Montag, 21. September 2015

Wie Schafe, die keinen Hirten haben (I)


Teil 1 – Die große Bedrängnis

Am Ende ruft die Menge vor Pilatus „Kreuzige ihn!“ (Mk 15:13). Trotz der Anstachelung durch die Hohenpriester versteht man nicht so richtig, woher der Sinneswandel des Volkes rührt, das Jesus vor allem in Galiläa in großen Scharen hinterhergelaufen war. Ich mag mir deshalb über dieses Volk und die Art, wie es von Markus dargestellt ist, ein paar Gedanken machen.
Mk 3:9 „Und er sagte ..., sie sollten ihm ein kleines Boot
bereithalten, damit die Menge ihn nicht bedränge

1) Zwei einfache Beobachtungen zu Beginn. Im Markusevangelium ist – anders als etwa im Römerbrief - nirgendwo von den „Israeliten“ die Rede. Es werden nur „Jerusalemer“ (Mk 1:5), „Judäer“ (Mk 7:3) und „Galiläer“ (Mk 14:70) als solche bezeichnet.

Die Volksschichten werden im Markusevangelium mit fünf unterschiedlichen Begriffen benannt. Das klassische Septuaginta-Wort für das „Volk“ Israels - λαὸς (laos) - verwendet Markus nur 2 Mal (nach Cod. Sinaiticus 3 Mal) und die heidnischen „Völker“ (ἔθνη – ethnē) werden 6 Mal erwähnt. Wesentlich häufiger spricht er von der „Menge“ (ὄχλος – ochlos) oder von den „Vielen“ (πολλοὶ – polloi); zweifach auch von einer „Fülle“ von Menschen (πλῆθος – pléthos) in Mk 3:7-8.

Das „Volk“ scheint im Markusevanglium auf den ersten Blick überwiegend kein Volk zu sein - und schon gar nicht „Israel“ -, sondern eine bloße Menschenmenge.


2) An dieser „Menge“ fallen zunächst zwei Eigenschaften auf. Sie ist äußerst hilfebedürftig und bedrängt Jesus enorm. Im Fortgang der Erzählung ist diese Bedrängung häufig mit Orten „am Meer“ verbunden.

Es beginnt in Mk 1:32-34 (Studienfassung Offene Bibel): „Als es Abend geworden und die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu ihm, und die ganze Stadt war vor der Tür versammelt. Und er heilte viele Kranke von verschiedenen Krankheiten und trieb viele Dämonen aus ...

In Mk 2:2-4 wird erstmals die Bedrängung durch die Massen erzählt, durch die auch der freie Zugang zu Jesus versperrt wird. „Und es sammelten sich so viele zusammen, dass es keinen Platz mehr gab, auch nicht einmal vor der Tür, und er verkündete ihnen das Wort. Und sie kamen und brachten einen Gelähmten zu ihm. Er wurde von vier getragen. Und weil es ihnen wegen die Menschenmenge nicht gelang, ihn zu Jesus zu bringen, deckten sie, wo er war, das Hausdach ab, ...

In Mk 3:8-10 wird das Problem erdrückend: „… eine große Menge zu ihm, die hörten, wie viel er tat. Und er sprach zu seinen Jüngern, damit ihm wegen der Menschenmenge ein kleines Boot bereitstehen würde, damit sie ihn nicht erdrückten, denn er heilte so viele, dass sich diejenigen, die Leiden hatten, auf ihn stürzten, um ihn zu berühren ...

In Mk 3:20 verhindert der Massenzulauf das Essen: „Und wieder versammelte sich die Menschenmenge, sodass sie nicht einmal dazu kamen, Brot zu essen.

In Mk 4:1 muss Jesus dann tatsächlich bei der Verkündung ins Boot steigen: „Und wieder einmal begann er am Meer zu lehren. Und eine so gewaltige Menschenmenge versammelte sich bei ihm, dass er in ein Boot stieg und auf dem Meer saß, und die ganze Menschenmenge blieb am Ufer an Land.

Die Verse Mk 5:21.24.31 schildern eine Bedrängung durch das Volk während der „Heilung“ der blutenden Frau: „Und nachdem Jesus mit dem Boot wieder ans andere Ufer gefahren war, versammelte sich eine große Menschenmenge bei ihm ... und eine große Menge folgte ihm, und sie drängten sich um ihn ... Aber seine Jünger sagten: „Du siehst die Menschenmenge, die sich um dich drängt, und sagst: ‚Wer hat mich berührt?‘

Die Szenen erinnern ein wenig an Jesus' Prophezeiung in Mk 13:19 „Denn es werden sein jene Tage eine derartige Bedrängnis, wie sie seit Beginn der Schöpfung, die Gott geschaffen hat ...


