… das Meer von Galiläa plötzlich
mitten in der Dekapolis liegt
Gelb für die Wegstrecke
Jesu, Grün für die „Wanderung“ des Sees |
Teil 1 - Ein symbolträchtiger Umweg
1) Vor mehr als 35 Jahren schrieb
Friedrich Gustav Lang seinen wunderbaren Aufsatz „Über Sidon
mitten ins Gebiet der Dekapolis“, in dem er die irreale Reise Jesu
in Mk 7 untersuchte: „Mk 7,31 enthält die Beschreibung einer
merkwürdigen Reiseroute, auf der Jesus gegangen sein soll: ‘Und
nachdem er das Gebiet von Tyrus wieder verlassen hatte, ging er über
Sidon an den galiläischen See, mitten im Gebiet der Dekapolis.‘ E.
Schweizer schreibt dazu, man müsse sich ‘die Unmöglichkeit des
Reiseweges an einem Beispiel der eigenen Gegend klarmachen‘, und
wählt zum Vergleich eine Route ‘von Darmstadt über Frankfurt nach
Mannheim mitten durchs Neckartal‘. Fast alle Ausleger kommen heute
zu einem ähnlich kritischen Urteil.“
Der Ausgangspunkt dieser Wanderung, die
Jesus ohne seine Jünger unternimmt, ist zunächst nicht eindeutig
lokalisierbar. In Mk 6,53 befindet sich Jesus in Genezareth und zieht
dann in Mk 6,56 durch „Dörfer, Städte und Höfe“. In Mk 7,1
versammeln sich bei Jesus („bei ihm“) die Pharisäer und einige
Jerusalemer Schriftgelehrte, ohne dass wir genau erfahren, an welchem
Ort „bei ihm“ gelegen ist (mutmaßlich noch in der Gegend um
Genezareth, vielleicht auch in Kapernaum) - jedenfalls wohl am
nordwestlichen Ufer des von Markus sogenannten „Galiläischen
Meeres“. Von dort bricht Jesus dann auf: „Und er stand auf und
ging von dort in das Gebiet von Tyrus.“
Der Endpunkt der Reise ist nach Mk 7,31
wieder das „Galiläische Meer, mitten im Gebiet der Zehn Städte“,
also realgeografisch gedacht wohl das Ostufer des Sees. Jens Schröter
hat zwar zutreffend erkannt, dass der Text nach seiner wörtlichen
Bedeutung so zu verstehen ist, dass das Galiläische Meer „mitten“
im Gebiet der Dekapolis liegt: „... ἀνὰ μέσον τῶν
ὁρίων Δεκαπόλεως (zu deutsch: zwischen, inmitten
der Grenzen, des Gebiets der Dekapolis)“. Jedoch verwirft Schröter
als kritisch-historischer Exeget die naheliegende Möglichkeit, dass
Markus dies auch tatsächlich gemeint haben könnte, denn in diesem
Fall läge Markus unter realgeografischen Gesichtspunkten
katastrophal falsch. Schröter gibt der markinischen Beschreibung
daher eine vom Wortlaut abweichende Bedeutung und möchte sich die
Sache in seiner Übersetzung so zurecht machen: „an den See
Galiläas, (und zwar) in die Dekapolis.“ Zwei Übersetzungsverstöße
also: aus dem markinischen „Meer“ wird der Schrötersche und
realgeografische „See“ und aus „mitten in der Dekapolis“ wird
„in die Dekapolis“. Am Ende wird hier nicht der Text von Markus
interpretiert, sondern die Schrötersche „Berichtigung“.
Zwischen Anfangs- und Endpunkt der
Wanderung in Mk 7, die beide am Galiläischen Meer gelegen sind,
liegt nun jener lange Umweg via Tyrus und Sidon, auf dem lediglich
das Zusammentreffen mit der Syrophönizierin im Gebiet von Tyrus
geschildert wird. Die logischen Probleme der markinischen Erzählung
können wie folgt aufgezählt werden:
1. Warum lässt Markus Jesus überhaupt
nach Tyrus gehen? Markus gibt hierfür keine verständliche
Begründung und im Ergebnis der geschilderten Szene dient der Ausflug
Richtung Tyrus scheinbar nur dazu, dass die Syrophönizierin Jesus
zurechtweist und als Kyrios bekennt.
2. Warum schickt Markus Jesus alsdann
noch über Sidon, obwohl auf diesem Umweg überhaupt nichts
geschieht?
