Dienstag, 27. Oktober 2015

Wie Schafe, die keinen Hirten haben (II)


Am Ende ruft die Menge vor Pilatus „Kreuzige ihn!“ (Mk 15:13), obwohl das Volk vor allem in Galiläa Jesus noch in großen Scharen hinterhergelaufen war. - Einige Überlegungen über das Verhältnis zwischen Jesus und den Volksmengen im Markusevangelium und dessen Wandlung …

Teil 2 – Hörer der Lehre Jesu

1) Im ersten Teil dieses Beitrags bin ich einem Thema nachgegangen, dass Markus sehr sorgfältig vom 1. bis zum 6. Kapitel entwickelt: die Bedrängung von Jesus durch die Volksmenge. Ab dem 7. Kapitel lässt Markus dieses Motiv jedoch fallen. Eine weitere Bedrängung durch die Menge wird im Markusevangelium nicht mehr erwähnt.

Lehrer der Volksmenge
Positiv gewendet kann man der markinischen Darstellung entnehmen, dass sich das Volk in den ersten Kapiteln des Markusevangeliums in zunehmenden Maße um Jesus versammelt, der gewissermaßen das Zentrum des Zulaufs der Massen und den „Ort“ von Reinheit und Heilung bildet. Er tritt damit in eine gewisse Konkurrenz zu den herkömmlichen Institutionen: der Familie, der Synagoge, dem Tempel und anderen Gemeinschaftsformen wie etwa der „Stadt“. In diesen Institutionen finden sich die Heilbedürftigen und Dämonisierten.

Gleichwohl hat Markus diesen „Erfolg“ von Jesus nicht in rosaroten Tönen beschrieben. Er hat in seinem Bericht die Bedrohlichkeit der Menschenmassen und das fast hysterische und gewaltsame Bedrängen von Jesus hervorgehoben. Es sind Menschen-“Haufen“, deren Anblick nach Mk 6:34 Mitgefühl auslöst: „wie Schafe, die keinen Hirten haben“.

Der Vers 6:34 ist damit noch nicht vollständig wiedergegeben, sondern nennt außerdem noch die unmittelbare Reaktion von Jesus auf den Anblick der sein Mitgefühl auslösenden Volksmenge:

καὶ ἤρξατο διδάσκειν αὐτοὺς πολλά
und er begann zu lehren sie vieles


2) Gewöhnlich denkt man bei der „Lehre von Jesus“ an die Bergpredigt und damit an das Matthäusevangelium, während das Markusevangelium nicht unbedingt für die darin enthaltenen „Lehren Jesu“ gerühmt wird.

Dementgegen ist auffällig, dass Markus ab Beginn seines Evangeliums mit der Verkündung ein weiteres wichtiges Motiv im Verhältnis zwischen Jesus und der Volksmenge verfolgt. Unaufhörlich verkündet und lehrt Jesus die Menge und „sagt“ ihnen „das Wort“. Allerdings erfahren wir nicht in jedem Fall etwas über die Lehrinhalte seiner Reden.

Dabei kommt es mit dem 7. Kapitel zu einer auffälligen Wende im Markusevangelium. Jesus, der bis dahin in der Regel in Gleichnissen gepredigt hat, geht in seiner Lehre nun zu direkten und unmissverständlicheren Aussagen über. Gleichsam als Echo dieser Änderung beziehen sich die „Heilungswunder“ ab diesem Zeitpunkt auf Sinnes- und Äußerungsorgane: die Heilung von Blinden, Taubstummen sowie die Austreibung eines tauben und stummen Geistes. In diesem Rahmen erreicht auch die Thematik des Jüngerunverständnisses ihren Höhepunkt, die nicht allein die Jünger, sondern auch die Volksmenge zu betreffen scheint.

Die Lehr- und Verkündungstätigkeit von Jesus beginnt sofort mit Jesus Auftreten in Galiläa in Mk 1:14: „Nachdem aber Johannes gefangen gesetzt war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes ...“. Aus Mk 1:38 ist zu erfahren, dass dies der Zweck von Jesus Wirken ist: „Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.

Mk 1:21-22 erzählt erstmals über eine konkrete Lehrrede von Jesus und der Reaktion der Hörer darauf, jedoch nichts über den Inhalt der Lehre: „Und sie gingen hinein nach Kapernaum; und alsbald am Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und sie entsetzten sich über seine Lehre; denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten.“ Ebenso Mk 2,2: „Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.“ und Mk 2,13: „Und er ging wieder hinaus an den See; und alles Volk kam zu ihm und er lehrte sie.

