1) Als im 3. Jahrhunderts n.Chr. die Kirchenväter und christlichen Schriftsteller aus den Evangelien zitierten, entfielen laut Brenda Schildgen im Verhältnis der Evangelien untereinander etwa 12 Zitate auf Matthäus, 7 Zitate auf Johannes, 4 auf Lukas und ein Zitat auf Markus. Soweit dies aus den Quellen nachvollzogen werden kann, kamen bei der Lesung von Evangelientexten im Gottesdienst zu jener Zeit auf eine Lesung von Markus etwa 16 Lesungen von Matthäus und 16 Lesungen von Johannes. Unter den in Teilen noch erhaltenen Handschriften der Evangelien aus den ersten drei Jahrhunderten n.Chr. befinden sich nach Larry Hurtado Dutzende von Matthäus, 16 von Johannes und 7 von Lukas. Die eine erhaltene Handschrift von Markus (Papyrus 45) wird selbst vom apokryphen Thomasevangelium übertrumpft, das auf Reste von drei Handschriften verweisen kann. Das Markusevangelium „überlebte“ in jenem Jahrhundert am Rande, während im Zentrum des katholischen Denkens vor allem Matthäus sowie Johannes standen und Lukas mit seiner Geburtsgeschichte reges theologisches Interesse genoss.
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Zur Frage, wie dem Markusevangelium im
3. Jahrhundert n.Chr. das Überleben und sogar der Sprung ins Neue
Testament gelang, gab Hurtado vor gut zwei Jahren folgenden Tipp ab:
„For my money ... the early association of GMark with the Apostle
Peter was likely at least one major factor.“ Prof. Hurtado bezog
sich dabei auf die kirchliche Überlieferung, nach der Markus der
„Dolmetscher“ oder „Interpret“ von Petrus gewesen sei. Unter
dem Schutz der Autorität des großen Apostels, die die Christenheit
im 3. Jahrhundert Petrus beimaß, sei das Markusevangelium letztlich
unantastbar gewesen.
Michael J. Kok hat in seinem in diesem
Jahr erschienen Buch „The Gospel on the Margins: The Reception of
Mark in the Second Century“ und seiner 2013 verfassten Dissertation
diese Randständigkeit des Markusevangeliums untersucht und das
Entstehen jener Überlieferung, wonach Markus angeblich ein
Mitarbeiter von Petrus gewesen sei.
Ausgangspunkt von Kok's Überlegungen
ist zunächst, dass die kirchliche Überlieferung über Markus als
„Interpret“ oder „Dolmetscher“ von Petrus nicht zutreffend,
sondern eine bloße Fiktion ist. Über die Einzelheiten mag man
streiten, doch wer das Markusevangelium einmal gelesen hat, sollte
verstanden haben, dass Markus von Petrus und den „Zwölf“
(Aposteln) insgesamt ein negatives Bild zeichnet, in welchem die
Jünger von zunächst in die Nachfolge Berufenen, zu unverständigen
Jüngern und schließlich zu Deserteuren werden. Kok schreibt (mit
Horsley übereinstimmend): „As the plot unfolds, the Twelve
repeatedly demonstrate themselves to be inadequate representatives of
the kingdom movement and regress from disciples to deserters of
Jesus. … In Horsley’s reading, Peter and the Twelve deserted the
social ideals of Jesus as Mark understood them.“
2) In welchen Schritten und zu welchem
Zweck wurde aber dann die Behauptung in die Welt gesetzt, dass Markus
ein Mitarbeiter von Petrus gewesen sei?
- Chronologisch ist ein Mann namens Markus in den christlichen Schriften das erste Mal im Brief von Paulus an Philemon greifbar und zwar als Mitarbeiter von Paulus - Phlm 1,24: „Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, Markus, Aristarch, Demas, Lukas, meine Mitarbeiter.“
Alsdann wird ein Markus im
Kolosserbrief und im 2. Brief an Timotheus erwähnt, die - nach wohl
überwiegender Meinung der Bibelwissenschaft – nicht von Paulus
selbst stammen sollen - Kol 4,10: „Es grüßt euch Aristarch, mein
Mitgefangener, und Markus, der Vetter des Barnabas - seinetwegen habt
ihr schon Weisungen empfangen; wenn er zu euch kommt, nehmt ihn auf
...“ 2 Tim 4,11: „Lukas ist allein bei mir. Markus nimm zu dir
und bringe ihn mit dir; denn er ist mir nützlich zum Dienst.“ Auch
in diesen beiden Schriften begegnet uns Markus als Mitarbeiter von
Paulus.
Die ältesten christlichen Schriften,
die Paulinen, beschreiben einen Markus also als „Mitarbeiter“ von
Paulus. Im Griechischen lautet das Wort „συνεργός“
(sunergos) – ein „Zusammen-Werkender“ oder „gemeinsam
Werk-Schaffender“. Diesen Begriff verwendet Paulus in seinen
Briefen nie als lapidare Tätigkeitsbezeichnung, sondern stets im
Sinne einer würdigenden Auszeichnung und Anerkennung. Es sind
Gläubige, die bei der Verkündung des Evangeliums mit Paulus „an
einem Strang ziehen“.