3. Wieso befindet sich das Galiläische
Meer mitten in der Dekapolis?
Die Probleme habe ich auf der kleinen
Karte im ungefähren Sinne nachgezeichnet: Gelb für die Wegstrecke
Jesu, Grün für die „Wanderung“ des Sees.
2) Die historische-kritische Exegese
stößt hier natürlich an ihre Grenzen. Wer
in der Reiseroute von Jesus in Mk 7 einen historischen Gehalt
erblicken will, wird ihn wohl wie Jens Schröter ausmachen: „Die geographischen Angaben der
Jesusreisen im MkEv sind somit weder Indizien für eine Unkenntnis
des Verfassers noch lassen sie sich als exakte Reisebeschreibungen
verstehen. Mit ihnen werden vielmehr summarisch diejenigen Gebiete
bezeichnet, in denen Jesus außerhalb von Galiläa gewirkt hat.“
Man erkennt leicht, dass die Mutmaßung Jens Schröter´s über eine „summarischen Bezeichnung“ das schlichte Gegenteil von Markus´ Erzählstrategie ist. Denn Markus ist in seinem Evangelium stets auf Einzelheiten und kleine Details seiner Schilderung fixiert, was auch im Fall von Aufzählungen oder Aneinanderreihungen gilt. Gleichermaßen „muss“ die historische-kritische Exegese die markinische „Verschiebung“ bzw. „Falschverortung“ des Sees mitten in der Dekapolis natürlich ebenfalls ignorieren oder der angeblichen Unkenntnis von Markus anlasten oder – gemäß Jens Schröter – „weg“-übersetzen.
Die dahinter stehende Absicht liegt natürlich auf der Hand. Ein „Jesus-Wissenschaftler“ wie Jens Schröter ist vor allem daran interessiert, im Markusevangelium eine Quelle für den „historischen“ Jesus zu finden und diese Quelle als glaubwürdig ausgeben zu können - notfalls eben auch, indem er den Textgehalt auf „Summarien“ reduziert. Am Verständnis des Markusevangeliums selbst und seiner Probleme ist Schröter hingegen nicht ernstlich interessiert.
3) Jeder Markusexeget sollte freilich
wissen, dass Jesus sich im Markusevangelium überwiegend nicht in
einem realgeografischen, sondern einem symbolgeografischen Raum
bewegt. Wie auch in vielen anderen Werken der antiken Literatur ist
auch die Geografie im Markusevangelium Teil der Handlung und die
Handlungsorte bzw. die Ortsnamen treiben durch Bedeutungsanklänge
die Erzählung voran.
Im Grunde besteht in der Wissenschaft über diesen Umstand Einigkeit, solange die Handlung an solch alttestamentlich-symbolträchtigen Orten wie der „Wüste“, auf einem „Berg“ oder am „Jordan“ spielt. Nicht wenige Gelehrte sind bereit zuzugeben, dass die Markus-Perikopen, die Szenen „im Haus“ beinhalten, sich auf innergemeindliche bzw. innerchristliche Fragen beziehen. Meist endet diese Bereitschaft jedoch, sobald konkrete Ortsnamen fallen. Dann soll Jesus an diesen Orten „wirklich“ gewesen sein und Markus das auch „wirklich“ gemeint haben. Dabei lehrt bereits eines der berühmtesten Ortsgeschehnisse im Markusevangelium, dass Jesus auch dort lediglich in einem symbolgeografischen Raum handelt.
Im Grunde besteht in der Wissenschaft über diesen Umstand Einigkeit, solange die Handlung an solch alttestamentlich-symbolträchtigen Orten wie der „Wüste“, auf einem „Berg“ oder am „Jordan“ spielt. Nicht wenige Gelehrte sind bereit zuzugeben, dass die Markus-Perikopen, die Szenen „im Haus“ beinhalten, sich auf innergemeindliche bzw. innerchristliche Fragen beziehen. Meist endet diese Bereitschaft jedoch, sobald konkrete Ortsnamen fallen. Dann soll Jesus an diesen Orten „wirklich“ gewesen sein und Markus das auch „wirklich“ gemeint haben. Dabei lehrt bereits eines der berühmtesten Ortsgeschehnisse im Markusevangelium, dass Jesus auch dort lediglich in einem symbolgeografischen Raum handelt.
