Montag, 9. November 2015

Müßige Textkritik

via kiyanti2008.wordpress.com
1) Vers 15:34 des Markusevangeliums beschreibt den Ausruf von Jesus am Kreuz zunächst im aramäischen Wortlaut („Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“).

Wer sich für den „buchstabengenauen“ Aufschrei interessiert, steht vor der erheblichen Schwierigkeit, dass die ältesten Codizes des Markusevangeliums jeweils eine unterschiedliche Fassung enthalten. Dies gilt allein schon für das Wort „hast Du mich verlassen“: 


Codex Sinaiticus – σαβακτανει....... (sabak....t...ani)
Codex Vaticanus – ζαβαφθανει........(zabav....th..ani)
Codex Alexandrinus – σιβακθανει...(sibak.....th..ani)
Codex Bezae – ζαφθανει................(zav........th..ani)
Codex Ephraemi – σαβαχθανει........(sabach..th..ani)

Cod. Sinaiticus: die Hand des Korrektors
Bevor der Codex Sinaiticus, die von Constantin Tischendorf im Katharinenkloster am Berg Sinai aufgefundene Bibel aus dem 4. Jahrhundert, die Schreibwerkstatt verließ, ist er nochmals korrigiert worden. Der Korrektor hat bei Vers 15:34 die zwei Buchstaben „χθ” über das Wort „σαβακτανει” geschrieben, war also anderer Meinung als der Schreiber. Seines Erachtens lautete das fragliche Wort mithin „σαβαχθανει” (sabachthani). Da diese Lesart mit der Fassung des Codex Ephraemi Rescriptus sowie vielen jüngeren Manuskripten übereinstimmt und „σαβαχθανει” im Aramäischen für „hast Du mich verlassen“ stehen kann, ist dieser Wortlaut die von den Experten bevorzugte Lesart. Die Entscheidung für dieses Wort ist gut nachvollziehbar, aber angesichts der vielen unterschiedlichen Textvarianten mit einer hohen Unsicherheit verbunden. Was hier wirklich im „Original“ des Markusevangeliums stand, kann wohl nicht mit letzter Gewissheit gesagt werden.


2) Textkritik entzündet sich meist an theologisch bedeutsamen oder interessanten Stellen und kann zu erhitzten Debatten führen. Eine Entscheidung, ob etwa im Vers 1 des Markusevangeliums („Anfang des Evangeliums Jesu Christi“) zusätzlich noch die Wörter „Sohn Gottes“ standen oder nicht, ist eben nicht frei von weltanschaulichen Prägungen und Vorlieben. Beim Lesen textkritischer Abhandlungen von gewissen Autoren gewinnt man auch nicht selten den Eindruck, dass die Sache aus ihrer Sicht „glasklar“ und „bar jeden Zweifels“ entschieden werden kann.

Mit diesem Beitrag möchte ich einmal genau das Gegenteil tun und zeigen, wie schwierig Textkritik ist. Es handelt sich um eine Stelle, deren unterschiedliche Lesarten nur ganz leicht differieren und bei denen die Entscheidung für die eine oder andere Variante aus theologischer Sicht mehr oder weniger unerheblich ist. Das Problem lässt sich also „ganz entspannt“ betrachten. Eine „abschließende Lösung des Falles“ präsentiere ich außerdem nicht.

Erwähnenswert scheint er mir jedoch, weil sich bei genauer Betrachtung die Verhältnisse umkehren. Auf den ersten Blick erscheint die Sache ziemlich klar. Für die von den Experten bevorzugte Textvariante scheinen zunächst „alle guten Gründe“ zu sprechen. Am Ende erweist sich aber gerade diese Lesart als die zweifelhafteste.


3) Es handelt sich um eine Formulierung in Vers 9:14 des Markusevangeliums, die mich in meiner Serie über das Volk interessiert. Neben den Jüngern und einer Volksmenge sind in diesem Vers auch Schriftgelehrte genannt, die nach der Luther-Übersetzung ...

„mit ihnen stritten“.
„συνζητοῦντας πρὸς αὐτούς“

Die Übersetzung des Verbes „συνζητέω“ (auch „συζητέω“ geschrieben) in der Lutherbibel und den meisten anderen deutschen Übersetzungen mit „stritten“ ist meines Erachtens etwas hart. Besser haben es etwa Hans Thüsing und die „Offene Bibel“ getroffen, die das Verb regelmäßig mit „diskutieren“ oder „befragen“ übersetzen, oder die DhaBaR-Übersetzung, die „disputieren“ hierfür gewählt hat.

