Dienstag, 15. Oktober 2013

Kampf der Evangelien-Literatur: Kanon > < Apokryphen


Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium

Thomas, Logion 3:  "Jesus sprach: Wenn die, die euch (auf Abwege) führen, euch sagen: Seht, das Königreich ist im Himmel, so werden euch die Vögel des Himmels vorangehen; wenn sie euch sagen: es ist im Meer, so werden euch die Fische vorangehen. Aber das Königreich ist in eurem Inneren, und es ist außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennen werdet, dann werdet ihr erkannt, und ihr werdet wissen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid. Aber wenn ihr euch nicht erkennt, dann werdet ihr in der Armut sein, und ihr seid die Armut."

In der Armut ? Ach kommen Sie, Evangelist Thomas ! Ich will ja zugeben, dass ich von Matthäus und seinen Auslegern leicht genervt bin, aber das doch bitteschön mit Recht. Es mag einem Professor der Theologie von Berufs wegen schwer fallen, über matthäische Logik klare Worte zu finden, aber dann schweigt man eben klug. Jedoch mit halbseidenen Argumenten in Lobestöne zu verfallen ... Himmel, hilf ! Sie meinen indes, dass ich mich von anderen Auslegungen nicht ablenken lassen solle und noch einige Worte über Matthäus zu sagen hätte ?

Thomas, Logion 4:  "Jesus sprach: Der alte Mensch wird nicht zögern in seinem Alter, ein kleines Kind von sieben Tagen zu befragen über den Ort des Lebens, und er wird leben; denn viele Erste werden die Letzten werden, und sie werden ein einziger werden."

Dann will ich es spaßeshalber mit einem Märchen versuchen, einer fiktiven Szene aus einem Gespräch, das gegen Ende des 1. Jahrhunderts zwischen einem Verleger christlicher Schriften und einem bereits vielbeachteten literarischen Talent geführt wurde, um einen Sitz im Leben zu bestimmen:

Verleger: "Bruder Matthäus, ich habe vom Presbyter, aber auch von anderen aus Deiner Gemeinde bereits viele lobende Worte über Deine Predigten gehört. Du bist ein großer Kenner der jüdischen Schriften. Auch ist mir berichtet worden, dass Du die von den Aposteln überlieferten Aussprüche unseres Herrn sammelst und in erbauenden Reden der Gemeinde zu Gehör bringst."

Matthäus: "Euer Lob ehrt mich, ehrwürdiger Bruder. Ich hoffe, der Geist beschenkt mich auch in Zukunft reichlich mit seinen Gaben, damit es mir vergönnt bleibt, die ganze Gemeinde mit Worten zu stärken."

Verleger: "So sei es Bruder Matthäus, mit der Gnade des Herrn. Ich habe Dich zu mir bitten lassen, weil ich Dir eine mir besonders am Herzen liegende Arbeit übertragen möchte. Wie Du ja weißt, Bruder Matthäus, wird bei unseren Zusammenkünften seit mehreren Jahren auch ein Evangelium unseres Herrn verlesen, dass wohl ein gewisser Mitbruder namens Markus in Rom niedergeschrieben hat. Nun höre ich oft von einigen unter uns, vor allem von denen aus den Hebräern, dass in diesem Bericht einige wenige kleine Dinge - sagen wir es mal so - nicht ganz in der rechten Ordnung seien. Auch betrübt es die aus den Hebräern besonders, dass ihre Schriften und der alte Bund in der Botschaft des Markus nicht ganz zur gebotenen Geltung kämen. Wie soll ich sagen, Bruder Matthäus, ich bin mir gewiss, dass ein Mitbruder mit großer Unterstützung und Dank rechnen kann, wenn er es in Bescheidenheit und mit geistlicher Hilfe unternehmen würde, einen sowohl den Hebräern als auch den aus uns Heiden gefälligeren Bericht über das Leben des Herrn zu geben. Wie mir verdeutlicht wurde, sind da freilich einige heikle Punkte zu bedenken ..."

So entsteht ein erster Aufriss. Das Werk soll gleich in seinem Eingang verdeutlichen, dass es auch judenchristlichen Positionen gewidmet ist und in der Tradition des alten Bundes steht. Als "heikle Punkte" gilt es, vorwiegend heidenchristliche Vorstellungen wie die Präexistenz Christi strikt zu meiden. Die Zeugung aus dem heiligen Geist und der Jungfrau darf als - freilich ungeliebter - Kompromiss unter Berufung auf jüdische Schriftverweise angesprochen, nicht aber zentral abgehandelt werden. Auch ist auf die für die Judenchristen vertrautere patriarchale Autorität abzustellen. Zugleich soll aber auch die heidenchristliche Seite zu ihrem vollen Recht kommen, was insbesondere in vertieften ethischen Themen geschehen kann, ohne dass der judenchristlichen Position damit auf die Zehen getreten wird. Das ganze Werk wird also ein Ringen um Kompromisse sein, ein schwer zu bewältigender Spagat, in dem es sich zudem aufgrund der gefährlichen Nähe scharf vom alten jüdischen Glauben und seinen derzeitigen Exponenten, den Rabbinen, abzugrenzen gilt usw.

Irgendwie in dieser Art stelle ich mir die Haltung vor, mit der die Niederschrift des Evangeliums nach Matthäus begann. War es in diesem Fall nicht sogar eine recht akzeptable Idee, mit einer Abstammungslinie zu beginnen, wie sie aus dem alten Testament vertraut ist ? Gleich im Auftakt konnten dann auch Namen wie Abraham und David als zündende judenchristliche Headliner fallen. Freilich bedeutete dies zugleich, dass Matthäus von vornherein vor einer mission impossible stand, wenn er diese Genealogie mit dem Thema der Jungfrauengeburt verbinden musste, Abrahams "Samen" mit der überschattenden Kraft des Heiligen Geistes. Am Ende hat er gar das Bestmögliche draus gemacht ! Er wusste genau, wo der fast lächerliche Schwachpunkt seines Evangeliumauftakts lag und versuchte diesen so diskret wie möglich einzubauen, aus einer Seitenperspektive einzublenden, mit literarischen und zahlensymbolischen Anspielungen darüber hinwegzutäuschen.

Aber all diese Sisyphos-Arbeit hat ihm am Ende nichts genützt, denn Thomas kommt ins Halbfinale ! Abstammungslinien sind einfach langweilig, (was auch schon Blogger windhauch wusste ...)

Teil 1 - Einführung
Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele
Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium
Teil 4 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"
Teil 6 - Halbfinale Lukas-Evangelium – Exegese der Seele
Teil 7 - Halbfinale Johannes-Evangelium – Thomas-Evangelium
Teil 8 und Ende - Finale Lukas-Evangelium – Johannes-Evangelium

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