1) Anlass für diesen Beitrag sind die
teils recht heftigen Diskussionen, die
seit mehreren Jahren im englischen Sprachraum zu dieser Frage geführt werden, die
nunmehr dort einen Höhepunkt erreichten und zudem auch hierzulande
Einzug gefunden haben.
Der ... hüstl ... historische Jesus? via asiaonourmind.blogspot |
Am 18.12.2014 veröffentlichte die
angesehene US-amerikanische Tageszeitung „The Washington Post“ einen
Artikel des Religionswissenschaftlers Raphael Lataster mit dem Titel
„Did historical Jesus really exist?“ und dem Fazit: „There are
clearly good reasons to doubt Jesus’ historical existence.“
Bereits nach zwei Tagen verzeichnete der Artikel mehr als 5000
Leserkommentare, die jeweils hitzig für Pro und Contra stritten.
Auf dem Sci-log „Natur des
Glaubens“ von Michael Blume erschien am 15.11.2014 ein
Gastbeitrag von Zoran Jovic, in dem die Thesen der Verneiner eines
historischen Jesus recht polemisch zurückgewiesen und diese in die
Nähe von Holocaustleugnern, Ufologen und Zeitfälschungs-Theoretikern
gerückt werden.
Schließlich strahlte der Sender
Phoenix am 21.12.2014 eine Folge von Guido Knopp´s „History Live“
mit dem Titel „Jesus – Mythos und Wahrheit“ aus, in der die
Theologen Annette Merz, Klaus Wengst und Hermann Detering auch über
diese Frage disputierten und sich dabei achtbar schlugen. Besonders
der angenehm sachliche Tonfall der drei Theologen, die jeweils
unterschiedliche Positionen vertraten, ist vorbildlich. Der Mitschnitt der Sendung kann in voller Länge angesehen
werden.
Man könnte vielleicht vermuten, dass
ich - mit meinem rein literarischen Verständnis des
Markusevangeliums - ebenfalls zu der Annahme neige, dass es einen
historischen Jesus gar nicht gegeben hat. Der einzige Grund, warum ich überhaupt einmalig
etwas zu dieser Frage sagen möchte, ist ein in der gesamten
Diskussion meines Erachtens übersehenes Argument. Es läuft darauf
hinaus, dass – selbst wenn man nicht ein einziges Detail aus den
Evangelien als historisch wahr ansieht und wenn man davon ausgeht, dass Paulus keinen irdischen Jesus, sondern einen himmlischen Christus predigte - dennoch ein Anhaltspunkt für
einen historischen Jesus besteht. Der vorliegende Beitrag mag deshalb
vor allem für Historische-Jesus-Skeptiker interessant sein.
2) Beginnen möchte ich zunächst mit einer Kritik von Übersetzungen zweier Schriftstellen, nämlich Mk 2,7 (Heilung des Gelähmten) und Mk 4,41 (Sturmstillung):
In der „Neuen Genfer“ lauten Mk
2,6-7: „6 Einige Schriftgelehrte, die dort saßen, lehnten sich
innerlich dagegen auf. 7 'Wie kann dieser Mensch es wagen, so etwas
zu sagen?', dachten sie. 'Das ist ja Gotteslästerung! Niemand kann
Sünden vergeben außer Gott.'“ In gleichem Sinn die
Einheitsübersetzung: „7 Wie kann dieser Mensch so reden?“
In der „Hoffnung für alle" heißt
es für Mk 4,41: „Voller Entsetzen flüsterten die Jünger einander
zu: 'Was ist das für ein Mensch! Selbst Wind und Wellen gehorchen
ihm!'“ Erneut die Einheitsübersetzung: „Was ist das für ein
Mensch, dass ihm sogar der Wind ...“
Der Fehler an diesen Übersetzungen
ist, dass der griechische Grundtext das Wort für „Mensch“
jeweils nicht enthält. Offenbar haben die Übersetzer den Wortlaut
für eine schwache Formulierung von Markus gehalten und sind
„automatisch“ davon ausgegangen, dass ihre eigenmächtige
Ergänzung des Wortes „Mensch“ den in ihren Augen angeblichen Sinn des Verses viel besser wiedergibt. Tatsächlich scheinen mir diese Stellen
für den gegenteiligen Sinn zu sprechen, dass nämlich Markus
zunächst bewusst vermeidet, Jesus als „Mensch“ zu bezeichnen
bzw. von einer der handelnden Personen im Evangelium bezeichnen zu
lassen. Dies geschieht erst gegen Ende des Evangeliums - und zwar
durch Petrus und den römischen Zenturio:
Petrus bei der Verleugnung – Mk 14,71
„Er aber begann zu fluchen und zu schwören: Nicht kenne ich diesen
Menschen von dem ihr redet.“
der römische Zenturio – Mk 15,39:
„Wahrhaftig, dieser der Mensch Sohn Gottes war.“ (Ἀληθῶς
οὗτος ὁ ἄνθρωπος υἱὸς θεοῦ ἦν)
Ἀληθῶς | οὗτος | ὁ | ἄνθρωπος | υἱὸς | θεοῦ | ἦν |
Wahrhaftig | dieser | der | Mensch | Sohn | Gottes | war |
Es sind also im Markusevangelium
lediglich zwei Personen in negativem Kontext, die Jesus als „Mensch“
bezeichnen. Zum einen der verleugnende Petrus und zum anderen der
Henker.
