Mittwoch, 20. Mai 2015

Wie die Evangelisten die Prophezeiung „in jenen Tagen“ interpretierten


1) In der hebräischen Bibel und ihrer griechischen Übersetzung, der Septuaginta, gibt es Wörter und Phrasen, die sich häufig wiederholen. Dazu gehört auch die Wendung „in jenen Tagen“ (ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις) bzw. „an jenem Tag“ (ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ). Ihre Bedeutung ist nicht durchgängig gleich. Die Floskel kann sowohl eine ferne Vergangenheit, die erzählte Gegenwart, aber auch eine prophezeite Zukunft beschreiben. Sie kann zum Zwecke besonderer Betonung, aber auch als bloße unbetonte Zeitangabe verwendet worden sein.
Weihnachtslied: "An jenem Tag", via volksmusik-archiv.de

Sehr bekannt ist die Wendung aus dem Buch der Richter, indem mehrmals wiederholt wird: „In jenen Tagen gab es keinen König in Israel.“ (LXX-Ri 17,6; 18,1; 19,1; 21,25). Das Buch Genesis verwendet die Floskel „an jenem Tag“ gern als „Markierung“ wichtiger Stationen der Abraham gegebenen Verheißung, beginnend mit LXX-1. Mos 15,18 („An jenem Tag verfügte Gott für Abram eine Verfügung, indem er sagte: Deiner Nachkommenschaft werde ich dieses Land geben ...“).

Bei den Propheten bekommt die Wendung schließlich etwas Geheimnisvolles, weil sie verwendet wird, um die Zeit des künftigen Heils oder des drohenden Gerichts zu beschreiben. Sie dient also zur Bezeichnung der „eschatologischen“ Zukunft, des Anbruchs der letzten Dinge und des Herabkommens einer neuen Welt. Etwa bei Jeremia (LXX-3,16ff): „Und es wird geschehen, wenn ihr euch vermehrt und über das Land ausbreitet in jenen Tagen, spricht der Herr, werden sie nicht mehr sagen 'Die Bundeslade des Heiligen Israels', sie wird nicht mehr zum Herzen aufsteigen, weder wird sie beim Namen genannt noch betrachtet werden, und sie wird nicht wiederhergestellt werden. In jenen Tagen und zu jener Zeit wird man Jerusalem 'Thron des Herrn' nennen, und alle Völker werden in ihr gesammelt werden und sie werden nicht länger hinter den Gedanken ihres bösen Herzens nachlaufen. In jenen Tagen wird das Haus Juda mit dem Haus Israel zusammenkommen, und sie werden miteinander vom Land des Nordens und aus allen Gegenden in das Land kommen, das ich ihren Vätern zum Besitz gegeben habe ...“ oder Jesaja (29,18) „Und an jenem Tag werden Taube Worte eines Buches hören, und die Augen von Blinden, die in der Finsternis und in dem Nebel sind, werden schauen ...

Die Propheten verwenden diese Floskel so häufig, dass unsere Evangelisten dies bemerkt und die Wendung selbst verwendet haben, um an diese Prophezeiungen anzuknüpfen. Wie zu sehen sein wird, verwenden die Vier die Formel zunächst um das Anbrechen der durch Jesus vermittelten Heilszeit zu „markieren“. Markus und Matthäus scheinen diesbezüglich eine kleine Meinungsverschiedenheit zu haben …


2) Ich will jedoch zunächst mit Lukas, Johannes und der Apostelgeschichte beginnen, um einen ersten Eindruck zu vermitteln.

Lukas markiert natürlich die Weihnachtsgeschichte mit der Floskel - Lk 2,1: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Wörtlich heisst es: Ἐγένετο δὲ ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις … (Es geschah aber in den Tagen jenen ...)


Bei Johannes könnte man zunächst zweifeln, ob er die Wendung tatsächlich so betont verwendet. Er benutzt sie zunächst, als die Jünger das erste Mal im Umkreis Johannes des Täufers auf Jesus treffen - Joh 1,35 – 41: „Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben jenen Tag (τὴν ἡμέραν ἐκείνην) bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte.

Die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern lässt jedoch schließlich keinen Zweifel, dass auch Johannes die Floskel ganz bewusst verwendet - Joh 20,19f: „Am Abend aber jenes Tages (τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ) der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.


Die Apostelgeschichte verknüpft sogar AT-Prophezeiung und NT-Erfüllung und zwar beim Pfingstwunder, der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Apg 2,14ff : „Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): 'Und es soll geschehen in jenen Tagen (ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις), spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen ...

Apg 2,38ff: „Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird. Auch mit vielen andern Worten bezeugte er das und ermahnte sie und sprach: Lasst euch erretten aus diesem verkehrten Geschlecht! Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an jenem Tag (ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ) wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.


3) Die Meinungsverschiedenheit zwischen Markus und Matthäus betrifft die Frage, ob die Heilszeit mit Johannes dem Täufer beginnt oder erst mit Jesus.

Mein Eindruck bei Markus ist, dass Johannes in seinem Leben und seiner Mission nicht ansatzweise ein Vorläufer von Jesus ist, sondern als Wegbereiter in Gestalt von Paulus' „Zuchtmeister“ auftritt, unter dem alle verwahrt wurden, um durch den Glauben befreit zu werden (Gal 3,23f: „Ehe aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen auf den Glauben hin, der dann offenbart werden sollte. So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus hin, damit wir durch den Glauben gerecht würden.“) Lediglich der Tod von Johannes weist bei Markus auf den Tod von Jesus voraus. Matthäus präsentiert Johannes hingegen als vollwertigen Vorläufer von Jesus.

Markus parallelisiert das Auftreten von Johannes und von Jesus in Mk 1,4 und Mk 1,9 durch das Wörtchen „ἐγένετο“ (es geschah), verwendet die eschatologische Formel „in jenen Tagen“ aber nicht bei Johannes, sondern erst beim Kommen von Jesus.

Mk 1,4
Ἐγένετο Ἰωάννης βαπτίζων ἐν τῇ ἐρήμῳ
Es geschah: Johannes taufte in der Wüste

Mk 1,9
Καὶ ἐγένετο ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις ἦλθεν Ἰησοῦς ἀπὸ Ναζαρὲτ τῆς Γαλιλαίας
Und es geschah in jenen Tagen: Es kam Jesus aus Nazaret von Galiläa


Matthäus nimmt hier nun eine Veränderung vor, indem er die Formel „in jenen Tagen“ bereits beim Auftreten des Täufers verwendet und so den Beginn der Heilszeit „vorverlegt“:

Mt 3,1
Ἐν δὲ ταῖς ἡμέραις ἐκείναις παραγίνεται Ἰωάνης ὁ βαπτιστὴς κηρύσσων ἐν τῇ ἐρήμῳ
Aber in jenen Tagen kam Johannes der Täufer verkündend in der Wüste

Mt 3,13
Τότε παραγίνεται ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας ἐπὶ τὸν Ἰορδάνην πρὸς τὸν Ἰωάνην
Dann kam der Jesus aus dem Galiläa über den Jordan zu dem Johannes

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