Samstag, 14. März 2015

Markus, Josephus und das Buch Esther


Teil 1 – Das Buch Esther, der Alpha-Text und Josephus

Königin Esther - via preciousoils.wordpress
1) Das Markusevangelium zitiert in Mk 6,14-29 mehrmals aus dem Buch Esther. Ich frage mich vor allem, was der Sinn dieser Zitate ist und möchte mir einige Gedanken darüber machen, aus welchem Grund Markus an dieser Stelle auf Esther anspielt.

Diese Frage wirft ein heikles Problem auf. Die Geschichte über die schöne Esther ist uns nämlich in drei, teilweise erheblich voneinander abweichenden Fassungen aus der Antike überliefert sowie zusätzlich in einer Nacherzählung:

- der masoretische Text der hebräischen Bibel (Mt)
- die griechische Fassung der Septuaginta (LXX)
- der sogenannte griechische Alpha-Text, auch als A-Text bezeichnet (A)
- der griechische Bericht von Josephus Flavius in den „Jüdischen Altertümern“

Man weiß also nicht, welches Esther-Buch Markus eigentlich kannte. Die Behauptung, dass Markus daraus zitiert hätte, entbehrt somit nicht einer gewissen Komik. Ich habe mir deshalb die unterschiedlichen Fassungen von Esther etwas näher angesehen. Mein vorsichtiger Eindruck ist, dass Markus – ebenso wie Josephus – möglicherweise mehrere Esther-Bearbeitungen kannte oder eine Fassung, die nicht nur mit der LXX vergleichbar ist, sondern auch mit dem Alpha-Text. (In der Bibliothek von Qumran wurde das Buch Esther übrigens nicht gefunden - als einziges Buch der hebräischen Bibel.)

Im ersten Teil dieses Beitrags möchte ich zunächst nur etwas zu den unterschiedlichen Esther-Büchern sagen und auf bestimmte Motive der Esther-Geschichte sowie einige literarische Tricks und Techniken des Buches Esther hinweisen. Abschließend möchte ich zeigen, dass die Nacherzählung von Josephus an einigen Stellen mit dem Alpha-Text (A) gegen Mt und LXX übereinstimmt. Dies, um sicher sein zu können, dass der Alpha-Text keine wesentlich spätere Nachbearbeitung der LXX-Fassung ist, sondern - zumindest in einer Urfassung oder nahestehenden Bearbeitung - ebenfalls schon um die Zeitenwende vorlag (- auch wenn er textlich nur durch Bibeln belegt ist, die nach dem Jahr 1000 entstanden sind). In seinem 2009 erschienen Esther-Kommentar beschreibt Harald Wahl den Stand der aktuellen Diskussion dahingehend, dass die meisten Spezialisten davon ausgehen, dass ein Vorläufer des A-Textes (protoA) älter ist als die LXX (bei ihm als B-Text bezeichnet), vielleicht sogar älter als der masoretische Text.

Die Schlussfolgerung, die ich gern ziehen möchte, liegt natürlich auf der Hand: Hat Josephus den A-Text gekannt, dann könnte ihn auch Markus gekannt haben.


2) Für den deutschsprachigen Leser sind wichtige Unterschiede zwischen Mt und LXX erkennbar, wenn er z.B. die (kleine) Luther oder die Elberfelder mit der Einheitsübersetzung vergleicht.

Luther und Elberfelder sind Übersetzungen nur des Mt, während die Einheitsübersetzung ein „Mischtext“ ist. Dieser enthält eine Übersetzung des hebräischen Textes (Mt) mit den (sogenannten) Zusätzen aus der Septuaginta (LXX). Diese LXX-Zusätze sind in besonderer Weise, nämlich mit Kleinbuchstaben, gekennzeichnet. Das erste Kapitel der Einheitsübersetzung des Buches Esther bietet beispielsweise zunächst die LXX-Verse 1 a) bis 1 r) und alsdann die Mt-Verse 2 bis 22.
P.Oxy. 4443, LXX  E16-9.3, 1./2. Jhdt.
via Oxyrhynchus online


Die Ergänzungen, die im Mt fehlen, aber in LXX und A enthalten sind, kann man wie folgt überschreiben:

a) Traum des Mordechai
b) Wortlaut des Vernichtungs-Edikts gegen die jüdische Bevölkerung
c) Gebete von Mordechai und Esther
d) Esthers Gang zum König
e) Wortlaut des Gegen-Edikts
f) Deutung des Traums von Mordechai

