Teil 6 – Offenbarungsverbote
Wrede gibt zunächst eine Übersicht über die Rede- bzw. Offenbarungsverbote, die er in
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- Verbote an die Dämonen
- Verbote nach anderen Wundertaten
- Verbote nach dem Petrusbekenntnis
- Absichten, das Inkognito zu wahren sowie
- in ein nicht von Jesus ausgehendes Verbot (gegenüber dem Blinden von Jericho) unterscheidet.
Er hält alsdann fest, dass sämtliche Verbote durch Markus „scharf“ und „bestimmt“ formuliert sind. Die Verbote sind mit Strenge ausgesprochen. Gegenüber den Adressaten des Verbots schwingt im Verbot von Jesus ausgehende Bedrohung, Zorn und Härte mit.
Markus bzw. der markinische Jesus begründet die Redeverbote nicht. Das Motiv für das Schweigegebot ist daher nicht ausdrücklich benannt. Unwahrscheinlich ist, dass den Redeverboten ein von Fall zu Fall unterschiedliches Motiv zu Grunde liegt.
„Man kann also nur vermuten, dass er (Markus) annahm, der Leser werde alle diese Bemerkungen mit einem Gedanken lesen, den er ihm nicht erst zu sagen brauchte. ... Somit muss diejenige Erklärung die schlagendste sein, die einen einheitlichen Gedanken aufweist. Vor allem ist deshalb davon auszugehen, dass überall an die Behütung des Messiasgeheimnisses gedacht ist.“ „Hiernach kommen alle die Erklärungen sofort in Wegfall, die nur einzelne Stellen aufzuhellen vermögen. Denn sie setzen eben eine Mehrheit oder einen Wechsel von Beweggründen für das Verbot Jesu voraus.“
Danach sind folgende, im Schrifttum erörterte Motive für Jesus´ Redeverbote bereits auszuschließen:
- Jesus wünscht keine Anerkennung durch die unreinen Dämonen
- Jesus wehrt Ansprüche des Volkes ab, um sich den Jüngern widmen zu können
- Motive der Örtlichkeit (heidnische Bevölkerung, jüdische Bevölkerung) sind nicht ersichtlich
„Es ist nichts leichter, als Gründe auszusinnen, weshalb Jesus hier so, dort so verfährt. Aber es ist schwer zu beweisen, dass Markus diese Gründe gekannt hat.“
Wrede wendet sich des Weiteren gegen Versuche von Gelehrten, die Verbote abzuschwächen. „Jesus wünschte, dass ‘nicht viel‘ von seinen Wundern gesprochen würde; die Ansicht, er sei der Messias, sollte sich ‘nicht allzu sehr‘ verbreiten; Jesus hat eine ‘ablenkende Art‘ zu sprechen, wenn auf seine Messianität die Rede kommt. … Aber es ist streng darauf zu bestehen, dass Markus strikte, absolute Befehle mitteilt und nichts weiter.“ Die von solchen Gelehrten vorgetragene Theorie, dass Jesus eine „innere Scheu“ gehabt haben soll, von seiner Messiaswürde zu sprechen, wird allein durch den triumphalen Einzug in Jerusalem widerlegt.
Nicht haltbar ist auch die weitere Annahme, dass Jesus „pädagogische Absichten“ gehegt hätte. Nach dieser Gelehrtenmeinung befürchtete Jesus bei den Jüngern „sinnliche Messias-Vorstellungen, wenn er ihnen zu früh einen Gedanken giebt, für den sie noch nicht reif sind. Überhaupt aber fürchtet er - bei Jüngern wie beim Volke - eine politische Ausbeutung seiner Würde, nationale Manifestationen, schliesslich die messianische Revolution. Denn Volk und Jünger hatten eben nicht seine Messiasidee, sondern die jüdische, d. h. die politische.“
Wenn Jesus solche Vorstellungen gehegt hätte, wäre es für ihn einfach gewesen, dies gegenüber den Jüngern ausdrücklich zu artikulieren. Auch gegen diese Theorie spricht der triumphale Einzug in Jerusalem. Außerdem hätte Jesus bei solcher Furcht kein Wunder in der Öffentlichkeit vollbringen dürfen.
