Mittwoch, 1. März 2017

Rezension zu Stefan Lücking: „Mimesis der Verachteten“

1) Im vergangenen Jahrhundert herrschte – wie Stefan Lücking sagen würde – „ein rein historisches Interesse an den biblischen Texten vor. Sie wurden nach der historischen ‚Welt hinter dem Text’ befragt, sei es derjenigen der frühchristlichen Gemeinden oder der des ‚Lebens Jesu’“. Büchern, die diesem Interesse und dem, was damals als wichtig und wesentlich galt, nicht gerecht wurden, blieben Wahrnehmung und Anerkennung häufig versagt. Man meinte, dass sie das eigentliche Thema verfehlt hätten. Unter diesen wenig beachteten Arbeiten findet sich auch ein kleines Meisterwerk: Stefan Lückings „Mimesis der Verachteten“.

Wie der Untertitel besagt, handelt es sich bei dieser Monografie um eine „Studie zur Erzählweise von Mk 14:1-11“ (dem „Verrat des Judas“ und der „Salbung von Bethanien“). Obwohl es vor 25 Jahren geschrieben wurde, zählt es noch heute zu den exaktesten Analysen dieses Evangeliumabschnitts. Das Buch unternimmt aber weit mehr. Lücking hält den Leser an, diese Verse aus einer bestimmmten Perspektive in den Blick zu nehmen. Es ist die Sicht der griechisch-römischen Antike auf die Art und Weise der literarischen Darstellung, wie sie vor allem durch die Philosophen Platon und Aristoteles begründet wurde und sich in den Tragödien und Epen jener Epoche widerspiegelte.

In welchem Verhältnis steht das Markusevangelium zur Literatur der griechisch-römischen Antike? Und was für eine Art von Literatur stellt es dar? Marius Reiser meinte einst, es handele sich bei der markinischen Erzählung um „hellenistische Volksliteratur“, Eve-Marie Becker ordnete es der heidnischen Geschichtsschreibung zu, Klaus Berger sah darin vor allem eine Art antike griechische Biografie.

Gegen diese beruhigenden Einordnungen zeigt Lücking, dass das Markusevangelium in mehrfacher Hinsicht mit den Eigenheiten der hellenistischen Literatur brach und sich von ihr entschieden absetzte. Für die Welt der griechisch-römischen Literatur war die Erzählung von Markus nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch in der Art und Weise des Erzählens etwas Neues, Fremdes und Unerhörtes.


2) Nach der ‚Poetik’ des Aristoteles bedarf die gute Tragödie einer literarischen Gestaltung auf sechs Ebenen und nach bestimmten Regeln. Vier davon finden auch auf die Epen und Erzählungen Anwendung: Sprache (lexis), Gedankenführung (diánoia), handelnde Charaktere (êthê) und Handlung (mythos). Unter diesem aristotelischen Blickwinkel untersucht Lücking die Verse Mk 14:1-11. Hier zunächst die Textübersicht mit ihrer Struktur.




2.1) Sprache (lexis)

Lückings Analyse zeigt, dass die markinische Erzählung einerseits in schlichtem, der Alltagssprache angenähertem Koine-Griechisch geschrieben ist, andererseits aber auch ungewöhnliche und sogar äußerst subtile Wendungen enthält.

Als einfach und schlicht in der Wortwahl lassen sich die verschiedenen Verbindungswörter wie „und“, „aber“ und „nämlich“ sowie deren Wiederholung im Text beurteilen. Ungewöhnlich wirkt hingegen, dass Markus auf die Beschreibung des Parfums erkennbar einen hohen Wert legte, die Geschehnisse hingegen, in denen es um Leben und Tod von Jesus geht, in farblosen und abstrakten Formulierungen beschrieb (14:1 „sie suchten, wie“; 14:11 „er suchte, wie“).

Der Vers Mk 14:3 enthält zudem einen sprachlichen Chiasmus in der Form AB-B’A’, der im Griechischen noch deutlicher ersichtlich ist.

Mk 14:3 καὶ ὄντος αὐτοῦ ἐν Βηθανίᾳ ἐν τῇ οἰκίᾳ Σίμωνος τοῦ λεπροῦ

κατακειμένου αὐτοῦ ἦλθεν γυνὴ
ἔχουσα ἀλάβαστρον μύρου νάρδου πιστικῆς πολυτελοῦς
συντρίψασα τὴν ἀλάβαστρον
κατέχεεν αὐτοῦ τῆς κεφαλῆς


Der Text weist eine hohe Dichte an Semitismen auf, die Aristoteles in diesem Übermaß wohl als Barbarismus getadelt hätte (in der Übersicht blau markiert). Neben den Namen (etwa Bethanien, Iskarioth) und den wörtlichen Semitismen (Pascha, Amen), sind es Wörter mit semitischem Hintergrund (die „Ungesäuerten“ Brote) und die Formulierung in Mk 14:6 „in mir getan“ (an Stelle von „an mir“ oder „für mich“ getan). Für die Formel „Amen, ich sage euch“ (Mk 14:9) und die Verwendung von „Amen“ in einer solchen Bedeutung ist Markus wohl die älteste Quelle, da „Amen“ stets responsorisch im Sinne einer Zustimmung zu etwas zuvor Gesagtem verwendet wurde (wie im Gottesdienst), aber nie eine Aussage einleitete.