Aus der Nacherzählung von Josephus (Jüdische Altertümer, Buch 11, Kapitel 6) ergibt sich nun, dass er die Esther-Geschichte einerseits mit den Zusätzen (b, c, d, e) kannte, andererseits aber auch an einigen Stellen mit dem hebräischen Text übereinstimmt, wo dieser von der LXX und dem A-Text abweicht. Ob ihm die Fassung mit dem Traum des Mordechai und dessen Deutung (a, f) unbekannt war oder ob er diese nur nicht erwähnte, muss offen bleiben. Im Übrigen enthält die Nacherzählung von Josephus aber auch Ergänzungen, die weder im hebräischen noch in den griechischen Fassungen zu finden sind. Ob Josephus eine andere Esther-Bearbeitung kannte, mehrere Fassungen oder inwieweit er eigene bzw. ihm bekannte Interpretationen in seine Nacherzählung einfließen ließ, ist ungeklärt.

Der ansonsten wichtigste Unterschied zwischen dem hebräischen Mt und den griechischen Bearbeitungen ist, dass in den beiden letzteren Gott aktiv in das Geschehen eingreift. In der hebräischen Fassung, die zudem weitaus satirischer und weniger „barock“ gestaltet wurde, ist Gott „abwesend“.

Die LXX-Fassung und der A-Text unterscheiden sich vor allem dadurch, dass A kürzer ist, jedoch auch einige kleinere Zusätze enthält. Im Wortlaut können einzelne Verse stark abweichen, andere hingegen fast gleichlautend sein. An mehreren Stellen stimmt der Alpha-Text mit dem hebräischen Mt gegen die LXX überein. Thematisch scheint die LXX ein größeres Interesse an Esther zu haben, während A etwas mehr Gewicht auf die Auseinandersetzung zwischen Mordechai und Haman legt.


3) Das Buch Esther

Wie man weiß, ist das Buch Esther die Gründungslegende des Purimfestes. Die schöne Esther wird Königin am persischen Hof und gemeinsam mit ihrem Onkel Mordechai gelingt es ihr, die vom Judenverfolger Haman ausgehende, drohende Vernichtung aller Juden abzuwenden.

Zugleich ist es aber auch eine Komödie über Hofintrigen und weist einige einfache, aber durchaus gelungene literarische Tricks auf, denen es sicher seine große Beliebtheit in der Antike verdankte. Einige Motive der Erzählung:

Der König

Im Mittelpunkt des Geschehens steht der persische König mit seiner allumfassenden Macht. Zugleich ist er ein von Gefühlsaufwallungen gesteuerter Mann. SEIN „Grimm“ und SEIN „Zorn“ sind in der Erzählung königliche Eigenschaften, die zu ihm ebenso gehören wie SEIN Zepter und SEIN Thron. Dieser König ist deshalb leicht lenkbar, wenn man den geeigneten Moment abpasst, seine Gefühlslage errät und die richtigen ehrerbietigen Worte findet. Sie begegnen gleich im ersten Kapitel, als Königin Waschti sich dem Willen des Königs verweigert, als zu „begaffendes“ Schauobjekt auf dem Männergelage zu erscheinen (Mt 1,12: „Da wurde der König sehr zornig, und sein Grimm entbrannte in ihm.“). Der Ratgeber Memuchan bringt nun die treffenden Worte vor (Mt 1,19: „Gefällt es dem König, so lasse man ein königliches Gebot von ihm ausgehen ...“). Solchen Worten kommt der König stets nach (Mt 1,21 „Das gefiel dem König und den Fürsten und der König tat nach dem Wort Memuchans.“)

Auf ähnliche Weise gelingt es Haman, das Vernichtungsedikt gegen die jüdische Bevölkerung zu erwirken (Mt 3,9Gefällt es dem König, so lasse er schreiben, dass man sie umbringe“), Esther, den König mit Haman zu ihren beiden Festmählern einzuladen (Mt 5,4 „Gefällt es dem König, so komme der König mit Haman heute zu dem Mahl“, Mt 5,8Hab ich Gnade gefunden vor dem König und gefällt es dem König, meine Bitte zu gewähren ...“) und das Vernichtungsedikt gegen die Juden abzuwenden (Mt 7,3Hab ich Gnade vor dir gefunden, o König, und gefällt es dem König, so gib mir mein Leben um meiner Bitte willen und mein Volk um meines Begehrens willen.“, Mt 8,5: „Gefällt es dem König und habe ich Gnade gefunden vor ihm, und dünkt es den König recht und gefalle ich ihm, so möge man die Schreiben mit den Anschlägen Hamans ...“) und schließlich die weitere Vernichtung der jüdischen Gegner zu bewirken (Mt 9,13: „Gefällt's dem König, so lasse er auch morgen die Juden in Susa tun nach dem Gesetz für den heutigen Tag, aber die zehn Söhne Hamans soll man an den Galgen hängen.“) Im gleichen Maß, in dem Esthers Worte gegenüber dem König immer ehrerbietiger werden, gelingt es ihr, immer mehr ihren eigenen Willen durchzusetzen. Für den Leser, der hinter dem Aufbrausen die Schwäche des Königs durchschaut, werden diese Worte zum „running gag“ und einem Merkzeichen der Erzählung.