- Die wohl zeitlich erste Verschiebung
dieses Bildes nimmt die Apostelgeschichte vor, die einen „Johannes
mit dem Beinamen Markus“ erwähnt.
Zunächst stellt die Apostelgeschichte
in Vers 12,12 eine indirekte Verbindung zwischen Petrus und Markus
her und beschreibt in diesem Vers, dass Petrus sich im Haus der
Mutter von Markus aufgehalten habe, in dem viele Mitglieder der
Jerusalemer Gemeinde zusammen gekommen seien.
Alsdann berichtet die
Apostelgeschichte, dass Paulus und Barnabas nach einem Aufenthalt in
Jerusalem Johannes Markus als Begleiter auf die erste Missionsreise
mit sich genommen hätten (12,25), dieser sie aber nach einem
Aufenthalt in Salamis (13,5) auf dem Weg von Perge nach Paphos
verlassen habe (13,13). Späterhin sei es alsdann zu einem Streit und
der Trennung von Paulus und Barnabas gekommen, weil Barnabas die
Absicht hatte, erneut Johannes Markus als Begleiter auf die zweite
Missionsreise mitzunehmen (15,36-41): „Barnabas aber wollte, dass
sie auch Johannes mit dem Beinamen Markus mitnähmen. Paulus aber
hielt es nicht für richtig, jemanden mitzunehmen, der sie in
Pamphylien verlassen hatte und nicht mit ihnen ans Werk gegangen war.
Und sie kamen scharf aneinander, sodass sie sich trennten. Barnabas
nahm Markus mit sich und fuhr nach Zypern. Paulus aber wählte Silas
...“
Die Apostelgeschichte, die zeitlich
nach den Paulusbriefen und dem Markusevangelium geschrieben wurde,
bestätigt damit zwar eine kurze Teilnahme von Markus auf der ersten
Missionsreise des Paulus, behauptet jedoch ein gespaltenes Verhältnis
zwischen beiden, weil Markus Paulus und Barnabas angeblich verlassen
habe und „nicht mit ihnen ans Werk gegangen war“. Im Griechischen
heißt es: „καὶ μὴ συνελθόντα αὐτοῖς εἰς
τὸ ἔργον“ (kai mē synelthonta autois eis to ergon),
wörtlich übersetzt: „... und nicht zusammengegangen war mit ihnen
in das Werk“.
Die Formulierung legt damit Paulus eine Aussage in den Mund, die den Angaben in seinem eigenen Brief an Philemon und in den anderen Paulinen, nach denen Markus ein „Zusammen-Werkender“ (συν-εργός - sunergos) mit Paulus war, direkt zu widersprechen scheint.
Die Formulierung legt damit Paulus eine Aussage in den Mund, die den Angaben in seinem eigenen Brief an Philemon und in den anderen Paulinen, nach denen Markus ein „Zusammen-Werkender“ (συν-εργός - sunergos) mit Paulus war, direkt zu widersprechen scheint.
- Als wohl chronologisch letzte Schrift
innerhalb des Neuen Testaments ist es der 1. Petrusbrief, der eine
weitere Korrektur vornimmt und erstmals ganz kurz ein positives - und
dazu äußerst inniges - Verhältnis zwischen Petrus und Markus
andeutet - 1 Pet 5,13: „Es grüßt euch aus Babylon die Gemeinde,
die mit euch auserwählt ist, und mein Sohn Markus.“
Die meisten Bibelausleger verstehen in
diesem Vers den Begriff Babylon als einen „Decknamen“ für Rom.
- Die wohl älteste Nennung von Markus
außerhalb des Neuen Testaments ist als Schrift nicht erhalten
geblieben, sondern findet sich lediglich als Zitat in der
Kirchengeschichte des Eusebius. Eusebius führt dort einen gewissen
Papias an, der – wohl in der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts - die
Lehre eines Presbyters überliefert habe, nach der Markus Begleiter
und Dolmetscher von Petrus gewesen sei.
Eusebius schreibt (Kirchengeschichte,
Buch 3, Kap 39): „Nachdem wir nun die wissbegierigen Leser darauf
aufmerksam gemacht haben, halten wir es für unsere Pflicht, außer
seinen obigen Bemerkungen nun auch noch die Überlieferung
anzuführen, welche er (Anm: Papias) bezüglich Markus, des
Verfassers des Evangeliums, aufgezeichnet hat. Er schreibt: 'Auch
dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn,
an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau,
allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er
den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie
gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen
einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende
Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher
keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete,
wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge:
nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im
Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.' So berichtete Papias über
Markus.“
- Gemäß der herkömmlichen Datierung
bekundet alsdann Justin der Märtyrer etwa zwischen 155 – 160 in
seinem Dialog mit dem Juden Trypho (Kap. 106) folgendes: „Wenn es heißt,
Jesus habe einen der Apostel den Namen Petrus gegeben, und wenn in
dessen Denkwürdigkeiten geschrieben steht, dass er außerdem auch
noch zwei Brüdern, den Söhnen des Zebedäus, den Namen Boanerges,
das ist Donnersöhne, beigelegt habe, so war damit angedeutet, ...“
Obwohl Markus hier nicht namentlich
erwähnt wird, ist uns die Bezeichnung „Boanerges“ lediglich aus
dem Markusevangelium (Mk 3,17) bekannt. Die anderen Evangelisten oder
bekannte apokryphe Evangelien erwähnen sie nicht. Die Annahme liegt
daher nahe, dass Justin hier über das Markusevangelium spricht,
welches er – möglicherweise der Tradition des Papias folgend - als
die „Denkwürdigkeiten des Petrus“ bezeichnet.