In Mk 2:18ff lehrt er in den kurzen Gleichnissen „Vom Bräutigam und den Hochzeitsgästen“, „Von neuen Flicken auf dem alten Kleid“ „Vom neuen Wein in alten Schläuchen“, in Mk 3:22ff „Vom starken Mann“ und schließlich folgt das großes Gleichniskapitel 4 (- 4:33f): „Und durch viele solche Gleichnisse sagte er ihnen das Wort so, wie sie es zu hören vermochten. Und ohne Gleichnisse redete er nicht zu ihnen ...

Die Lehre und Verkündung durch Jesus gegenüber der Volksmenge geht unaufhörlich weiter und selbst bei seiner Gefangennahme in Jerusalem verweist Jesus auf seine Lehrtätigkeit – Mk 14:49: „Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht ergriffen.


3) Im 7. Kapitel geht Jesus in der Rede über Reinheit und Unreinheit zu direkten und unverhüllten Aussagen über und behält diese Art der „offenen“ Rede auch in den Leidensankündigungen und bis zur Ankunft in Jerusalem bei. Zuweilen verwendet er kleine bildhafte Vergleiche (etwa „Kamel durchs Nadelöhr“ oder vom „Sauerteig der Pharisäer“). Diese sind jedoch mit den Gleichnisreden aus den Kapiteln 2-4 oder dem Gleichnis von den treulosen Weingärtnern in Kapitel 12 nicht annähernd vergleichbar.

Die erste eindeutig „unverhüllte“ Lehraussage richtet Jesus direkt an die Volksmenge (Mk 7:14ff).

Und er rief das Volk wieder zu sich und sprach zu ihnen: Hört mir alle zu und begreift's! Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen unrein macht.

Auch die jeweilige Aufforderung von Jesus zum Zuhören scheint dieser Veränderung in der Redeweise zu entsprechen. Im großen Gleichniskapitel 4 hieß es:

Mk 4:3 Hört zu! Siehe (ἰδοὺ - idou), …
Mk 4:24 Und er sprach zu ihnen: Schaut (Βλέπετε - Blepete), was ihr hört!

Während Jesus in den Gleichnisreden zu einem entsprechend bildhaften Verstehen auffordert, lautet die Aufforderung in

Mk 7:14 Hört mir alle zu und begreift's (σύνετε - synete)!

Das Verb "συνίημι" (suniémi) meint wörtlich „zusammensetzen“, (eins und eins) „zusammenbringen“, und bezeichnet damit eine reine Verstandestätigkeit, die der klareren Redeweise von Jesus ab dem 7. Kapitel zu entsprechen scheint.


4) Im großen Gleichsniskapitel 4 ist erstmals das Thema des Unverständnisses der Hörer angesprochen:

Mk 4:10-13: „Und als er allein war, fragten ihn, die um ihn waren, samt den Zwölfen, nach den Gleichnissen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen aber draußen widerfährt es alles in Gleichnissen, damit sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde. Und er sprach zu ihnen: Versteht ihr dies Gleichnis nicht, wie wollt ihr dann die andern alle verstehen?

Mit denjenigen, die nicht verstehen, scheinen an dieser Stelle „die um ihn waren samt den Zwölfen“ gemeint zu sein, die Volksmenge also scheinbar eingeschlossen. Im 7. Kapitel sagt Jesus alsdann zu den Jüngern:

7:18 Und er sprach zu ihnen: Seid ihr denn auch so unverständig?

Vorliegend ist lediglich das Wörtchen „auch“ von Interesse und die Frage, wer damit gemeint ist. Der vorhergehende Vers 7:17 lautet wörtlich:

Καὶ ὅτε εἰσῆλθεν εἰς οἶκον ἀπὸ τοῦ ὄχλου, ἐπηρώτων αὐτὸν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ τὴν παραβολήν.
Und als er hineinkam ins Haus von der Menge, befragten ihn die Jünger (von) ihm (nach) dem Gleichnis.

Der Vers sagt es nicht ausdrücklich, legt aber nahe, dass es die gerade verlassene Volksmenge war, die „auch“ so unverständig gewesen ist.

Das in Mk 7:17 verwendete Adjektiv „unverständig“ (σύνετοί – asynetoi) entspricht im Altgriechischen wörtlich der oben erwähnten Aufforderung in Mk 7:14 „begreift's“ (σύνετε – synete). Aber auch der Aussage in Mk 4:12

11 ... denen aber draußen widerfährt es alles in Gleichnissen, 12 damit sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen (συνίωσιν - syniōsin), damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.

Das Markusevangelium ist berühmt für das Thema des sogenannten "Jünger"-Unverständnisses. Aber auch die Volksmenge scheint bei Markus dieses Unverständnis zu teilen.

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