Dienstag, 8. Juli 2014

Die Liebe in den Zeiten der Lepra (Mk 14,3ff)

LXX Hld 1,12 : „Als der König sich
hinlegte, gab meine Narde ihren Duft.“

1) In 1. Kor 13 besingt Paulus die Liebe mit Worten, in denen das Hohelied Salomos deutlich anklingt. Schließlich hisst er das Freiheitsbanner der Liebe in Römer 13,8ff und Galater 5,1ff und erhebt die Nächstenliebe zum höchsten Gebot: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!'

Markus, der Paulus in so vielem folgt, berichtigt oder - besser - ergänzt seinen Vorläufer in Mk 12,28ff um einen für ihn selbst offenbar ganz wesentlichen Punkt. Noch vor der Nächstenliebe führt er die Liebe zu dem einen Gott an: „Das höchste Gebot ist das: 'Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften'. Das andre ist dies: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'“.

Desto erstaunlicher ist es, dass die Liebe auf den ersten Blick im Markusevangelium abwesend zu sein scheint. Das Substantiv „Liebe“ (ἀγάπη – agápē), das immerhin 116 Mal im Neuen Testament enthalten ist, taucht im Markusevangelium nicht auf und das Verb „lieben“ eben nur in Mk 12,28ff („liebgewinnen“ ein weiteres Mal in Mk 10,21). Sicher, man kann annehmen, dass der kühle Denker Markus nur sparsam Gefühle äußert. Aber man muss sich die von Markus geprägte, 5. Mose 6,4ff. leicht abändernde Formel („... lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften ...“) einmal in Ruhe durchdenken, um zu begreifen, dass die Abwesenheit der Liebe im Markusevangelium eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist.

2) Die Geschichte der Auslegung des Neuen Testaments kennt Rätsel, die die Jahrhunderte überdauert haben, über die bereits die Kirchenväter geteilter Ansicht waren und die auch in unserer Zeit noch zu scharfsinnigen Meinungsstreiten der Gelehrten Anlass geben. Eine solche Knobelaufgabe ist das Wort „πιστικῆς“ (pistikês) in Mk 14,3, dass die Lutherbibel mit „echt“ übersetzt: „νάρδου πιστικῆς“ also mit „echte Narde“. Zuweilen findet man auch die Übersetzung als „reine“ Narde (NeÜ, Gute Nachricht, Hoffnung für alle). Der ehrwürdige Wichelhaus (pdf, Seite 51) schrieb bereits 1855 zu dieser Frage: „Dieses Wort hat bekanntlich den Gelehrten viel zu raten und nicht weniger Anlass zu gelehrtem Prunk und Schwulst gegeben.
Dabei gilt als gesichert, dass das Wort „πιστικῆς“ (pistikês) eigentlich „treu, glaubwürdig, überzeugend“ bedeutet. Platon hat es zwei, drei Mal in der älteren Form „πειστικός“ im Sinne von „überredend, überzeugend“ genutzt. Die für uns maßgeblichste Parallele ist indes das Traumbuch des Artemidor von Daldis, Zweites Buch, 32. Kapitel, für die ich online jedoch nur eine sehr, sehr alte Übersetzung von 1677 gefunden habe. Man mag sich am Altdeutsch nicht stören: „Wann aber einem träumet, wie er mit silbern Gewehr fechte, wird er auch ein Weib überkommen, die ziemlich reich, getreu, redlich und eine gute Haushalterin, die ihrem Manne gehorsam und unterdienstbar sein werde.“ (Griechisch ist es hier zu finden, Seite 198, zweite Zeile von oben, letztes Wort: „πιστικἰν“.) Das griechische „πιστικἰν“ ist also hier gleich mit zwei Worten als „getreu“ und „redlich“ übersetzt.

Ausnahmslos sind nun sämtliche Kirchenväter und Gelehrten der Auffassung, dass „πιστικῆς“ in Mk 14,3 nicht diese Bedeutung haben könne. Was solle denn auch eine „redliche“, „treue“, „glaubwürdige“ oder „überzeugende“ Narde sein, so das einmütige Argument. Aufgrund dessen sprießen alle möglichen Auslegungsvarianten. Wichelhaus führt bereits vier von ihnen an:

- Fundort der Narde (Pistische Narde – allerdings völlig unbekannt)

- eine bestimmte, tatsächlich bekannte Nardenart: „nardus spicata“, Lautverschiebung von „πιστικῆς“ (pistikês) zu „spicata“

- flüssige, feine, trinkbare Narde (tatsächlich bekannt, jedoch nicht unter diesem Begriff)

- echte, unverfälschte Narde, dies entspräche am ehesten dem eigentlichen Wortsinn „treu, glaubwürdig“; aus der antiken Literatur ist zudem bekannt, dass Narde von den Händlern durch Untermischung anderer Kräuter verfälscht wurde (sogenannte Pseudonarde), z.B. Dioskorides und Plinius der Ältere

Dies sind in etwa auch heute noch die Auffassungen, die in der Bibelwissenschaft vertreten werden.