3) Was an Mk 15,39 auffällt, ist die
sperrige Formulierung „dieser (οὗτος) der Mensch“.
In Mk 7,6 findet sich ein
vergleichbarer Fall im dort angeführten Jesaja-“Zitat“ (Jes
29,13): „Οὗτος ὁ λαὸς ...“ „Dieses das Volk (mit
Lippen mich ehrt, aber ihr Herz weit entfernt ist von mir ...)“
Beachtlich ist, dass Markus das
LXX-Jesaja-Zitat nicht korrekt wiedergibt. Denn in der Septuaginta heißt
es nicht „Οὗτος ὁ λαὸς ...“, sondern „ὁ λαὸς
οὗτος“ (das Volk welches …). Es macht den Eindruck, als
habe Markus das Wort „οὗτος“ mit Absicht und zum Zwecke der
Betonung vorangestellt.
Dies lässt sich für alle Stellen im
Markusevangelium zeigen, die das Wort „οὗτος“ enthalten.
Markus verwendet dieses Wort – im Gegensatz zu den anderen
Evangelisten – niemals mit der Erzählstimme, sondern
ausschließlich in wörtlichen Reden und in Schriftzitaten. Keine
„οὗτος“-Stelle erweckt den Anschein, als habe Markus das
Wort nur zufällig oder gedankenlos verwendet. Stets scheint „οὗτος“
eine besondere Betonung anzuzeigen. Hier sind alle zwölf Stellen,
die ich meist in der Übersetzung der Offenen Bibel übernehme,
jedoch die „οὗτος“-Stelle mit einer Form von „dies“
hervorhebe:
Mk 2,7 Es saßen aber einige
Schriftgelehrte dabei, die überlegten bei sich: 7 „Warum redet
dieser (οὗτος) so?
Mk 3,35 Jeder, der tut, was Gott
gefällt, dieser (οὗτος) ist mir Bruder, Schwester und Mutter.“
Mk 4,41 „Wer ist dieser (οὗτος),
dass sogar der Wind und das Meer ihm gehorchen?“
Mk 6,3 Ist dieser (οὗτος) nicht
der Handwerker, Marias Sohn und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas
und Simon?
Mk 6,16 Als Herodes das hörte, rief
er: „Der, den ich enthauptet habe, Johannes, dieser (οὗτος)
ist auferweckt worden!"
Mk 7,6 Dieses (Οὗτος) das Volk
mit Lippen mich ehrt, aber ihr Herz weit entfernt ist von mir
Mk 9,7 Und eine Wolke erschien über
ihnen, aus der eine Stimme kam: „Dieser (οὗτος) ist mein
geliebter Sohn, hört auf ihn!“
Mk 12,7 Dieser (οὗτος) ist der
Erbe! Kommt, wir bringen ihn um, dann wird das Erbe uns gehören
Mk 12,10 Der Stein, den die Bauleute
verworfen haben, dieser (οὗτος) ist zum Eckstein geworden
Mk 13,13 Wer aber beharrt bis an das
Ende, dieser (οὗτος) wird gerettet werden
Mk 14,69 Und die Magd … fing abermals
an, denen zu sagen: Dieser (οὗτος) ist einer von denen.
Mk 15,39 Wahrhaftig, dieser (οὗτος)
der Mensch Sohn Gottes war.
