LXX Hld 1,12 : „Als der König sich
hinlegte, gab meine Narde ihren Duft.“ |
1) In 1. Kor 13 besingt Paulus die
Liebe mit Worten, in denen das Hohelied Salomos deutlich anklingt.
Schließlich hisst er das Freiheitsbanner der Liebe in Römer 13,8ff
und Galater 5,1ff und erhebt die Nächstenliebe zum höchsten Gebot:
„Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: 'Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst!'“
Markus, der Paulus in so vielem folgt,
berichtigt oder - besser - ergänzt seinen Vorläufer in Mk 12,28ff
um einen für ihn selbst offenbar ganz wesentlichen Punkt. Noch vor
der Nächstenliebe führt er die Liebe zu dem einen Gott an: „Das
höchste Gebot ist das: 'Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der
Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem
Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen
Kräften'. Das andre ist dies: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst'“.
Desto erstaunlicher ist es, dass die
Liebe auf den ersten Blick im Markusevangelium abwesend zu sein
scheint. Das Substantiv „Liebe“ (ἀγάπη – agápē), das
immerhin 116 Mal im Neuen Testament enthalten ist, taucht im
Markusevangelium nicht auf und das Verb „lieben“ eben nur in Mk
12,28ff („liebgewinnen“ ein weiteres Mal in Mk 10,21). Sicher,
man kann annehmen, dass der kühle Denker Markus nur sparsam Gefühle
äußert. Aber man muss sich die von Markus geprägte, 5. Mose 6,4ff. leicht abändernde Formel („...
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von
allen deinen Kräften ...“) einmal in Ruhe durchdenken, um zu
begreifen, dass die Abwesenheit der Liebe im Markusevangelium
eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist.
2) Die Geschichte der Auslegung des
Neuen Testaments kennt Rätsel, die die Jahrhunderte überdauert
haben, über die bereits die Kirchenväter geteilter Ansicht waren
und die auch in unserer Zeit noch zu scharfsinnigen Meinungsstreiten
der Gelehrten Anlass geben. Eine solche Knobelaufgabe ist das Wort
„πιστικῆς“ (pistikês) in Mk 14,3, dass die Lutherbibel
mit „echt“ übersetzt: „νάρδου πιστικῆς“ also
mit „echte Narde“. Zuweilen findet man auch die Übersetzung als
„reine“ Narde (NeÜ, Gute Nachricht, Hoffnung für alle). Der
ehrwürdige Wichelhaus (pdf, Seite 51) schrieb bereits 1855 zu dieser Frage: „Dieses
Wort hat bekanntlich den Gelehrten viel zu raten und nicht weniger
Anlass zu gelehrtem Prunk und Schwulst gegeben.“
Ausnahmslos sind nun sämtliche
Kirchenväter und Gelehrten der Auffassung, dass „πιστικῆς“
in Mk 14,3 nicht diese Bedeutung haben könne. Was solle denn auch
eine „redliche“, „treue“, „glaubwürdige“ oder
„überzeugende“ Narde sein, so das einmütige Argument. Aufgrund
dessen sprießen alle möglichen Auslegungsvarianten. Wichelhaus
führt bereits vier von ihnen an:
- Fundort der Narde (Pistische Narde –
allerdings völlig unbekannt)
- eine bestimmte, tatsächlich bekannte
Nardenart: „nardus spicata“, Lautverschiebung von „πιστικῆς“
(pistikês) zu „spicata“
- flüssige, feine, trinkbare Narde
(tatsächlich bekannt, jedoch nicht unter diesem Begriff)
- echte, unverfälschte Narde, dies
entspräche am ehesten dem eigentlichen Wortsinn „treu,
glaubwürdig“; aus der antiken Literatur ist zudem bekannt, dass
Narde von den Händlern durch Untermischung anderer Kräuter
verfälscht wurde (sogenannte Pseudonarde), z.B. Dioskorides und Plinius der Ältere
Dies sind in etwa auch heute noch die Auffassungen, die in der Bibelwissenschaft vertreten werden.