- Etwa um 180 bestätigt Irenäus von
Lyon in seinem Werk „Gegen die Häresien“ die Darstellung von
Papias im wesentlichen Punkt (3. Buch, 1. Kapitel, 1): „... als
Petrus und Paulus zu Rom das Evangelium verkündeten und die Kirche
gründeten. Nach deren Tode zeichnete Markus, der Schüler und
Dolmetscher Petri, dessen Predigt für uns auf.“
- Schließlich ist es etwa zur gleichen
Zeit Clemens von Alexandria, der - nach einem Zitat in der
Kirchengeschichte von Eusebius – in seinem verschollenenen Buch
„Hypotyposen“ folgendes darlegte (Kirchengeschichte, 6. Buch,Kap. 14): „In den Hypotyposen gibt Klemens, um es kurz zu sagen,
gedrängte Auslegungen der ganzen Bibel, … Das Evangelium nach
Markus habe folgende Veranlassung gehabt. Nachdem Petrus in Rom
öffentlich das Wort gepredigt und im Geiste das Evangelium verkündet
hatte, sollen seine zahlreichen Zuhörer Markus gebeten haben, er
möge, da er schon seit langem Petrus begleitet und seine Worte im
Gedächtnis habe, seine Predigten niederschreiben. Markus habe
willfahren und ihnen der Bitte entsprechend das Evangelium gegeben.
Als Petrus davon erfuhr, habe er ihn durch ein mahnend Wort weder
davon abgehalten noch dazu ermuntert.“
Die frühen christlichen Schriften
enthalten daher drei Beschreibungen von Markus, sofern die Annahme
begründet ist, dass sich alle Erwähnungen eines „Markus“ auf
ein und dieselbe Person beziehen.
Die Paulinen zeichnen ihn als
wertvollen Mitarbeiter von Paulus, die Apostelgeschichte als Barnabas
nahestehend und mit Paulus im gespaltenen Verhältnis, die übrigen
Schriften als besonders eng mit Petrus zusammenarbeitend.
3) Michael J. Kok untersucht diese
Entwicklung in seinem Buch „The Gospel on the Margins“ sehr
sorgfältig und unter Abwägung aller Gesichtspunkte.
Auf die Frage, aus welchem Grund das
Bild von Markus letztendlich diese Entwicklung genommen hat, gibt Kok
u.a. folgenden Gesichtspunkt zu bedenken. In seinem Buch „Gegen die
Häresien“ beschreibt Irenäus von Lyon, dass das Markusevangelium
die bevorzugte Lektüre einer frühchristlichen Denkrichtung gewesen
sei, die zwischen zwei „Personen“ unterschieden habe: dem
menschlichen Jesus und dem himmlische Christus, der in Jesus nur
„eingewohnt“ habe (3. Buch, 11. Kapitel, 7): „Die aber Jesum
von Christus trennen und behaupten, das Christus leidensunfähig
gewesen sei, Jesus aber gelitten habe, berufen sich auf das
Evangelium nach Markus; wenn sie jedoch dasselbe mit Liebe zur
Wahrheit lesen, können sie sich verbessern.“
In der Auseinandersetzung mit jener
„Häresie“ habe, so Kok, die junge Kirche das Markusevangelium
nicht preisgeben wollen. Zwar habe sie selbst kaum Gebrauch von
Markus gemacht, ihn aber wie einen „alten und schönen Zierrat“
verteidigt und deshalb der rechtgläubigen katholischen Autorität
des Petrus unterstellt. Weitere Ursachen, die Kok ebenfalls erörtert,
mögen dabei nicht ausgeschlossen gewesen sein.
Jedenfalls wurden Petrus und das
Markusevangelium „verbandelt“.
Vielleicht gibt es nur wenige Inhalte
in der kirchlichen Überlieferung, über die man so sehr schmunzeln
kann. Ausgerechnet das Evangelium, in dem Petrus am schlechtesten
wegkommt, wird ihm zur Seite gestellt, und ausgerechnet seine - in
der Kirche hochgehaltene - Autorität beschützte die gegen ihn
opponierende Schrift von Markus. Ich vermag nicht zu erahnen, was
Kephas (- der historische Petrus) darüber gedacht hätte. Aber
Markus mit seiner feinen Ironie hätte zu guter Letzt wohl doch
darüber lächeln können.
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