Der ehrwürdige Karl von der Heydt schreibt mit Blick auf Vers 1. Kor 1:20, in dem Paulus das zum Verb gehörige Substantiv verwendet: „Wo ist ein Weiser, wo ein Schriftgelehrter, wo ein Forscher (συζητητής) dieses Zeitalters? Hat denn nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Albernheit gemacht? … Das dafür vom Apostel gebildete, den Griechen und auch der LXX fremde Wort συζητητής kann auch 'Disputator' übersetzt werden; aber mit Rücksicht auf die ursprüngliche Wortbedeutung des Verbums 'συζητέω' - erforschen ... verdient die Fassung 'Forscher' den Vorzug.

Im Allgemeinen beschreibt das Verb im positiven Sinn eine mit Argumenten geführte Diskussion zur Erörterung und Erforschung eines philosophischen oder theologischen Problems, wie sie in der Antike etwa für griechische Philosophen sowie jüdische und christliche Schriftgelehrte typisch war. Im negativen Sinn sind damit „ermüdende Haarspaltereien“ gemeint.

Meines Erachtens kann man der Verwendung des Wortes im Markusevangeliums noch einen präziseren Sinn geben. Bei Markus hat das Wort meinem Eindruck nach die Bedeutung: „eine schwierige Frage zur Diskussion in den Raum stellen“, „ein gedankliches Problem zur gemeinsamen Erörterung aufwerfen“.


4) Die ältesten Textzeugen weisen für diese Stelle in Mk 9:14 folgende Varianten auf.

von den Experten bevorzugte Hauptlesart - „συνζητοῦντας πρὸς αὐτούς“
Codex Vaticanus, Codex Ephraemi Rescriptus, Codex Washingtonianus, Korrektor des Sinaiticus
Codex Vaticanus
sinngleiche Variante - „συνζητοῦντας αὐτοῖς“
Codex Alexandrinus, Codex Bezae
Codex Alexandrinus
leicht sinnverschiedene Variante - „συνζητοῦντας πρὸς αυτοὺς“
Codex Sinaiticus
Codex Sinaiticus
Der Sinnunterschied der Textvarianten in Mk 9:14 ist schmal und letztlich fast unerheblich. In den ersten beiden Varianten, die sinngleich sind, eröffnen die Schriftgelehrten eine argumentative Diskussion in Richtung der Jünger. In der Fassung des Sinaiticus stehen sie nur neben dem Geschehen und disputieren „zueinander“ bzw. „zu sich selbst“. Statt des Personalpronoms „ihnen“ (αὐτούς) steht hier das Reflexivpronom „sich selbst“ bzw. „einander“ (αυτοὺς), dass sich nur durch den vorangestellten Buchstaben „“ unterscheidet.

Vergleicht man den Wortlaut der Textvarianten, so ist das Verhältnis der ältesten Textzeugen 4:2:1. Vergleicht man den Sinngehalt steht der Sinaiticus allein gegen die anderen 6 Textzeugen und gegen alle jüngeren Manuskripte dazu. Zunächst spricht also alles dafür, dass eine der beiden ersten Varianten das Original des Markusevangeliums abbildet.

Eine der Regeln der Textkritik lautet, dass die bevorzugte Lesart zugleich sinnvoll erklären sollte, wie sich die unterschiedlichen Lesarten herausgebildet haben. Legt man nun die von den Experten bevorzugte Variante zu Grunde, fällt dieser Erklärung sehr leicht.

Die sinngleiche Variante „συνζητοῦντας αὐτοῖς“ kann sich dadurch entwickelt haben, dass die antiken Schreiber bei der Vervielfältigung des Markusevangeliums versehentlich die Präposition „πρὸς“ weggelassen hätten. Die Weglassung der Präposition „zu“ (πρὸς) ist im Altgriechischen unproblematisch, da sie automatisch mit hinzugedacht wird. Vergleichbar damit wäre etwa, wenn man im Deutschen statt „er sagte zu ihm“ nur mit „er sagte ihm“ formuliert.

