Sonntag, 18. Juni 2017

Prophezeit Jesus im Markusevangelium die Zerstörung des Tempels?

1) Aufgrund der Verse 13:1-2 scheint diese Frage allenfalls von rhetorischem Wert zu sein. Auf den zweiten Blick kann man jedoch ernsthaft ins Überlegen kommen und dem widmet sich dieser Beitrag.

In der Regel wird die Frage im Hinblick auf drei Textstellen diskutiert.

11:23 Amen, das sage ich euch: Wenn jemand zu diesem Berg sagt: Heb dich empor und stürz dich ins Meer!, und wenn er in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass geschieht, was er sagt, dann wird es geschehen.

13:1 Als Jesus den Tempel verließ, sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten! 2 Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen.



14:57 Einige der falschen Zeugen, die gegen ihn auftraten, behaupteten: 58 Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschen erbauten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen errichten, der nicht von Menschenhand gemacht ist.


a) Es gibt zwar auch Theologen, die trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die „falschen Zeugen“ in Markus 14:57 mutmaßen, dass der „historische Jesus“ den Satz gesagt hat, jedoch besteht im Rahmen einer getreuen Auslegung des Markusevangeliums natürlich keine Grundlage für diese Spekulation.

b) Zum Vers 11:23 wird von einigen Autoren erwogen, dass der dort angesprochene „Berg“ der Tempelberg sei und der „Sturz ins Meer“ eine Metapher für seine Zerstörung. Ich teile diese Meinung deshalb nicht, weil der Ort des „Berges“ in vielen biblischen Schriften ein mit besonderer Bedeutung versehener Ort ist. Seit Abraham, Moses und Elia steht der „Berg“ für einen Ort der Gottesnähe und der göttlichen Offenbarungen. Es muss daher m.E. jeweils geprüft werden, wie ein biblischer Autor mit diesem traditionell geprägten Thema in seiner Schrift umgeht. Auch für das Markusevangelium gilt, dass dem „Berg“ eine besondere Bedeutung zukommt. Er ist jedoch abgesehen von einer kleinen Ausnahme (Mk 5:5) thematisch stets mit den Jüngern verknüpft, so vor allem der Berg der Berufung der Zwölf, der Berg der Verklärung und der Ölberg. Im Gegensatz hierzu erwähnt Markus an keiner Stelle, dass der Tempel auf einem Berg steht.


2) Es bleiben aus meiner Sicht daher nur die Verse 13:1-2 als ernsthaft in Betracht kommende Textstelle übrig und 99,99 % aller Bibelwissenschaftler gehen davon aus, dass Jesus mit ihnen die Zerstörung des Tempels ankündigt. Das Argument dagegen stammt vom amerikanischen Gelehrten Yaron Eliav und lautet wie folgt:

- im Markusevangelium ist (im Gegensatz zum Matthäus- und Lukasevangelium) nicht ausdrücklich gesagt, dass es sich bei den „Steinen und Bauten“ um solche des Tempels handelt
- im Vers 13:1 verlässt Jesus gerade den Tempelkomplex und dabei sieht ein Jünger jene Steine und Bauten: „Meister, sieh …“. Der Tempel „muss“ sich zu diesem Zeitpunkt also im Rücken von Jesus befunden haben, d.h. der Jünger und Jesus sahen andere Bauten, wahrscheinlich - so Yaron Eliav - die herodianischen Anbauten des Tempelkomplexes.

Um das traditionelle Verständnis der Verse zu verteidigen, müsste man annehmen, dass der Jünger und Jesus einen Blick zurückwarfen, sich umdrehten oder Markus sich nur ungeschickt ausdrückte. Natürlich sieht Eliav die Möglichkeit eines solchen Arguments: „One might argue, as scholars traditonally have, that he was denouncing the place they had just left.” Auf den ersten Blick ist man deshalb wohl eher geneigt, über die leichte Unklarheit der Verse hinwegzusehen.


3) Interessant ist die Textstelle deshalb, weil „wir“ zwar bereit sind, über diese Uneindeutigkeit hinwegzusehen, Matthäus und Lukas dies aber als Leser von Markus nicht getan haben.

Versteht man die synoptischen Evangelien als miteinander harmonierende Texte, würde man die Verse Mk 13:1-2 natürlich in dem eindeutigen Sinn auslegen, der ihnen von Matthäus und Lukas gegeben wurde. Sieht man aber in Matthäus und Lukas zunächst einmal die ersten uns bekannten Leser des Markusevangeliums, erkennt man, dass sie genauso wie Yaron Eliav die mangelnde Eindeutigkeit der Verse 13:1-2 bemerkt haben und diese in ihren eigenen Evangelien „korrigierten“.