Zwar sprechen einzelne Umstände für ein erzieherisches Wirken (Berufung der Jünger, Unterweisung, Aussendung etc.). Im Ganzen findet jedoch keine erzieherische Entwicklung statt. Die Parabelrede ist gerade nicht darauf angelegt, „um schwachem Verständnis zu Hülfe zu kommen.“ „Man muss vergessen, dass Jesus, wenn seine Jünger ihn nicht verstehen, in der Regel nichts thut, um ihnen verständlich zu werden. Vollends Begriffe wie ‘Bedachtnehmen auf eine Entwicklung der Erkenntnis von innen heraus‘, ‘Erziehung zur Selbständigkeit der Erkenntnis‘ fallen ja von vornherein aus der Sphäre des Markus heraus.“
Vor allem aber ist offensichtlich, dass eine zweifache Messiasvorstellung im Markusevangelium nicht angelegt ist. „Denken wir uns einen Leser des Markus, der von der Geschichte Jesu nie etwas gehört hat. Er wird sofort merken, dass die Messiasfrage von Wichtigkeit ist, aber dass er nach dem Evangelium auf die Vorstellung einer doppelten Messiasidee, nämlich einer von Jesus gehegten geistigen und einer volkstümlichen politischen, geraten sollte, ist völlig unmöglich. Mit keiner direkten Andeutung hat sie der Erzähler gestreift. Jesus spricht sich darüber nicht aus, er tadelt weder Jünger noch Volk in dieser Beziehung, er kämpft anscheinend weder innerlich noch äusserlich gegen eine falsche Messiaserwartung.“
Einzelne Verse, die dagegen eingewendet werden könnten, überzeugen letztlich nicht. Auch die Ankündigung vom Leiden und Sterben des Menschensohnes, die Ablehnung der Davidssohnschaft des Messias, der Einzug auf dem Esel als Friedenstier und das Streitgespräch über die dem Kaiser zustehenden Steuern sprechen nicht ausdrücklich von einer „anderen“ Messiasvorstellung. Auch habe Jesus, so William Wrede, sein Königtum als „König der Juden“ gegenüber Pilatus ausdrücklich bejaht.
Sicherlich gibt es für den Markus den Unterschied zwischen dem leidenden und dem Messias in Herrlichkeit, aber dieser ist kein Gegensatz zwischen einem geistigen und einem politischen, der für revolutionäre Umbrüche und bewaffneten Aufstand steht. Nur solche Vorstellungen aber hätte Jesus nach dieser Theorie zu befürchten gehabt.
„Ich fasse das Ergebnis dieser Betrachtungen zusammen. Die Exegese hat das fort und fort, bis in die letzte Zeit wiederholte Gebot Jesu von seiner Messiaswürde zu schweigen nicht zu erklären vermocht. Denn sie hat einen einleuchtenden, für den geschichtlichen Jesus denkbaren und auf alle Einzellälle anwendbaren Beweggrund nicht ermittelt. Sie hat dabei zur Interpretation der Markusberichte Anschauungen verwendet, deren Besitz für den Evangelisten, um wenig zu sagen, nicht nachgewiesen worden ist. Im Grunde hat sie sich aber um Markus selbst überhaupt wenig gekümmert, man pflegt ihn einfach zu überspringen und sich direkt ins Leben Jesu zu versetzen, und doch haben wir diese Nachrichten nur aus Markus.“
Hieraus ergibt sich, dass die Redeverbote nicht historisch sind. Wrede bringt vier Argumente vor:
1. „Haben die Dämonen Jesus nicht als Messias begrüsst, so kann er es ihnen auch nicht gewehrt haben. Diese Züge fallen mit ihrer Voraussetzung.“
2. „Hat nun Jesus seine Wunder als Kennzeichen seiner Messianität gedacht, so kann er an dem Schlüsse, er sei der Messias, keinen Anstoss genommen haben; d. h. die Verbote bei einzelnen Wundern werden unbegreiflich, wenn sie anders, wofür alles spricht, messianisch gemeint sind. Hat Jesus hingegen gar nicht daran gedacht, dass seine Wunder Schlüsse auf seine Messianität zu liessen, so werden die Verbote doch wiederum unbegreiflich.“