Die leicht sinnverschiedene Textvariante des Codex Sinaiticus kann ebenfalls „mühelos“ erklärt werden. Vier Verse vor der hier in Rede stehenden Stelle heißt es nämlich in Mk 9:10 über eine Diskussion der Jünger:

„und das Wort sie festhielten untereinander disputierend: Was ist das, von den Toten auferstehen?“
καὶ τὸν λόγον ἐκράτησαν πρὸς ἑαυτοὺς συνζητοῦντες τί ἐστιν τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι

Zwar sind die Gelehrten hier geteilter Meinung, ob sich in diesem Vers das Reflexivpronom „untereinander“ bzw. „sich selbst“ (ἑαυτοὺς) auf das Disputieren der Jünger oder das „Festhalten des Wortes“ bezieht. Einem antiken Schreiber jedoch, der gerade in Vers Mk 9:10 die Worte „αυτοὺς“ und „συνζητοῦντες“ geschrieben hat, kann es sicher leicht unterlaufen, dass er dann auch in Vers Mk 9:14 statt „αὐτούς“ versehentlich „αυτοὺς“ schreibt.

Beachtlich ist zudem, dass sich unter den Textzeugen für die Hauptlesart auch der Codex Vaticanus befindet, der gemeinsam mit dem Codex Sinaiticus als ältestes und vertrauenswürdigstes Manuskript bewertet wird.

Der Fall scheint damit recht klar und die Experten haben sich mit fast überwältigenden Gründen für die Variante „συνζητοῦντας πρὸς αὐτούς“ („diskutierend zu bzw. mit ihnen“) entschieden.


5) Meines Erachtens sprechen jedoch interne Gründe dafür, dass diese von den Experten bevorzugte Lesart die am meisten zu bezweifelnde ist. Zur Erläuterung muss ich ein wenig ausholen.


5.1) Ich habe oben erwähnt, dass es im Altgriechischen zulässig ist, die Präposition „πρὸς“ im Zusammenhang mit Verben, die eine Tätigkeit des Sprechens gegenüber einer anderen Person beschreiben, einfach wegzulassen - entfernt vergleichbar etwa damit, wenn man im Deutschen statt „er sagte zu ihm“ nur „er sagte ihm“ formuliert. Hierzu ein Beispiel:

Matthäus, Markus und Lukas beschreiben die Erwiderung von Jesus auf die Frage nach seiner Vollmacht im Jerusalemer Streitgespräch mit ganz ähnlichen Worten (hier in der Luther-Übersetzung):

Mt 21:24 - Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Ich will euch auch eine Sache fragen ...
Mk 11:29 - Jesus aber sprach zu ihnen: Ich will euch auch eine Sache fragen ...
Lk 20:3 - Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Ich will euch auch eine Sache fragen ...

Während Lukas für die Wendung „sprach zu ihnen“ (εἴπεν πρὸς αὐτούς) die Präposition „πρὸς“ (zu) verwendet, lassen Matthäus und Markus sie weg und formulieren nur mit „εἴπεν αὐτοῖς“.

Diese Regel gilt – anders als im Deutschen – auch bei anderen Verben, die eine Tätigkeit des Sprechens beschreiben. Unter anderem auch für das hier in Rede stehende Verb „diskutieren“ („συνζητέω“). Hierzu ebenfalls ein Beispiel, zunächst aus der Apostelgeschichte und gemäß der Luther-Übersetzung.

Am Ende von Vers 6:9 heißt es: „und stritten mit Stephanus“. (συνζητοῦντες τῷ Στεφάνῳ)
In Vers 9:29 finden wir: „und stritt auch mit den griechischen Juden“ (συνεζήτει πρὸς τοὺς Ἑλληνιστάς)

Im ersten Fall ist die Präposition „πρὸς“ weggelassen, im zweiten Fall ist sie hingegen verwendet.


5.2) Der Stil von Markus hat nun eine Besonderheit. Er lässt die Präposition „πρὸς“ in der Wortstellung (nicht geschriebenes Subjekt +) Verb + Objekt immer weg.

Wenn also im Markusevangelium eine oder mehrere Personen zu einer anderen oder mehreren Personen etwas sagen, etwas reden, etwas sprechen, etwas antworten, etwas anordnen usw., dann heißt es stets wörtlich:

„er sagte ihnen“ oder „die Frau sagte Jesus“ usw.
jedoch niemals
„er sagte zu ihm“ oder „die Frau sagte zu Jesus“ usw.

Zur Verdeutlichung ist anzumerken, dass wir hier geschätzt von Hunderten von Fällen reden (ich habe nicht nachgezählt) und das in der Hauptlesart nicht eine einzige Ausnahme im gesamten Markusevangelium besteht (von unserer Stelle in Mk 9:14 abgesehen).

Anzumerken bleibt lediglich, dass in einer anderen Wortstellung eine einzige Ausnahme existiert. In Mk 12:12 heißt es im Anschluss an das Gleichnis von den bösen Weinbauern: „Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass …

πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν εἶπεν.
zu ihnen das Gleichnis er hatte gesagt.

