Donnerstag, 18. September 2014

„Minor agreements“ und die Logienquelle Q


via wikimedia
Bei meiner Beschäftigung mit dem Abjatar-Problem und aufgrund meiner Schwierigkeiten, den logischen Sinn des Gedankengangs in Mk 2,23-28 zu erfassen, habe ich auch die Parallelstellen bei Matthäus und Lukas sorgfältig gelesen. Dabei tauchte als Randgedanke die Frage auf, in welchem Verhältnis die drei Texte zueinander stehen, wer also von wem „abgeschrieben“ hat. Besonders in der deutschen Bibelwissenschaft herrscht die sogenannte Zweiquellentheorie vor, nach der Matthäus und Lukas (unabhängig von ihrem Sondergut) zwei Quellen benutzten, nämlich das Markusevangelium und ein hypothetisches Dokument, das unter dem Begriff „Logienquelle Q“ bekannt ist.

Der Grund für diese These besteht zum einen in der Vielzahl der wortwörtlichen Übereinstimmungen zwischen den drei Evangelisten, die nur bei einem „Abschreiben“ aus dem Markusevangelium denkbar sind. Neben den „Übernahmen“ aus dem Markusevangelium gibt es zwischen Matthäus und Lukas aber viele weitere wortwörtliche Gemeinsamkeiten in Szenen, die im Markusevangelium nicht enthalten sind und die ebenfalls nahelegen könnten, dass einer der beiden vom anderen „abgespickt“ hat (z.B. Bergpredigt bei Matthäus und Feldrede bei Lukas). Aus mehreren und durchaus gewichtigen Gründen verneint die Zweiquellentheorie jedoch ein solches Abschreiben im Verhältnis zwischen Matthäus und Lukas. Sie geht vielmehr davon aus, dass weder Matthäus das Lukasevangelium noch Lukas das Matthäusevangelium kannte, sondern dass beide unabhängig voneinander von einem anderen Dokument, eben der Logienquelle Q, abgeschrieben haben.

Der gewichtigste Einwand gegen die Zweiquellentheorie sind die sogenannten „minor agreements“. Dabei handelt es sich um wortwörtliche Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas bei der Übernahme von Szenen aus dem Markusevangelium, die beide in genau gleicher Weise von Markus abweichen. Der Gedanke ist folgender: Wenn Matthäus oder Lukas von Markus abschreiben, mögen sie auch einmal den Wortlaut von Markus abändern, etwas weglassen oder hinzufügen. Diese Abänderungen dürften jedoch – von zufälligen Ausnahmen und wenigen nachträglichen Harmonisierungen in der Überlieferung abgesehen – bei Matthäus und Lukas nie gleich sein, wenn keiner der beiden den anderen kannte. Wenn also Markus „A“ sagt und Matthäus ihn leicht zu „A²“ abwandelt, dann dürfte Lukas die Markusstelle nicht ebenfalls zu „A²“ abwandeln, sofern er Matthäus gar nicht kannte.

Ich habe nachfolgend die „minor agreements“ der Szenen vom Ährenraufen am Sabbat bei Markus, Matthäus und Lukas zusammengestellt.