Haman, der König und die enttäuschten Erwartungen

Eine weiteres Motiv der Erzählung ist die Enttäuschung von „bösen“ und „überheblichen“ Erwartungen. Das Schicksal verspottet die Ungerechtigkeit. Haman glaubt irrtümlich, der König wolle ihn selbst ehren, und denkt sich für sich selbst eine besonders prachtvolle Ehrung aus (Mt 6,7-9). In Wahrheit ist es aber Hamans Gegner Mordechai, der geehrt wird, und Haman muss gedemütigt die Ehrung an Mordechai vollziehen (Mt 6,10-11). Gleichermaßen plant Haman, Mordechai aufhängen zu lassen und errichtet dafür bereits einen hohen Pfahl (Mt 5,14). Am Ende ist es jedoch Haman selbst, der daran aufgehängt wird (Mt 7,9-10).

Der König seinerseits verstößt seine Königin Waschti, die sich lediglich entsprechend der Würde einer Königin verhalten hat und will sich eine neue Königin wählen. Nach Memuchans Rat soll diese „besser“ sein, damit „alle Frauen ihre Männer in Ehren halten bei Hoch und Niedrig“ und „ein jeder Mann der Herr in seinem Hause sei“ (Mt 1,19-22). Zum Schluss ist nach der Erzählung aber „Esther“ die Herrin im Hause, die ihren Ehemann ganz nach Belieben lenkt. Der König fragt im Verlauf der Erzählung immer eindringlicher nach Esthers Wünschen (Mt 9,14: „Was bittest du, dass man dir's gebe? Und was begehrst du mehr, dass man's tue?“). Nachdem Esther ihre Wünsche – natürlich höchst ehrerbietig – geäußert hat, heißt es nur noch (Mt 9,15): „Und der König befahl, so zu tun.

Haman wird im Verlauf der Erzählung immer überheblicher. Er steigt in der Gunst des Königs „über allen Fürsten“ auf, erwartet von allen hohe Ehrerbietung und prahlt mit dieser. Schließlich nimmt er selbst Züge des Königs an. Auch er wird grimmig (Mt 3,5) und überaus zornig (Mt 5,9). In seinem Irrtum, dass er selbst und nicht Mordechai vom König geehrt wird, wünscht er sich königliche Kleider und ein königliches Pferd, um selbst ganz wie ein König in der Öffentlichkeit auftreten zu können. Er ist höchst beglückt über die Einladungen zum Mahl bei der Königin und stellt dies bereits nach außen so dar, dass ER eingeladen sei - mit dem König (Mt 5,12). Haman ist zweiter Mann im Königreich, schielt aber heimlich darauf, des Königs Stelle einzunehmen. Zu Recht sprechen die LXX und A von ihm als dem „Prahlhans“. In dem Maße, in dem der eitle Haman immer mehr die Launen des Königs annimmt, erscheint dem Leser aber auch der launenhafte König selbst als „aufgeblasener Prahlhans“.

Esthers Entwicklung

Esther wird zunächst als gehorsames Mädchen dargestellt, dass sich streng an die Weisungen ihrer Beschützer hält. Auf Mordechais Rat hält sie zunächst ihre Volkszugehörigkeit geheim (Mt 2,10: „Aber Ester sagte ihm nichts von ihrem Volk und ihrer Herkunft; denn Mordechai hatte ihr geboten, sie solle es nicht sagen.“) Obwohl man der Jungfrau, die zum König geht, „alles geben musste, was sie wollte,“ (Mt 2,13) folgt Esther strikt den Vorgaben von Hegai, dem Hüter der Frauen. (Mt 2,15 „Als nun für Ester, ... die Zeit herankam, ... begehrte sie nichts, als was Hegai, ... sagte.“) Auch nach ihrer Krönung hält sie sich noch streng an Mordechais Ratschläge (Mt 2,20: „Und Ester hatte noch nichts gesagt ..., wie ihr Mordechai geboten hatte; denn Ester tat nach dem Wort Mordechais wie zur Zeit, als er ihr Pflegevater war.“)