Diese besondere Verwendung des Wortes
„οὗτος“ bei Markus indiziert, dass die Betonung des
Erzählers in Mk 15,39 nicht auf dem Begriff „Sohn Gottes“,
sondern auf dem Wort „Mensch“ liegt.
4) Bereits an anderen Stellen habe ich
erläutert, warum ich den Philipper-Hymnus als für Markus besonders
bedeutsam erachte und warum meiner Auffassung nach, der Evangelist
Johannes das Markusevangelium kannte.
Unter Zugrundelegung dessen kann man
eine Linie von Paulus über Markus zu Johannes ziehen, die um das
Thema des „menschlichen“ Jesus kreist. Man erkennt, dass Johannes
Mk 15,39 wohl ebenfalls so verstanden hat, dass die Betonung auf dem Wort
„Mensch“ liegt und das ihn diese Stelle wahscheinlich zu Joh 19,5 inspirierte.
Phil 2,5-8 | Mk 14,70-71 | Mk 15,39 | Joh 19,5 |
5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. |
70b Und nach einer kleinen Weile
sprachen die, die dabeistanden, abermals zu Petrus: Wahrhaftig, du
bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer.
71 Er aber fing an, zu fluchen und zu schwören: Ich kenne den
Menschen nicht, von dem ihr redet.
|
Der Zenturio aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so seinen Geist aufgab, sprach: Wahrlich, dieser der Mensch ist Gottes Sohn gewesen! | Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch! |
Erkennbar ist, wie Markus Phil
2,8 in seiner Erzählung umsetzt. Er vermeidet es, zunächst Jesus
als „Mensch“ zu bezeichnen und lässt ihn zum Schluss durch
Petrus und den Zenturio „der Erscheinung nach als Mensch erkennen“.
Zugleich wird deutlich, dass der
Ausspruch des Zenturios in Mk 15,39 - aus der Sicht von Paulus und Markus - kein
hochlöbliches Glaubensbekenntnis, sondern eher Blasphemie ist. Für
den Paulus des Philipperbriefs war Jesus eine göttliche Gestalt, die sich
ihrer Göttlichkeit entäußerte, sich in ihrem Sein erniedrigte und den Menschen gleichmachte. Für den
römischen Zenturio ist Jesus das genaue Gegenteil, nämlich ein
Über-Mensch, den er wie die antiken Herrscher und Helden im Tod in typisch
heidnisch-barbarischer Weise vergöttlicht.
5) Ich scheine mich von meinem
Ausgangspunkt immer weiter zu entfernen. Tatsächlich habe ich den
Bogen bereits geschlagen und bin ans Ende gelangt.
Denn sowohl Paulus als auch Markus
setzen voraus, dass es bereits vor ihnen eine christliche Tradition
gab, die Jesus als einen „Menschen“ ansah (Und es
besteht deshalb keinerlei Notwendigkeit auf spätere und fragwürdigere christliche
Schriftsteller wie Lukas oder Matthäus oder gar die Ebioniten zu
verweisen). Unsere frühesten Quellen bezeugen eine urchristliche Meinung, die Jesus als Menschen ansah, auch wenn diese Quellen (Paulus und Markus) diese Ansicht selbst nicht teilten.
Wenn Paulus in Phil 2,8 sagt, dass
Jesus „der Erscheinung nach als Mensch erkannt wurde“, dann verweist er darauf, dass eine ihm zeitlich vorausgehende urchristliche
Gruppierung Jesus (aus Sicht von Paulus irrtümlich) für einen
Menschen hielt, dieser aber nach der ihm, Paulus, zuteil gewordenen
Offenbarung in Wahrheit von göttlichem Sein sei. Diese „Irrenden“
werden von Markus mit Petrus und dem Zenturio gleichgesetzt, die im
Augenblick der Verleugnung bzw. der Hinrichtung das Wort im Mund
führen, dass Jesus ein „Mensch“ (gewesen) sei. Typisch ist bei Markus auch die Darstellung der Verwerfung von Jesus in seiner ungläubigen Heimat (Mk
6,3), in der die Leute nur „Menschliches“ an Jesus finden
können: „Ist dieser (οὗτος) nicht der Handwerker, Marias
Sohn und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?“
Aus diesem Grund halte ich es für wahrscheinlich, dass es einen
historischen Jesus gab. Er versteckt
sich im toten Winkel des Philipperbriefes und des Markusevangeliums ...
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