3. Es bestehen „eine Reihe von Bedenken aus den Wunderberichten selbst, bei denen wir die Verbote finden.“
„Hier ist zunächst die Geschichte von der Jairustochter sehr klar. Der Tod des Mädchens ist bekannt geworden, man stellt bereits die Totenklage um sie an. Jesus vollzieht dann im Beisein der wenigen Zeugen die Erweckung. Aber konnte dann durch die Entfernung der Leute das Wunder vor der Menge verborgen werden? Jeder musste ja hernach sehen, dass das Mädchen lebte, und jeder musste schliessen, dass ihr Wiederaufleben dem als Wundermann herbeigeholten Jesus zu danken war. Folglich war ein Verbot Jesu völlig zwecklos, und weil es zwecklos war, ist es geschichtlich verstanden sinnlos.“
„Ganz dasselbe ist von der Heilung des Taubstummen zu sagen. Auf den Gedanken, durch Isolierung des Kranken und nachfolgende Weisung das Ruchbarwerden der Heilung zu verhindern, konnte Jesus überhaupt nicht verfallen.“
„Bei der Heilung des Blinden scheint der Befehl: gehe nicht in den Flecken, etwas mehr Erfolg zu versprechen. Denn so wird der Blinde von den Leuten, die ihn zu Jesus gebracht haben, ganz fern gehalten. Aber er wird gleichzeitig in sein Haus geschickt. Liegt denn das Haus nicht im Flecken? Davon ist nichts gesagt, und der Gedanke liegt fern, obwohl die Erklärer ihn ohne Weiteres einschieben. Wie soll denn der Kranke in sein Haus gehen, ohne den Flecken zu berühren? Wie soll er im Hause den Leuten verborgen bleiben? Das sieht auch nicht nach Geschichte aus.“
„Bei der Geschichte vom Aussätzigen wird das Verbergen des Wunderthäters denkbarer. Denn hier ist von Bekannten und Verwandten des Kranken nicht die Rede; namentlich aber kann die Weisung, er solle sich dem Priester zeigen und das vorgeschriebene Reinigungsopfer darbringen, als ein wirksames Mittel erscheinen, die Aufmerksamkeit von Jesus abzulenken. … Jesus … will sich hinter dem Ausspruch des Priesters verstecken. Eben darum freilich wird das Verfahren Jesu, das hier erzählt wird, nach anderer Richtung gerade stark befremden. Daneben … Der Aussätzige missachtet Jesu Wort und breitet die Wunderthat wie zum Trotze aus. Ein eigentümliches Benehmen gegen den Wohlthäter und gerade kein Zeugnis für die Autorität Jesu.“
4. „… für alle Verbote, die vor dem Petrusbekenntnis liegen, (ist) noch die Frage nach dem Wissen des Evangelisten zu erheben.“
„Markus sagt nicht, Jesus habe geschwiegen, sondern er habe geschwiegen, obwohl er sich als Messias wusste, und er habe durch bestimmte Handlungen – eben die Verbote - seine Absicht zu schweigen kundgethan. Ein Wissen von diesem bewussten, den messianischen Anspruch einschliessenden, aktiven Schweigen konnte ohne besondere Kunde nicht überliefert werden. Woher hatte man Kunde, wenn Jesus sich in Schweigen hüllte? Vielleicht von den Jüngern? Nehmen wir an, sie seien Zeugen der Verbote gewesen. Dann ist ihnen der Gedanke, Jesus sei der Messias, so nahegerückt, so glaubwürdig nahegerückt worden, dass man nicht mehr versteht, weshalb sie ihn selbst erst so spät finden, und dass das Bekenntnis des Petrus seine Spontaneität jedenfalls völlig einbüsst. Nach der gewöhnlichen Voraussetzung können also die Jünger als Zeugen gar nicht in Betracht kommen. Woher weiss dann Markus Bescheid?“
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