3) Neben all diesen strapaziösen Interpretationen hat es meines Wissens eine bemerkenswerte Ausnahme gegeben. Karl Gottlieb Bretschneider (1776 - 1848) hat tatsächlich einmal das Wort „πιστικῆς“ beim Wort genommen und die Möglichkeit überdacht, ob es nicht doch eine „glaubwürdige“ oder „treue“ Narde geben könnte. Er mutmaßte letztendlich, dass antike Narden- oder Nardenölhändler ihre Ware unter diesem „Werbeslogan“ angeboten haben könnten. Würdigen möchte ich, dass unter all diesen Gelehrten mit staubtrockener Phantasie mal jemand mit Nachdenken begonnen hat.

Dabei sollte eigentlich jedem Kind klar sein, dass es für Markus nur eine einzige „treue“ bzw. „glaubwürdige“ Narde geben kann: eine Narde nämlich, die in einer heiligen Schrift erwähnt ist. Die einzige heilige Schrift vor Markus nun, die Narde anführt, ist das Hohelied Salomos.

LXX Hld 1,12 : „Als der König sich hinlegte (ἀνακλίσει), gab meine Narde ihren Duft.

Hdl 4,13f. „Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen mit Narden, Narde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Weihrauchsträuchern, Myrrhe und Aloe, mit allen feinen Gewürzen.

4) Markinische Anspielung auf das Hohelied

Dass Markus tatsächlich auf das Hohelied anspielt, ergibt sich u.a. deutlich aus der Bezugnahme von LXX Hohelied 1,3 (in manchen Lesarten auch LXX Hohelied 4,10, z.B. Codex Sinaiticus) durch Markus in Mk 14,3 und Mk 16,1.

Die namenlose Frau aus Mk 14,3 steht im Kontrast zu den drei Frauen in Mk 16,1 (Maria von Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus, und Salome), die den Sabbat einhalten und alsdann Gewürze bzw. Räucherwerk (ἀρώματα – arômata) kaufen, um Jesus zu salben (ἀλείψωσιν - aleipsôsin). Die namenlose Frau benutzt hingegen ein Öl bzw. eine Salbe (μύρου – murou) um Jesus zu balsamieren (μυρίσαι – murisai). Obwohl Jesus in Markus 13,33ff mahnt, wachsam zu sein und den rechten Zeitpunkt nicht zu verpassen, kommen die drei Frauen viel zu spät. Jesus ist in Mk 16,1-8 bereits auferstanden und hat sich aus dem Staub gemacht. Nur die namenlose Frau in Mk 14,3 ff ist rechtzeitig erschienen.

In der Septuaginta heißt es im Hohelied 1,3: „Und der Geruch deiner Salben (μύρων - múrōn) übertrifft alle Gewürze (ἀρώματα – arômata).“ (Codex Sinaiticus auch für Hohelied 4,10)

Wie die Braut des Hoheliedes übertrifft die namenlose Frau mit ihrem Öl bzw. ihrer Salbe (μύρου – murou) die drei Frauen, die mit Gewürzen bzw. Räucherwerk (ἀρώματα – arômata) zum leeren Grab kommen.

5)

Paulus mahnt in Galater 5, dass Christus uns zur Freiheit befreit habe: „Denn in Christus Jesus gilt ... [allein] der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Machen wir uns also frei, um verstehen und lieben zu können, dass in Gestalt der namenlosen Frau in Mk 14,3 die Liebe einhergeht, deren Ruhm Paulus im 1. Korinther in Anspielung auf das Hohelied besungen hat. Der kühlere Markus hat sie kunstvoll mit der Braut des Hoheliedes im Salböl der „glaubwürdigen Narde“ zu jener Namenlosen verschmolzen.

Warum Markus ihren Namen nicht nennt? Die Antwort gibt das Hohelied:

Hohelied 1,3 : „... dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe ...

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