Markus 2,23ff      
Matthäus 12,1ff      
Lukas 6,1ff.         
Kommentar         
23 Καὶ ἐγένετο αὐτὸν ἐν τοῖς σάββασιν παραπορεύεσθαι διὰ τῶν σπορίμων, καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ἤρξαντο ὁδὸν ποιεῖν τίλλοντες τοὺς στάχυας.
23 Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
1 Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ ἐπορεύθη ὁ Ἰησοῦς τοῖς σάββασιν διὰ τῶν σπορίμων· οἱ δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ ἐπείνασαν καὶ ἤρξαντο τίλλειν στάχυας καὶ ἐσθίειν.
1 Zu der Zeit ging Jesus durch ein Kornfeld am Sabbat; und seine Jünger waren hungrig und fingen an, Ähren auszuraufen und zu essen.
1 Ἐγένετο δὲ ἐν σαββάτῳ διαπορεύεσθαι αὐτὸν διὰ σπορίμων, καὶ ἔτιλλον οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ ἤσθιον τοὺς στάχυας ψώχοντες ταῖς χερσίν.
1 Und es begab sich an einem Sabbat, dass er durch ein Kornfeld ging; und seine Jünger rauften Ähren aus und zerrieben sie mit den Händen und aßen.
Matthäus und Lukas ergänzen beide das „Essen“ der Getreidekörner; bei Markus ist hingegen zweifelhaft, ob Mk 2,23 im Sinne eines Essens der Getreidekörner zu verstehen ist
24 καὶ οἱ Φαρισαῖοι ἔλεγον αὐτῷ, Ἴδε τί ποιοῦσιν τοῖς σάββασιν ὃ οὐκ ἔξεστιν;
24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
2 οἱ δὲ Φαρισαῖοι ἰδόντες εἶπαν αὐτῷ, Ἰδοὺ οἱ μαθηταί σου ποιοῦσιν ὃ οὐκ ἔξεστιν ποιεῖν ἐν σαββάτῳ.
2 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu ihm: Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat nicht erlaubt ist.
2 τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων εἶπαν, Τί ποιεῖτε ὃ οὐκ ἔξεστιν τοῖς σάββασιν;
2 Einige der Pharisäer aber sprachen: Warum tut ihr, was am Sabbat nicht erlaubt ist?
Matthäus und Lukas verwenden Markus´ „ἔλεγον“ (sprachen) in der Form von „εἶπαν
25 καὶ λέγει αὐτοῖς, Οὐδέποτε ἀνέγνωτε τί ἐποίησεν Δαυὶδ ὅτε χρείαν ἔσχεν καὶ ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ᾽ αὐτοῦ,
25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren:
3 ὁ δὲ εἶπεν αὐτοῖς, Οὐκ ἀνέγνωτε τί ἐποίησεν Δαυὶδ ὅτε ἐπείνασεν καὶ οἱ μετ᾽ αὐτοῦ,
3 Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als ihn und die bei ihm waren hungerte?
3 καὶ ἀποκριθεὶς πρὸς αὐτοὺς εἶπεν ὁ Ἰησοῦς, Οὐδὲ τοῦτο ἀνέγνωτε ὃ ἐποίησεν Δαυὶδ ὅτε ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ᾽ αὐτοῦ [ὄντες],
3 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Habt ihr nicht das gelesen, was David tat, als ihn hungerte, und die, die bei ihm waren?
Matthäus und Lukas überspringen beide Markus´ „David war in Not“ und verwenden beide Markus´ „λέγει“ (sprach) in der Form von „εἶπεν
26 πῶς εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ ἐπὶ Ἀβιαθὰρ ἀρχιερέως καὶ τοὺς ἄρτους τῆς προθέσεως ἔφαγεν, οὓς οὐκ ἔξεστιν φαγεῖν εἰ μὴ τοὺς ἱερεῖς, καὶ ἔδωκεν καὶ τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν;
26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?
4 πῶς εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ καὶ τοὺς ἄρτους τῆς προθέσεως ἔφαγον, ὃ οὐκ ἐξὸν ἦν αὐτῷ φαγεῖν οὐδὲ τοῖς μετ᾽ αὐτοῦ εἰ μὴ τοῖς ἱερεῦσιν μόνοις;
4 Wie er in das Gotteshaus ging und aß die Schaubrote, die doch weder er noch die bei ihm waren essen durften, sondern allein die Priester?
4 [ὡς] εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ καὶ τοὺς ἄρτους τῆς προθέσεως λαβὼν ἔφαγεν καὶ ἔδωκεν τοῖς μετ᾽ αὐτοῦ, οὓς οὐκ ἔξεστιν φαγεῖν εἰ μὴ μόνους τοὺς ἱερεῖς;
4 Wie er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote nahm und aß, die doch niemand essen durfte als die Priester allein, und wie er sie auch denen gab, die bei ihm waren?
Matthäus und Lukas überspringen beide Markus´ „Abjatars, des Hohepriesters“ und ergänzen beide „μόνοις/μόνους“ (allein die Priester)




5 Oder habt ihr nicht gelesen im Gesetz, wie die Priester am Sabbat im Tempel den Sabbat brechen und sind doch ohne Schuld?






6 Ich sage euch aber: Hier ist Größeres als der Tempel.






7 Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer«, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verdammt.




27 καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς, Τὸ σάββατον διὰ τὸν ἄνθρωπον ἐγένετο καὶ οὐχ ὁ ἄνθρωπος διὰ τὸ σάββατον
27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.


5a καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς, ...
5a Und er sprach zu ihnen: ...
Matthäus und Lukas überspringen beide Mk 2,27b, Lukas jedoch nicht Mk 2,27a („Und er sprach zu ihnen”)
28 ὥστε κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου.
28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.
8 κύριος γάρ ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου.
8 Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat.
5b Κύριός ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου.
5b Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat.
Matthäus und Lukas verwenden beide die gleiche Wortstellung (Herr ist des Sabbats der Menschensohn), nicht so Markus



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