3) Im 6. Kapitel kommt es zu zwei irrealen „Massen- und Meute-Szenen“, in denen Menschen Jesus regelrecht „wittern“ und von überall her zu ihm gerannt kommen, um zunächst an der Speisung der 5000 teilzuhaben und schließlich von Jesus errettet zu werden.

Mk 6:32ff „Und sie fuhren mit dem Boot an einen einsamen Ort, ganz allein. Und sahen die Leute, wie sie losfuhren, und viele erkannten sie, und zu Fuß liefen sie aus allen Städten zusammen und kamen vor ihnen dort an. Und als er ausstieg, sah er eine große Menschenmenge, …

Mk 6:54ff: „Und als sie aus dem Boot stiegen, erkannten die Leute ihn sofort und liefen durch das ganze Land, und sie trugen diejenigen, denen es schlecht ging auf Matten dorthin, wo sie hörten, dass er war. Und wo er auch hinging, in Dörfer, in Städte oder in Bauernhöfe, legten sie die Kranken auf die Marktplätze und baten ihn darum, auch nur den Saum seines Gewandes zu berühren. Und alle, die ihn berührten, wurden gerettet.


4) Bemerkenswert erscheint mir in den letzten beiden Szenen die Verwendung des Verbes „ἐπιγινώσκω“ (epiginóskó) durch Markus, womit eine besondere Form der „Erkenntnis“ gemeint ist.

Zum besseren Verständnis des Wortes ist der Vers 13,12 aus dem 1. Korinther äußerst hilfreich, den die Einheitsübersetzung im hier maßgeblichen Punkt mit besonderer Detailliebe übersetzt hat. Paulus schreibt: „Jetzt schauen (βλέπομεν - blepomen) wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich (γινώσκω - ginōskō) unvollkommen, dann aber werde ich durch-und-durch-erkennen (ἐπιγνώσομαι - epignōsomai), so wie ich auch durch-und-durch-erkannt worden bin (ἐπεγνώσθην - epegnōsthēn).

Ich habe die Bindestriche gesetzt, damit der mit dem Altgriechischen nicht vertraute Leser verstehen kann, dass die Einheitsübersetzung die jeweilige Form des Wortes „ἐπιγινώσκω“ (epiginóskó) jeweils mit „durch-und-durch-erkennen“ übersetzt hat, während das normale Erkennen („Jetzt erkenne ich unvollkommen ...“) lediglich mit dem Verb „γινώσκω“ (ginōskō) ohne die Vorsilbe „ἐπί“ (epi) benannt ist. Mit „ἐπιγινώσκω“ (epiginóskó) ist also eine spirituelle allumfassende Erkenntnis beschrieben.

Markus verwendet das Wort vier Mal. Die nachfolgenden Stellen habe ich zur Verdeutlichung selbst wortwörtlich übersetzt und für „ἐπιγινώσκω“ (epiginóskó) jeweils „völlig-erkannt“ verwendet:

Mk 2:8 „Und sofort völlig-erkannt habend der Jesus in dem Geist von ihm ...

Mk 5:30 „Und sofort der Jesus völlig-erkannt habend in sich selbst die Kraft - aus ihm herausgekommen – sich umdrehend in der Menge ...

Mk 6:33 „Und sie sahen sie entlang führend und viele völlig-erkannten es ...

Mk 6:54 „Und herausgekommen sie aus dem Boot - sofort völlig-erkannt habend ihn - sie rannten durch jenes ganze Land ...

In Mk 2:8 ist eine spirituelle Erkenntnis im Geist beschrieben, die sich in Mk 5:30 auf die von Jesus ausgehende göttliche Kraft richtet. In diesem Sinne sollte man meines Erachtens auch die Verwendung des Verbs in Mk 6:33 und 6:54 verstehen. Den „Vielen“ bzw. der „Menge“ ist dort dieses spirituelle allumfassende Verständnis von Jesus gegeben. Eine „normale“ intellektuelle Wahrnehmungsleistung scheint mir hier eher weniger gemeint.

Wie im 1. Korinther 12:13 („dann aber werde ich durch-und-durch-erkennen, so wie ich auch durch-und-durch-erkannt worden bin steht ...“) steht der Erkenntnis der „Vielen“ in Mk 6:33 ein Verständnis von Jesus gegenüber – Mk 6:34:

Καὶ ἐξελθὼν εἶδεν πολὺν ὄχλον, καὶ ἐσπλαγχνίσθη ἐπ' αὐτοὺς ὅτι ἦσαν ὡς πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα, ...
Und herausgekommen er sah viel Menge und er empfand Mitgefühl mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, nicht habend (einen) Hirten ...

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