Subtil wirkt zum Beispiel, wie Markus die Rede der Gegner (wohl aus der Jüngergruppe) in Mk 14:4-5 gestaltet hat. Der geäußerte Vorwurf wird von ihnen nur „hinterhältig“ in den Raum gestellt, ohne dass die Frau direkt angesprochen oder auch nur erwähnt wird. Die Gegner meiden sowohl die offene Konfrontation mit der Frau als auch mit Jesus („Zu was ist diese Vergeudung des Parfums geschehen? Man hätte dieses Parfum nämlich veräußern können für mehr als dreihundert Denare und es den Armen geben können.“) Jesus wendet sich hingegen direkt an diese Gruppe und weist sie zurecht („Lasst sie! Was lasst ihr sie Bekümmernis haben?“).


2.2) Gedankenführung (diánoia)

Der kleinliche Streit in Bethanien entzündet sich am Wert des Parfüms. Ist es eine ökonomische Tauschware, deren materieller Wert nach dem Willen der Gegner der Armenfürsorge zu Gute zu kommen hat? Oder ist die Verschwendung des teuren Parfüms als schönes Werk gerechtfertigt, wie Jesus meint?

Lücking zeigt, dass Markus nicht daran gelegen ist, einen generellen Vorrang der Liebeswerke über die Almosengaben zu begründen. Der entscheidende Punkt in Jesus Argumentation ist der Zeitfaktor. Noch „hat“ man Jesus in Bethanien, aber in der Rahmenhandlung suchen die Hohenpriester und Schriftgelehrten bereits nach dem geeigneten Zeitpunkt, um Jesus zu ergreifen und zu töten („Mich aber habt ihr nicht allezeit“). Das Zeitkontinuum ist bereits gebrochen, wie auch die Frau ihren Alabasterflakon mit dem Nardenparfum zunächst noch „hat“, aber dann zerstört.

Jesus’ Rede in Mk 14:6-9 ist trotz ihrer Kürze in anscheinend aristotelischer Manier gegliedert. Es beginnt mit dem, was Aristoteles das „Argument gegen die Widersacher“ nennt, und das nach seinen rhetorischen Regeln vor die eigentliche Begründung geschoben werden soll.

Gegen die Widersacher
Einleitung: Lasst sie! Warum lasst ihr sie Bekümmernis haben? Ein schönes Werk hat sie in mir getan.
Widerlegung des gegnerischen Arguments: Allezeit nämlich habt ihr die Armen bei euch und sobald ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun. Mich aber habt ihr nicht allezeit.

Eigentliche Begründung
Argument: Was sie geben konnte, hat sie getan. Sie ist vorab gekommen, um meinen Leib zu meiner Bestattung zu parfümieren.
Bekräftigender Redeschluss: Amen, ich sage euch aber: Wo das Evangelium in der ganzen Welt verkündet wird, wird auch über ihre Tat gesprochen werden - zur Erinnerung an sie.


2.3) Handelnde Charaktere (êthê)

Markus’ Absage an die hellenistische Erzähltradition zeigt sich am deutlichsten in der Darstellung der handelnden Personen. Für Aristoteles, aber auch für die griechischen Schriftsteller seit Homer, galt die genaue und für den Leser gut nachvollziehbare Charakterisierung einer für die Handlung wichtigen Person als unverzichtbar. Name, Charakter, Beweggründe, Gefühle und Gedanken waren je nach dem Erfordernis der Erzählung anzugeben bzw. lebensnah darzustellen.

All dies fehlt bezogen auf die Heldin der Verse Mk 14:3-9 vollständig. Unvermittelt taucht die namenlose Frau in der Erzählung auf. Als Leser wissen wir weder ihren Namen noch ihre Herkunft oder etwas über ihr Beziehung zu Jesus. Selbst über ihre Beweggründe schweigt sich Markus aus.

Letzteres gilt auch für Judas. Seine Entscheidung, Jesus auszuliefern, ist in Vers 14:10 bereits gefallen. Erst danach bieten ihm die Hohenpriester den „Judaslohn“ an, was allein etwas über sie aussagt. Ebenso unbestimmt ist die Gruppe der Streitkontrahenten in Bethanien. Sie werden ohne nähere Charakterisierung nur als „einige“ bezeichnet.

Aus Sicht der hellenistischen Erzählweise ist es auch als höchst unangemessen zu bewerten, dass Markus die historisch allseits bekannte Tatsache ignorierte, dass es stets nur einen jüdischen Hohenpriester gab, und die gesamte Tempelaristokratie unter dem Begriff „die Hohenpriester“ in einen Topf wirft. Vergleichbar wäre damit, wenn ein heutiger Schriftsteller das politische Establishment in Deutschland mit der Beschreibung „die Bundeskanzler“ zusammenfassen würde.