Matthäus gibt den bei Markus nicht näher definierten Bauten die eindeutige Bezeichnung „Bauten des Tempels“ und Lukas, in dessen Evangelium sogar die nachfolgende Szene noch innerhalb des Tempels spielt, lässt einige Anwesende eindeutig über den steinernen Schmuck des „Tempels“ sprechen. Gerade weil beide Nachfolger von Markus den Versen Mk 13:1-2 offenbar ihre volle Aufmerksamkeit widmeten und sie in ihren Evangelien sorgfältig umgestalteten, heben sie für uns die Uneindeutigkeit der Verse im Markusevangelium besonders hervor.


4) Nach dem Vorschlag von Yaron Eliav soll Jesus im Markusevangelium nicht über den Tempel, sondern über die herodianischen Anbauten des Tempelareals gesprochen haben.

Diese These wird häufig deshalb abgelehnt, weil sie kaum Sinn zu machen scheint. Man müsste annehmen, dass Jesus die totale Zerstörung der Anbauten zum Tempel, aber nicht des Tempels selbst vorhergesagt habe. Mich selbst überzeugt Eliavs Vorschlag vor allem deshalb nicht, weil das Markusevangelium - wie bereits beim „Tempelberg“ erwähnt - solche konkreten topografischen und architektonischen Unterscheidungen des Tempelareals nicht trifft. Der „Tempelberg“ wird von Markus ebenso wenig benannt wie der „Vorhof der Heiden“, „Salomos Halle“ oder die „Burg Antonia“. Eine Unterscheidung zwischen dem Tempel und den Anbauten des Herodes ist meiner Meinung nach innerhalb des Markusevangeliums nicht möglich und von Markus daher nicht beabsichtigt.

Aus Vers 12:10f ergibt sich andererseits, dass im Markusevangelium auch im übertragenen Sinn von „Steinen“ und „Bauleuten“ gesprochen wird: „10 Habt ihr nicht das Schriftwort gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden; 11 das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder?“ Der Vers eröffnet daher die Möglichkeit, auch die „Steine“ und „Bauten“ in Mk 13:2 nicht im wortwörtlichen, sondern im übertragenen Sinn zu deuten.

Zu einem solchen gleichnishaften Verständnis könnte vielleicht die „merkwürdige“ Rückfrage von Jesus in Vers 13:2 passen: „1 …Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten! 2 Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese großen Bauten?“ Jesus’ Rückfrage könnte implizieren, dass er eher an der Fähigkeit des Jüngers zweifelt, die von Jesus gemeinten „Bauten“ und „Steine“ zu sehen - als ob hierfür „spezielle Augen“ notwendig seien.

Falls in Vers Mk 13:2 tatsächlich nicht der Tempel gemeint sein sollte, scheint mir die zutreffende Lösung eher in einer gleichnishaften Deutung der „Steine und Bauten“ zu liegen. Mit einem solchen Verständnis gäbe es auch keinen Sinnbruch beim Übergang zu den Versen 13:3ff, die - wie im letzten Beitrag erwähnt - meines Erachtens überhaupt nicht von der Tempelzerstörung, sondern von der Zeit bis zum Kommen des Menschensohnes handeln.

Literatur: Yaron Z. Eliav, The "Lithos epi Lithon" Prophecy

1 Kommentar:

  1. Die hellenistichen Juden, aus denen heraus nach heutiger Lehre auch der Markustext entstanden ist, hatten einen Tempel, der nicht aus Stein, nicht von Menschenhand gebaut war. Die Spekulationen über das, was ein junger Mann mit Namen Jesus sagte oder diesem von Gelehrten des aufgeklärten Judentums, wie dem Markus-Verfasser in den Mund gelegt wurde, greifen zu kurz. Was soll der Quatsch vom Anbau zum Tempel über den sich angeblich ein junger Rebell auslies?

    Wenn wir doch wissen, dass der neue Tempel, der hellenistisch aufgeklärten Juden, bei denen auch der Markustext entstand, der nun in Vernunft erklärte Kosmos war, sich hier die schöpferische Macht, der gemeinsame Sinn und Ursprung vergegenwärtigte, ist es unmöglich im Sinne des Markusverfassers, nur einen rebellischen Juden sehen zu wollen, der über den Tempelanbau sprach oder sich gar als ein nicht von Menschenhand erbauter Tempel aufspielte.

    Wenn die in Vernunft erklärte schöpferische Wirklichkeit (größer als alle menschliche Vernunft) als neuer Tempel von der Traditionshörigkeit abgelehnt wurde, dann wird genau das Problem geschildert, das wir auch heute haben. Eine gemeinsame Verant-wort-ung aufgrund der und für die gegenwärtigen Schöpfung, wie sich sich heute aus dem Tempel ergebem könnte, den der hellenistisch gebildete Markus-Verfasser in Vernunft vor Augen hatte, wird verhindert, solange wir nur einen jungen Mann durch die Levante laufen sehen, der sich als Tempelrebell auspielte.

    Doch mit einem jungen Mann, der all das nicht war und sein wollte, was sein Anhänger aus ihm machten, wie er heute an den Hochschulen gelehrt wird und allgemein als historisch gilt, hat dieser Text mit absoluter Sicherheit nichts zu tun.

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