1) Einige Bibelwissenschaftler bekennen
freimütig, dass die Geschichte über die „Verfluchung des
Feigenbaums“ (Mk 11:12ff) sie ratlos macht. Der Sinn dieser
Erzählung im Markusevangelium sei nicht mehr greifbar. Je mehr ich
mich mit dem Feigenbaum beschäftige, desto sympathischer finde ich
diese Einschätzung.
James Tissot via wikimedia |
Seit langem stehen sich in der
Wissenschaft zwei herrschende Meinungen zu dieser Frage gegenüber.
Beide verstehen den Feigenbaum gleichnishaft. Nach der einen
Auffassung symbolisiere der Feigenbaum den nur noch Finanzinteressen
dienenden „Jerusalemer Tempelbetrieb“, nach der anderen das
„ungläubige“ Volk von „Israel“. Neben diesen beiden
herrschenden Auffassungen finden sich auch einige abweichende
Positionen. Sowohl der Wikipedia-Artikel als auch ein etwas älterer
Beitrag von Thomas Breuer bieten hierzu informative Übersichten.
Die beiden herrschenden Meinungen
machen jeweils mehrere Argumente für sich geltend. Sowohl die
„Tempel-Theorie“ als auch die „Volk-Israel-Theorie“ gründet
sich letztlich auf einem Hauptargument, das durch weitere
Gesichtspunkte nur noch abgerundet wird. Bei der „Tempel-Theorie“
ist dieses Argument die textliche Verklammerung von Tempelaktion und
Feigenbaumverfluchung in der sogenannten Sandwich-Technik, bei der
„Volk-Israel-Theorie“ die Vorprägung der Feigen-Metapher durch
die hebräische Bibel. Mir geht es in diesem Beitrag nicht um die
Richtigkeit der Theorien an sich, sondern lediglich um die
Schlüssigkeit der beiden Hauptargumente. Meines Erachtens sind beide
Argumente nicht stichhaltig.
Ich habe versucht, den Feigenbaum
zunächst einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es geht
dabei um die Art, wie Markus Pflanzen im Allgemeinen und Obstgewächse
(einschließlich des Weinstocks und des Ölbaums) im Besonderen als
Metaphern verwendet. Mein Eindruck war, dass die Verwendungsweise bei
Markus sich in zwei wesentlichen Punkten von derjenigen von Matthäus
und Lukas unterscheidet. Außerdem scheint es im Markusevangelium
einen regelrechten „Obstbaum“-Abschnitt zu geben, der auch durch
die verwendeten Ortsnamen markiert wird. Er beginnt in Markus 11:1
(vor der Ankunft in Jerusalem) mit der Erwähnung von Betfage („Haus
der Frühfeigen“), nimmt seinen Weg u.a. über das
Weinbauerngleichnis in Mk 12:1ff und endet in Mk 14:32ff im Garten
Gethsemane (der „Ölpresse“) mit der Gefangennahme von Jesus und
der Flucht der Jünger.