Mk 10,46: „Und sie kamen nach
Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und
eine große Menge, da ...“
Im Markusevangelium geschieht nichts in
Jericho und Markus betont dies ausdrücklich durch die
Inhaltslosigkeit des Nach-Jericho-Kommens und Aus-Jericho-Weggehens
sowie durch die Verzögerung der geschilderten Handlung mittels einer
Aufzählung („er und seine Jünger und eine große Menge“).
Die Antwort auf die Jericho-Frage (Was
zur Hölle geschah eigentlich in Jericho?) findet sich nicht im
sogenannten „Geheimen Markusevangelium“, sondern in dem, was in
Jericho gerade nicht geschieht. Was nicht geschieht, dass ist dasjenige, was vor
Jesus ein „anderer Jesus“, der ebenfalls von jenseits des Jordans
kam, in Jericho tat und woran jeder der frühchristlichen Markusleser
gewiss sofort dachte: die Eroberung Jerichos durch den „Iesous“
der griechischen Septuaginta-Übersetzung des Buches Josua.
Josua 6,20ff: „Da erhob das Volk ein
Kriegsgeschrei und man blies die Posaunen. Und als das Volk den Hall
der Posaunen hörte, erhob es ein großes Kriegsgeschrei. Da fiel die
Mauer um und das Volk stieg zur Stadt hinauf, ein jeder stracks vor
sich hin. So eroberten sie die Stadt und vollstreckten den Bann an
allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann
und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln. … Aber die
Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war. Nur das
Silber und Gold und die kupfernen und eisernen Geräte taten sie zum
Schatz in das Haus des Herrn … So war der Herr mit Josua (LXX:
„Iesous“), dass man ihn rühmte im ganzen Lande.“
(Nur nebenbei: Ich stehe fest im
Glauben, dass Oliver Achilles mal wieder richtig liegt und vor
Jericho nicht Posaunen geblasen wurde, sondern ...)
Natürlich musste Markus seinen
zeitgenössischen Lesern nicht erklären, dass Jesus nicht als
Kriegsherr und Eroberer von Ländern und Schätzen einherzieht. Es
handelt sich in Mk 10,46 auch nur um eine kleine, aber sehr feine
Pointe dessen, was der markinische Jesus seine Jünger in den vier
Versen zuvor lehrt:
„Da rief Jesus sie zu sich und sprach
zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker
nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter
euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer
Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller
Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er
sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als
Lösegeld für viele.“
Markus lässt Jesus nur symbolisch nach Jericho gehen. Diese „Reisestation“ erlaubte es ihm, eine „theologische“ Aussage über Jesus zu machen. Gewiss beabsichtigte er keine summarisch-historische Angabe.
4) Die „stille“ und schon
Jahrzehnte währende Überlegenheit Friedrich Gustav Langs über die
deutschsprachige herkömmliche Markusexegese beruht meines Erachtens
auf zwei Umständen.
Zum einen weiß Lang aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem antiken Zeilenmaß (nicht nur) im Markusevangelium und den von ihm erforschten Textharmonien, dass er mit Markus in erster Linie „Literatur“ vor sich hat und eben nicht eine summarische oder legendenhaft verklärte historische Berichterstattung. Zum anderen übersieht Lang aufgrund seiner stets akribischen Lektüre nicht, dass im Markusevangelium paulinische Anschauungen vorzufinden sind.
Zum einen weiß Lang aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem antiken Zeilenmaß (nicht nur) im Markusevangelium und den von ihm erforschten Textharmonien, dass er mit Markus in erster Linie „Literatur“ vor sich hat und eben nicht eine summarische oder legendenhaft verklärte historische Berichterstattung. Zum anderen übersieht Lang aufgrund seiner stets akribischen Lektüre nicht, dass im Markusevangelium paulinische Anschauungen vorzufinden sind.
Friedrich Gustav Lang mag - wie
jedermann - in kleinen Punkten nicht vollkommen ins Schwarze treffen.
Sein Werk genießt jedoch den unschätzbaren Vorzug, dass das
Markusevangelium stets aus der richtigen Perspektive in den Blick
genommen wird.
Die Griechin aus Syrophönizien
Teil 1 - Jesus in einem Streitgespräch schlagen
Teil 2 - Den verborgenen Heiland wittern und als „Kyrios“
bekennen
Teil 3 - Jesus’ bizarrer Umweg zur Syrophönizierin
Teil 4 - Fragen zur Syrophönizierin
Teil 5 - Jesus beleidigt die Syrophönizierin als Hündchen
Zugabe - Von Dämonen und unreinen Geistern
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