Diese Ausnahme begründet sich jedoch aus der umgedrehten Wortstellung, weil hier zu Betonungszwecken die Wörter „zu ihnen“ an den Anfang und das Verb „sagen“ ans Ende der Wendung gesetzt sind.

Diese Regel gilt auch für das hier in Rede stehende Wort. Die einzig vergleichbare Stelle ist vorliegend Mk 8:11 (Pharisäer, die Jesus in eine Diskussion verwickeln wollen). Alle wichtigen Textzeugen sind sich einig, dass der Wortlaut wie folgt ist und Markus die Präposition „πρὸς“ nicht verwendet:

καὶ ἤρξαντο συνζητεῖν αὐτῷ - ζητοῦντες παρ’ αὐτοῦ σημεῖον
und sie begannen zu diskutieren ihn - suchend von ihm ein Zeichen


5.3) Der Sachverhalt stellt sich anders dar, wenn eine oder mehrere Personen nicht zu anderen, sondern „zu sich selbst“ bzw. „zu-einander“ sprechen, also ein Reflexivpronom verwendet wird. In diesen Fällen formuliert Markus ausnahmslos mit der Präposition „πρὸς“, was auch grammatikalisch geboten ist. Auch hierzu ein Beispiel:

Die Frauen am leeren Grab in Mk 16:3 „sagen zu sich selbst“ (ἔλεγον πρὸς αυτάς): „Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“, über den Jüngling im Grab heißt es in Mk 16:6 indes: „er aber sagt ihnen“ (ὁ δὲ λέγει αὐταῖς).


5.4) Zurück zu den Textvarianten in Mk 9:14

Hauptlesart der Experten - συνζητοῦντας πρὸς αὐτούς
sinngleiche Variante - συνζητοῦντας αὐτοῖς
leicht sinnverschiedene Variante - συνζητοῦντας πρὸς αυτοὺς

Das Problem der Hauptlesart „πρὸς αὐτούς“ liegt darin, dass sie dem eindeutigen Wortgebrauch von Markus widerspricht (Verwendung der Präposition „πρὸς“). Sie wäre der einzige Ausnahmefall im gesamten Markusevangelium gegenüber Hunderten von „Gegenbeispielen“.

Die beiden minderen Varianten stimmen hingegen mit dem Stil von Markus überein, da in der ersten Variante die Präposition weggelassen ist und in der Lesart des Codex Sinaiticus ein Reflexivpronom („αυτοὺς - zu sich selbst“) auf die Präposition „πρὸς“ folgt.

Vertraut man diesen stilistischen Überlegungen, scheidet die von den Experten bevorzugte Hauptlesart aus. Obwohl sie auf den ersten Blick vorzugswürdig erschien, überwiegen aus meiner Sicht die wohl eindeutig gegen sie sprechenden stilistischen Gründe.


6.) Ich habe bereits eingangs gesagt, dass ich nicht in der Lage bin, eine endgültige Lösung zu präsentieren. Meines Erachtens gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die für oder gegen die beiden anderen Textvarianten sprechen. Eine dieser Überlegungen will ich jedoch nennen:

Mir persönlich scheint es leichter vorstellbar, dass am Beginn der Entwicklung die Formulierung des Sinaiticus stand (πρὸς αυτοὺς), die sich alsdann zur Hauptlesart der Experten (πρὸς αὐτούς) und schließlich zur dritten Variante (αὐτοῖς) reduziert hat. Die umgekehrte Entwicklungsrichtung kann nicht ausgeschlossen werden, ist meiner Meinung nach jedoch ein wenig komplizierter nachvollziehbar. Diese Mutmaßung würde zudem mit dem Alter der Textzeugen und der ihnen in der Regel zugesprochenen Qualität übereinstimmen (Sinaiticus → Vaticanus → Alexandrinus).

Meine Absicht war nur zu zeigen, wie die Wahrscheinlichkeiten sich umgekehrt haben. Auf den ersten Blick sprach alles für die Hauptlesart, am Ende jedoch wenig. Auf die Textvariante des Sinaiticus würde man zunächst keinen Cent setzen, aber zu guter Letzt sind seine Chancen, das Original des Markusevangeliums zu repräsentieren, sehr beachtlich.

Nicht alle, aber viele Fragen bleiben offen. Dafür eine Buchempfehlung ;-)

via bibelausstellung.eduxx-irs.de

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