Ironischerweise sind die am detailliertesten beschriebenen Bestandteile der Handlung nicht Personen, sondern der Ort der Handlung und das im Mittelpunkt stehende Requisit: das Haus Simons des Aussätzigen in Bethanien und das Alabastergefäß mit dem wertvollen Parfum aus getreuer Narde.


2.4) Handlung (mythos)

In der Ausgangssituation der Rahmenhandlung „suchen“ die Hohenpriester und Schriftgelehrten nach einer geeigneten Möglichkeit, um Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen und zu töten, fürchten dabei aber einen Volksaufruhr. Eine konkrete Möglichkeit der Umsetzung ihres zunächst eher unklaren Plans ergibt sich, als Judas ihnen das Angebot zur Auslieferung von Jesus unterbreitet. Dafür bieten sie ihm Geld. Aus Sicht der Hohenpriester ist damit die Durchführung eines näher bestimmten Plans in Gang gesetzt. Stellvertretend für sie handelt nun Judas, der seinerseits nach einer günstigen Gelegenheit „sucht“.

In der gerahmten Handlung vollzieht eine unbekannte Frau eine Salbung an Jesus, deren Sinn dunkel bleibt. Als eine „Sinnlosigkeit“ wird sie auch von einer nicht näher bestimmten Gruppe scharf kritisiert, von Jesus aber verteidigt, der zugleich ihren Sinn offenbart: sie dient zu seiner Bestattung.

Die Fortschritte in beiden Handlungssequenzen laufen damit auf den konkret zu erwartenden Tod von Jesus hinaus, mit dem dieser sich bereits abgefunden zu haben scheint. Beide Geschichten bleiben dennoch offen und bilden keine abgeschlossenen Einheiten. Sie sind nur einzelne Handlungsabschnitte im größeren Zusammenhang der Passion Jesu, den Lücking im 3. Teil seiner Monografie untersucht.


3) Die Unbestimmtheit der Erzählung und die Erfahrung des Lesers

Welche Herausforderung die Unbestimmtheit der markinischen Erzählung für den Leser bot und nach wie vor bietet, beweisen die anderen drei Evangelisten, die die Geschichte teilweise stark umgestaltet und dabei viele Leerstellen aufgefüllt haben. Insbesondere die Version des Johannesevangeliums lässt sich gerade auch wegen der wortwörtlichen Übernahme einzelner Zitate von Markus als eine solche konkretisierende Interpretation lesen: die unbekannte Frau wird zu Maria, der Diskussionsgegner ist der geldgierige und verächtliche Judas, dessen Beweggrund zum Verrat auch ausdrücklich genannt wird. Für den Leser das Markusevangeliums ist die Option, ein Judas zu sein, gefährlich nahe, für den des Johannesevangeliums hingegen vollkommen ausgeschlossen.

Der Leser – so Lücking – steht vor der gleichen Herausforderung. Aus dieser ergeben sich zwei mögliche Haltungen zum Text.

Ein Teil der Leserschaft wird davon ausgehen, dass die Schilderung „in Wahrheit“ näher bestimmt ist und es ihr nicht an Sinn mangelt. Hieraus ergibt sich diesen Lesern, dass Markus sich allerhöchstens ungeschickt ausgedrückt hat oder sich nicht deutlicher ausdrücken musste, weil die näheren Bezüge der Erzählung den antiken Hörern des Markusevangeliums vermeintlich bekannt waren. Für diese Leser bewirkt der Text nichts.

Der andere Teil der Leser wird hingegen zu der Überzeugung gelangen, dass die Erzählung tatsächlich so unbestimmt ist. Diese Leser sehen sich gezwungen, unter Aufbietung eigener Kräfte den Text neu zu durchdenken, um einem möglicherweise von Markus intendierten, aber dunklen Sinn näher zu kommen, ihn vielleicht sogar selbst mit Sinn zu füllen. Für diese Leser stellt die Erzählung eine echte Herausforderung dar und ermöglicht eine überraschende Erfahrung: dass das Markusevangelium mit moderner Literatur vergleichbar scheint.

Dies ist auch die eigene Erfahrung von Stefan Lücking: „Auf allen vier Ebenen vermittelt die markinische Darstellung den Eindruck einer Erzählung, die an den Grenzen erzählerischer Konvention operiert ... Wie die Werke der modernen Literatur widersetzt sich die markinische Erzählung einer normalisierenden Lektüre … Durch die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Darstellung werden die Leserinnen und Leser provoziert, die eigene Glaubenspraxis und die darin enthaltenden Überzeugungen zu reflektieren.

2 Kommentare:

  1. Marcus Johannes9. März 2017 um 23:55

    Es gibt auch eine dritte Möglichkeit, die ob ihrer Einfachheit in Frage kommen könnte:
    Der Autor des Markusevangeiums war ein schlechter Erzähler ohne Hintergedanken, ohne Stil, ohne geographische Kenntnisse.
    Ich bin zwar selbst nicht dieser Meinung. Zumindest könnte es aber (leider) so sein.

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    1. Nun ja. Meine Vermutung ist, dass nach Ansicht von Lücking diese Möglichkeit so wahrscheinlich ist wie bei Goethe oder Shakespeare. Ich selbst wäre da einer Meinung mit ihm.

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