Die Persönlichkeit von Esther nimmt eine Wendung, als Mordechai ihr aufträgt, beim König für die Rettung der Juden zu bitten und dabei an ihre jüdische Identität appelliert. Esther nimmt die Sache schließlich selbst in die Hand, ist bereit, ihr Leben zu wagen, wird zur würdevollen Königin und erteilt nun ihrerseits Mordechai Anweisungen (Mt 4,15-16 „Ester ließ Mordechai antworten: So geh hin und versammle alle Juden, die in Susa sind, und fastet für mich, ... Auch ich und meine Dienerinnen wollen so fasten. Und dann will ich zum König hineingehen entgegen dem Gesetz. Komme ich um, so komme ich um.“) Es ist nun Mordechai, der sich an Esthers Willen hält (Mt 4,17: „Mordechai ging hin und tat alles, was ihm Ester geboten hatte.“)


Andrei Rjabuschkin: Esther wagt ihr Leben und erscheint ungerufen vor dem König - via commons.wikimedia

Die Erzählung läuft nunmehr auf die List zu, mit der Esther den König und Haman gegenseitig ausspielt. Sie verdeutlicht dem König nämlich durch ihr Verhalten, dass Haman ihm an Rang ebenbürtig und für seine Macht gefährlich geworden ist. In 5,4 lädt Esther den König mit Haman zu dem Mahl, dass sie für „ihn“ bereitet hat („... so möge der König mit Haman heute zu dem Mahl kommen, das ich ihm bereitet habe.“) In 5,8 ist es dann ein Mahl, dass sie für beide, den König und Haman, bereiten will („so möge der König mit Haman zu dem Mahl kommen, das ich ihnen bereiten will.“ - Die Elberfelder ist hier näher am Sinn und Wortlaut des Mt als die Luther.) Deshalb enthält die Erzählung die auf den ersten Blick sinnlose Wiederholung der Bitte und des zweiten Mahls. Dem König wird hierdurch klar, wie gefählich Haman für ihn selbst geworden ist, da scheinbar sogar die Königin um Hamans Gunst zu werben beginnt und ihn als möglicherweise zukünftigen Thronfolger ansieht. Der König hat daher eine schlaflose Nacht (Mt 6,1), beginnt Mordechai zu protegieren, als Gegenspieler gegen Haman aufzubauen und entledigt sich des Haman bei der erstbesten Gelegenheit (Mt 7,9).

Aus dem unschuldigen Mädchen und der listigen Königin wird zuletzt aber auch die gnadenlose Rachegöttin, die alle Feinde der Juden zu vernichten sucht (9,5: „So schlugen die Juden alle ihre Feinde mit dem Schwert und töteten und brachten um und taten nach ihrem Gefallen an denen, die ihnen Feind waren.“) und um die Verlängerung des Blutvergießens bittet (9,13 „Gefällt's dem König, so lasse er auch morgen die Juden in Susa tun ..., aber die zehn Söhne Hamans soll man an den Galgen hängen.“)

Die Boten

Ein Randthema, dass besonders der Mt und die LXX entwickeln, sind die Boten, die ausgeschickt werden, um die Anordnungen des Königs und späterhin auch Mordechais und Esthers in allen Ländern zu verkünden. Zunächst das Schreiben nach Waschtis Absetzung (1,22), dann das Vernichtungsedikt von Haman (3,13), das Gegen-Edikt (8,10.14.17), Mordechais Schreiben (9,20) und schließlich das zweite Schreiben von Esther und Mordechai über die Einsetzung des Purimfestes (9,30). Als Beispiel hier 8,14: „Und die reitenden Boten auf den besten Pferden ritten aus schnell und eilends nach dem Wort des Königs, und das Gesetz wurde in der Festung Susa angeschlagen.

Daneben tauchen aber auch Boten auf, die nur „Worte“ überbringen. Zunächst der Befehl des Königs an Waschti (1,10), danach Mordechais Anzeige über den geplanten Mordanschlag auf den König, die Esther übermittelt (2,22), der treue Eunuch Hatach, der zwischen Esther und Mordechai Botschaften überbringt (4,5) und Haman, der die Ehrung Mordechais durch den König in der Öffentlichkeit verkünden muss (6,10-11).

