
große Babel, das ich erbaut habe zur Königsstadt durch meine große
Macht zu Ehren meiner Herrlichkeit. Ehe noch der König diese Worte
ausgeredet hatte, kam eine Stimme vom Himmel: Dir, König
Nebukadnezar, wird gesagt: Dein Königreich ist dir genommen, man
wird dich aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen ..., bis du
erkennst, dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der
Menschen und sie gibt, wem er will. Im gleichen Augenblick wurde das
Wort erfüllt an Nebukadnezar, ... Nach dieser Zeit hob ich,
Nebukadnezar, meine Augen auf zum Himmel, und mein Verstand kam mir
wieder und ich lobte den Höchsten. Ich pries und ehrte den, der ewig
lebt, dessen Gewalt ewig ist und dessen Reich für und für währt,
gegen den alle, die auf Erden wohnen, für nichts zu rechnen sind.“
Daniel 4 enthält alle Wörter aus der Antwort des Blinden in Mk 8,24.
4) Im Kontext kann Mk 8,24 daher wie
folgt verstanden werden:
4.1) Das von Markus bevorzugte „Sehen“
setzt zwei Dinge voraus: etwas richtig zu „erblicken“ (1. Stufe)
und alsdann richtig zu „sehen“ (2. Stufe). Dazu Mk 4,12 im
Kontext wörtlich:
Mk 4,11f: „Und er sprach zu ihnen:
Euch ist das Geheimnis der Königsherrschaft Gottes gegeben; denen
aber draußen widerfährt es alles in Gleichnissen,
damit sie blicken (βλέποντες) und mögen erblicken (βλέπωσιν) und doch nicht sehen (ἴδωσιν),
und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.“
damit sie blicken (βλέποντες) und mögen erblicken (βλέπωσιν) und doch nicht sehen (ἴδωσιν),
und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.“
4.2.) Den Jüngern ermangelt es
zunächst bereits an der 1. Stufe. Sie sind also komplett blind. Dazu
Mk 8,18:
„Habt Augen (ὀφθαλμοὺς -
ophthalmous) und erblickt (βλέπετε - blepete) nicht, und habt
Ohren und hört nicht, und denkt nicht daran ...“
4.3.) Mit der Blindenheilung von
Bethsaida erreichen die Jünger nun die 1. Stufe. Sie sind nun wie
„die Menschen“, die wie Bäume einen König salben (LXX-Richter
9,8ff: χρῖσαι – chrisai) wollen. Deshalb erfolgt unmittelbar
nach der Blindenheilung in Mk 8,29 das Christusbekenntnis des Petrus bei Cäsarea Philippi (!!!):
„Da antwortete Petrus und sprach zu
ihm: Du bist der Christus (Χριστός – Christos)!“
Auf den Widerstand des Petrus gegen die
erste Leidensankündigung antwortet Jesus daher in Mk 8,33: „Denn
du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“
und belehrt das Volk in der ersten
großen Unterweisung in Mk 8,34ff - Mk 8,36: „Denn was hülfe
es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner
Seele Schaden?“
Die Jünger werden im Markusevangelium
die 2. Stufe des „richtigen“ Sehens nie erreichen. Wohl aber der zweite Blinde, Bartimäus …
Wenn man denken kann, dass der Mensch eine auf den Kopf gestellte Pflanze ist (Der Kopf des Menschen entspricht der Wurzel der Pflanze.), dann liegt die Blindenheilung möglicherweise darin, dass der Geheilte nun diese "Sichtweise" erreicht hat, dass er nun Einblick hat in ein Lebensgesetz.-
AntwortenLöschenIch sage es nochmal: Ich mag es, hier zu lesen, das ist so spannend!