Freitag, 27. September 2013

Kampf der Evangelien-Literatur: Kanon > < Apokryphen


Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium

Ausweislich der Vorrede handelt es sich bei dem Evangelium nach Nikodemus um einen aus dem Hebräischen übersetzten Augenzeugenbericht. Augenzeuge war danach der aus dem Johannesevangelium bekannte Pharisäer Nikodemus, der bei Prozess und Kreuzigung Jesu anwesend gewesen sei und seine Erinnerungen aufgeschrieben habe. Genau genommen beinhaltet „sein“ Evangelium drei Berichte: 1. Prozess und Kreuzigung Jesu (auch Pilatusakten bzw. Acta Pilati genannt), 2. Gefangennahme Josefs von Arimathäa und dessen Befreiung durch den Auferstandenen sowie 3. Höllenfahrt Christi. Entstehungsgeschichte und -zeit der Schrift sind ungewiss, die Lehrmeinungen reichen vom 2. Jahrhundert bis zum 6. Jahrhundert, ursprünglich bildete sie wohl keine Einheit. Im Hochmittelalter stieß das Nikodemusevangelium unvermutet auf ein reges Interesse und entfaltete eine reiche Nachwirkung. Selbst einige Bibelausgaben nahmen die Schrift mit auf und wiesen nur knapp auf deren Nichtkanonizität hin. Von ihrer Wirkungsgeschichte her betrachtet stehen mit Lukas und Nikodemus daher zwei echte Schwergewichte im Ring. Was ohne diese Evangelien nicht - jedenfalls nicht „so“ - entstanden wäre, ist beachtlich (um nur einiges herauszugreifen: Lukas – Marienverehrung, Weihnachten, Krippenspiele; Nikodemus: bestimmte mittelalterliche Passionsspiele beruhend auf den Acta Pilati, Gralslegende mitberuhend auf dem Bericht über Josef von Arimathäa, Dantes „Göttliche Komödie“ mitberuhend auf der Höllenfahrt).
Nikodemus lässt grüßen: Indi und der Gral

Beginnen wir mit „Lucky Luke“. In der Eingangsszene des Evangeliums bringt Zacharias ein Räucheropfer vor dem „Allerheiligsten“ im Jerusalemer Tempel dar. Er steht vor jenem Vorhang im Inneren des Tempels, der Gott und Mensch im „alten“ Bund noch voneinander trennt, beim Tod des gekreuzigten Jesus nach Lk 23,45mitten entzwei“ reißen und so – sinnbildlich gesehen - den Durchgang freigeben wird. Die lukanische Frohbotschaft beginnt damit unmittelbar vor der „irdischen Wohnstatt“ Gottes in seiner heiligen Stadt Jerusalem. Strikt von ihr ausgehend wird das Evangelium in der Apostelgeschichte des Lukas den Völkern der Welt gesandt, in deren antike „Hauptstadt“ Rom es zu guter Letzt gelangt und dort von Paulus nach Apg 28, 31mit allem Freimut ungehindert“ gepredigt wird. Lukas wird gern als „Historiker“ gepriesen. Wesentlicher erscheint mir jedoch, dass er ein einzigartiger theologischer „Geodät“ bzw. „Kartograph“ war. Ist aus heidnischer Sicht überhaupt ein heiligerer „Ort“ des alten Bundes vorstellbar, um ein Evangelium des Neuen Testaments beginnen und „beglaubigen“ zu lassen sowie die Zuwendung Gottes zu den Heiden plausibel darzustellen? Ich denke nicht. Der Anfangs-“Ort“ des Evangeliums nach Lukas ist ein echter Geniestreich.



Dem Nikodemusevangelium sollte man wie einem Theaterstück folgen. Die Handlung wird durch einzelne Szenen und den Auftritt von Sprechern konstruiert. Es beginnt mit der Anklageerhebung vor Pontius Pilatus, die von 12 „Hohenpriestern und Schriftgelehrten“ vorgetragen wird: „Wir wissen, dass dieser der Sohn des Zimmermanns Joseph und von Maria geboren ist; trotzdem behauptet er, er sei Gottes Sohn und ein König. Aber er schändet auch den Sabbat und will unser väterliches Gesetz abschaffen.“ Im Fortgang des Evangeliums werden alsdann nicht nur diese und weitere Anklagen Stück für Stück widerlegt, sondern durch Zeugenaussagen Beweise für Jesu Wunderwirken und seine Auferstehung erbracht. Neben dieser „Leiterzählung“ entwarf der Evangelist „Seitenszenen“, die Jesu Würde in besonderem Maß betonen. So verneigen sich etwa bereits in Kapitel 1 die Darstellungen auf den römischen Kaiserbildnissen vor Jesus: „Als nun Jesus hineinging, während die Standartenträger die Standarten hielten, da verneigten sich die kaiserlichen Brustbilder auf den Standarten und bezeigten Jesus ihre Ehrfurcht.“ Pilatus wird als eher auf Seiten Jesu stehender Richter dargestellt, der dessen besondere Würde anerkennt. Eine Verhaftungsszene kennt Nikodemus daher nicht, Jesus wird mit Ehrerbietung zur Verhandlung gebeten: „Da sagten die Juden zu Pilatus: Wir bitten deine Hoheit, ihn vor deinen Richterstuhl zu stellen und zu verhören. Und Pilatus rief sie näher heran und sprach: Saget mir! Wie kann ich als Stadthalter einen König verhören? Sie antworteten: Wir behaupten nicht, dass er ein König ist, sondern dass er sich dafür ausgibt. Da rief Pilatus seinen Läufer und sprach zu ihm: In rücksichtsvoller Weise soll Jesus vorgeführt werden.“ Heutzutage ruft die Lektüre gewiss nicht nur bei mir ein Schmunzeln hervor.

Lukas bringt zunächst eine historisierende Einleitung, leitet zu einer Charakterisierung der Täufereltern über, fügt dem eine dramatische Szene zwischen dem Engel Gabriel und Zacharias im Tempel hinzu, in der besonders auch der poetisch-lyrische Tonfall des Angesichtsengels ins Auge springt, und schließt mit dem in Erfüllung gehenden Schweigen des Zacharias vor dem Volk und dem Gotteslob von Elisabeth. Eine Vielfalt literarischer Formen und ausdrucksstarker Bilder zieht allein in dieser kleinen Szene an uns vorbei.

Es ist wohl besser, an dieser Stelle abzubrechen, denn Nikodemus ist nicht im Entferntesten ein ebenbürtiger Gegner für Lukas. Lukas zieht damit durch technisches K.O. ins Halbfinale ein !

Teil 1 - Einführung
Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele
Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium
Teil 4 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"
Teil 6 - Halbfinale Lukas-Evangelium – Exegese der Seele
Teil 7 - Halbfinale Johannes-Evangelium – Thomas-Evangelium
Teil 8 und Ende - Finale Lukas-Evangelium – Johannes-Evangelium

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