Die Anspielung auf andere Schriften der hebräischen Bibel

Das Buch Esther nimmt Bezug auf Genesis, Exodus und 1 Samuel. Besonders deutlich wird dies bei der Charakterisierung der Gegner Mordechai und Haman. Mordechai kommt aus dem Stamm Benjamin (2,5), Haman ist Agagiter (3,1). In 1 Samuel 15 standen sich bereits König Saul aus dem Stamm Benjamin und Agag, der König der Amalekiter, gegenüber. Allein durch ihre Vorfahren werden Mordechai und Haman im Buch Esther also als Todfeinde ausgewiesen. Auch das Buch Exodus mag hier in Bezug genommen sein (2. Mo 17,14-16: „Und der HERR sprach zu Mose: ... denn ich will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner nicht mehr gedenke. Und Mose ... sprach: ... Der HERR führt Krieg gegen Amalek von Kind zu Kindeskind.“)

In vielen Einzelheiten ähnelt Esther zudem Josef und Moses während ihres Wirkens in Ägypten.


4) Josephus und der Alpha-Text

Um zunächst keinen falschen Eindruck hervorzurufen: Die Nacherzählung von Josephus Flavius scheint im Ganzen vorrangig auf der griechischen LXX zu beruhen bzw. auf einer ihr nahestehenden Fassung. Sie unterscheidet sich vom Alpha-Text in vielen Punkten. Gleichzeitig enthält sie aber auch einzelne Informationen und Wendungen, die ausschließlich im A-Text vorkommen. Dies spricht dafür, dass Josephus den A-Text neben Mt und LXX zusätzlich kannte oder ihm die Esther-Geschichte in einer Textfassung vorlag, die bereits eine Mischung aus Mt, LXX und A war, so dass der A-Text oder ein Vorläufer von A jedenfalls zu Zeiten von Josephus bereits vorlag.

Dies ist auch die Meinung der Übersetzerinnen der Esther-Bücher LXX und A in der „Septuaginta Deutsch“, Kristin De Troyer und Marie-Theres Wacker, die übrigens eine wirklich fantastische Übersetzung erarbeitet haben: „Da der jüdische Historiker Flavius Josephus in seiner Nacherzählung der Estergeschichte (11. Buch der 'Jüdischen Altertümer') die A-Version zu kennen scheint, dürfte sie selbst noch zur Zeit des Zweiten Tempels (vor 70 n.Chr.) wohl in Palästina entstanden sein.

Ich will dies hier an 5 kleinen Beispielen zeigen, die man beliebig verlängern kann:

a. Nur Josephus und der A-Text erwähnen, dass des Königs Fest in Esther 1:6 in einem „Zelt“ stattfindet. Mt und die LXX erwähnen hingegen aufgehängte Tücher und Stoffe.


Josephus AJ 11.6.1 (187)
σκήνωμα πηξάμενος“
A-Text 1:6
„και σκην τεταμνη“
LXX 1:5-6
„τεταμνοις π σχοινοις βυσσνοις κα πορφυρος“
Mt 1:6
„Aus goldenen und silbernen Säulen ließ er ein Zeltgerüst aufführen ...“
„... und ein Zelt … mit Gold überzogenen Säulen aus parischen Marmor“
„… Hof des Königshauses, der geschmückt war mit Bysussleinen und Flachs, aufgespannt an Stricken aus Byssus und Purpur über goldenen und silbernen Würfeln an Säulen aus parischem Marmor und aus Stein“
„Da hingen (waren befestigt) weiße, rote und blaue Tücher, mit leinenen und scharlachroten Schnüren eingefasst, in silbernen Ringen an Marmorsäulen.“


b. Nur Josephus und der A-Text enthalten die Aussage Mordechais gegenüber Esther, dass „Gott“ den Juden helfen wird, wenn sie es nicht tut. Mt und die LXX erwähnen, dass den Juden Hilfe von einem „andern Ort“ zuteil werden wird.