3) Neben all diesen strapaziösen
Interpretationen hat es meines Wissens eine bemerkenswerte Ausnahme
gegeben. Karl Gottlieb Bretschneider (1776 - 1848) hat tatsächlich
einmal das Wort „πιστικῆς“ beim Wort genommen und die
Möglichkeit überdacht, ob es nicht doch eine „glaubwürdige“
oder „treue“ Narde geben könnte. Er mutmaßte letztendlich, dass
antike Narden- oder Nardenölhändler ihre Ware unter diesem
„Werbeslogan“ angeboten haben könnten. Würdigen möchte ich,
dass unter all diesen Gelehrten mit staubtrockener Phantasie mal
jemand mit Nachdenken begonnen hat.
Dabei sollte eigentlich jedem Kind klar
sein, dass es für Markus nur eine einzige „treue“ bzw.
„glaubwürdige“ Narde geben kann: eine Narde nämlich, die in
einer heiligen Schrift erwähnt ist. Die einzige heilige Schrift vor Markus nun,
die Narde anführt, ist das Hohelied Salomos.
LXX Hld 1,12 : „Als der König sich
hinlegte (ἀνακλίσει), gab meine Narde ihren Duft.“
Hdl 4,13f. „Du bist gewachsen wie ein
Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen mit
Narden, Narde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei
Weihrauchsträuchern, Myrrhe und Aloe, mit allen feinen Gewürzen.“
4) Markinische Anspielung auf das
Hohelied
Dass Markus tatsächlich auf das Hohelied anspielt, ergibt sich u.a. deutlich aus der Bezugnahme von LXX Hohelied 1,3 (in manchen Lesarten auch LXX Hohelied 4,10, z.B. Codex Sinaiticus) durch Markus in Mk 14,3 und Mk 16,1.
Die namenlose Frau aus Mk 14,3 steht im
Kontrast zu den drei Frauen in Mk 16,1 (Maria von Magdala, Maria, die
Mutter von Jakobus, und Salome), die den Sabbat einhalten und alsdann
Gewürze bzw. Räucherwerk (ἀρώματα – arômata) kaufen, um
Jesus zu salben (ἀλείψωσιν - aleipsôsin). Die namenlose
Frau benutzt hingegen ein Öl bzw. eine Salbe (μύρου – murou)
um Jesus zu balsamieren (μυρίσαι – murisai). Obwohl Jesus
in Markus 13,33ff mahnt, wachsam zu sein und den rechten Zeitpunkt
nicht zu verpassen, kommen die drei Frauen viel zu spät. Jesus ist
in Mk 16,1-8 bereits auferstanden und hat sich aus dem Staub gemacht.
Nur die namenlose Frau in Mk 14,3 ff ist rechtzeitig erschienen.
In der Septuaginta heißt es im
Hohelied 1,3: „Und der Geruch deiner Salben (μύρων - múrōn)
übertrifft alle Gewürze (ἀρώματα – arômata).“ (Codex Sinaiticus auch für Hohelied 4,10)
Wie die Braut des Hoheliedes übertrifft
die namenlose Frau mit ihrem Öl bzw. ihrer Salbe (μύρου –
murou) die drei Frauen, die mit Gewürzen bzw. Räucherwerk (ἀρώματα
– arômata) zum leeren Grab kommen.
5)
Paulus mahnt in Galater 5, dass
Christus uns zur Freiheit befreit habe: „Denn in Christus Jesus
gilt ... [allein] der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“
Machen wir uns also frei, um verstehen
und lieben zu können, dass in Gestalt der namenlosen Frau in Mk 14,3
die Liebe einhergeht, deren Ruhm Paulus im 1. Korinther in Anspielung
auf das Hohelied besungen hat. Der kühlere Markus hat sie kunstvoll mit der
Braut des Hoheliedes im Salböl der „glaubwürdigen Narde“ zu
jener Namenlosen verschmolzen.
Warum Markus ihren Namen nicht nennt?
Die Antwort gibt das Hohelied:
Hohelied 1,3 : „... dein Name ist
eine ausgeschüttete Salbe ...“
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