Josephus AJ 11.6.7 (227) „σεσθαι μν ατ βοήθειαν παρ το θεο πάντως“
A-Text 4:14 „άλλ' ό θεός έσται αύτοΐς βοηθός καϊ σωτηρία“
LXX 4:14 „λλοθεν βοθεια κα σκπη σται“
Mt 4:14
„wenn sie selbst sich auch dazu nicht verstehen wolle, so werde der Herr schon auf die Rettung desselben bedacht sein“
„Wenn du über Dein Volk hinwegsiehst, indem du ihnen nicht hilfst, so wird doch Gott ihnen Hilfe und Rettung sein ...“
„denn wenn du zu diesem Zeitpunkt weghörst, dann werden die Juden von anderswoher Hilfe und Schutz haben“
„Denn wenn du zu dieser Zeit schweigen wirst, so wird eine Hilfe und Errettung von einem andern Ort her den Juden erstehen ...“


c. Nur Josephus und der A-Text erwähnen, dass das von Haman erwirkte Vernichtungsedikt u.a. an die „Satrapen“ gerichtet ist. Im Mt fehlt der Wortlaut dieses Schreibens, die LXX nennt „Toparchen“.

Josephus 11.6.6 (216) „κα κατν σατραπειν ρχουσι τάδε γράφει“
A-Text 3:14 (B:1): „καϊ επτά χωρών άρχουσι καϊ σατράπαις τάδε γράφει“
LXX B:1 „κατν εκοσι πτ χωρν ρχουσι κα τοπρχαις ποτεταγμνοις τδε γρφει“
Mt
„Artaxerxes, der große König, lässt den 127 Satrapen von Indien bis Äthiopien also entbieten“
„Der Großkönig Assveros schreibt an die Obersten der 127 Länder, von Indien bis Äthiopien, und an die Satrapen Folgendes:“
„Der Großkönig Artaxerxes schreibt Folgendes an die Obersten der 127 Länder, von Indien bis Äthiopien, und an die untergeordneten Toparchen:“
Der Wortlaut des Edikts Hamans im Namen des Königs ist nicht im Mt enthalten.


d. Bei Esthers Einladung zum ersten Mahl heißt es nur bei Josephus und im A-Text, dass Esther zum König sagt: Du und Dein Freund Haman. Der Wortlaut in Mt und der LXX ist nur „Du und Haman“.

Josephus 11.6.9 (242): „μετ μάνου το φίλου
A-Text 5:4 (D:14) „εϊσελθε συ καϊ Αμάν ό φίλος σου εις τον πότον“
LXX 5:4 „κα ατς κα Αμαν ες τν δοχν “
Mt 5:4
„Esther jedoch bat ihn nur, mit seinem Vertrauten Haman zu ihr speisen zu kommen“

“Wenn es nun dem König (gut) erscheint, komme du und Dein Freund Haman zum Trinkgelage... “
“Wenn es nun dem König (gut) scheint, komme er und auch Haman zum Mahl ...“

„Gefällt es dem König, so komme der König mit Haman heute zu dem Mahl ...“


e. Im Wortlaut des von Esther erwirkten Gegen-Edikts wird nur bei Josephus und im A-Text der König so zitiert, dass er sich zukünftig nicht mehr Verleumdungen nutzbar machen wolle. Mt enthält den Wortlaut dieses Brief nicht, in der LXX heißt es, dass der König sich zukünftig die „Veränderungen nutzbar“ machen wolle.

Josephus 11.6.12 (276): „ς διαβολας μν κα κατηγορίαις μ προσέχειν“
A-Text 8:24 (E:9) „οΰ χρώμενοι ταΐς διαβολαΐς,“
LXX E:9 „χρμενοι τας μεταβολας τ δ π
Mt
„Entschluss gekommen, bloßen Anklagen und Beschuldigungen kein Gehör zu geben“
„... dass wir zukünftig auf die Grausamkeit der Mächtigen achten …, indem wir uns die Verleumdungen nicht zunutze machen ...“
“Wir werden uns vornehmen, … indem wir uns die Veränderungen zunutze machen ...“
Der Wortlaut des Gegen-Edikts ist nicht im Mt enthalten.

Insbesondere hinsichtlich des Beispiels e. - und wohl auch c. - könnte der A-Text meines Erachtens die ursprünglichere Lesart enthalten.


5) Schluss

via bibelwerk.ch

Zu guter Letzt sei auf das schöne Büchlein von Marie-Theres Wacker, „Ester: Jüdin – Königin – Retterin“, Katholisches Bibelwerk, 2006, verwiesen. Eine liebevolle, hochmoderne und tiefschürfende Auslegung des Buches Esther (und Anregungen zur Gemeindearbeit) zum äußerst günstigen Preis.

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Quellen dieses Beitrags

Esther A-Text/LXX - Griechisch parallel
Esther LXX/A-Text - Englisch parallel
Josephus - Griechisch
Josephus - Deutsch
(Deutsche Zitate aus LXX und A-Text nach der „Septuaginta Deutsch“, leider nicht online.)

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