Mittwoch, 29. Januar 2014

Mk 9, 38-42: Der fremde Wundertäter ist Paulus


Schritt 3 - Von Markus beabsichtigter Zweck dieser Darstellung

Im Schritt 2 wurde gezeigt, dass Markus folgende Jünger bzw. Jüngergruppen in einem negativen Licht darstellt: Petrus, Johannes und Jakobus jeweils als Einzelne, alle drei gemeinsam als Trio sowie die 12 Jünger als gesamte Gruppe. Folgende Negativaspekte werden dabei von Markus betont:

- die 12 Jünger verstehen Jesus nicht, sie erweisen sich als unfähig, die Persönlichkeit von Jesus, seine Worte und sein Wirken zu erfassen, sie werden von Markus als Gegner der Segnung der Kinder beschrieben

Die 12 Apostel äh ... 7 Schwaben
via de.wikipedia
- das Unverständnis gilt für Petrus als Einzelperson auch im Hinblick auf die Auferstehung (Weinen nach der Verleugnung), darüber hinaus erweist sich Petrus als sehr unzuverlässig (Gethsemane), großsprecherisch und feige (Verleugnung Jesu gegenüber einer Magd), vor allem tritt er als Gegner der Passion auf („Hinter mich, Satan!“) und fällt bei der Verfluchung seiner Jüngerschaft anlässlich der Verleugnung von Jesus ab

- Johannes und Jakobus werden zusätzlich als geltungsbedürftige und ehrbegierige Karrieristen beschrieben; betont wird dies im Besonderen bei Johannes, der das Handeln des fremden Wundertäters in Mk 9,38ff untersagen will, weil dieser sich nicht in die Jüngerhierarchie einfügt

Zunächst ist es geboten, dieses Ergebnis kritisch zu überprüfen.

1. Der große Eduard Schweizer, der die hier herauszuarbeitende Sicht unter keinen Umständen geteilt hätte, jedoch ihre in der Luft liegende Möglichkeit spürt, hält angesichts des Evangelienendes (Mk 16,1-8) in Bezug auf Petrus und die Jünger folgendes dagegen:


Auch die gesonderte Nennung des Petrus weist darauf hin, daß die Geschichte seiner Verleugnung und Reue noch nicht zu Ende erzählt und noch eine Begegnung des auferstandenen Jesus mit ihm (l.Kor. 15,5; Lk.24,34; Joh.21,15-19) zu erwarten ist. ... Erst recht unmöglich ist die Hypothese, hier werde geradezu gegen den Auferstehungsglauben der durch die Jünger repräsentierten Jerusalemer Gemeinde gekämpft. Zwar ist der Auferstandene für Markus nicht im gleichen Sinn gegenwärtig wie der Irdische und Wiederkommende (s. zu 2,20). Zwar sind die Jünger als unverständig geschildert; aber einmal gilt das nicht durchwegs (3,14f.; 6,7-13.30.41; 8,6; 10,28-30), dann sind sie ja Galilaer und schließlich müßte von ihrem Unglauben, nicht vom Schweigen der Frauen erzählt werden, wenn in ihnen die Jerusalemer Gemeinde getroffen werden sollte. Angesichts von l.Kor. 15,5-8 (vgl. 11!) und der Tatsache, daß Paulus nur eine Urgemeinde kennt (Gal. l,17f.; 2,1), die er schon vor seiner Berufung, als er sie noch verfolgte, als einheitliche sah (Gal. l,22f.), ist fast undenkbar, daß es Gruppen gab, die nichts von Auferstehungserscheinungen wußten. Dann muß sich aber 16,7 darauf beziehen. Man kann also nur annehmen, daß der Schluß des Evangeliums verloren ist, ist es doch auch schwer vorstellbar, daß ein Buch mit dem in V.8 Gesagten, ja mit dem Wörtlein „nämlich" geschlossen hätte. Darin sind vermutlich Erscheinungen in Galiläa, vielleicht eine Ersterscheinung vor Petrus und eine weitere vor den Zwölfen (l.Kor. 15,5), erzählt worden.

Schweizer behandelt vorliegend nur den Markusschluss. In Bezug auf diesen weist er folgende Auffassung strikt zurück: „Erst recht unmöglich ist die Hypothese, hier werde geradezu gegen den Auferstehungsglauben der durch die Jünger repräsentierten Jerusalemer Gemeinde gekämpft.“ Schweizer entwickelt dazu verschiedene Argumente, um seine Annahme zu belegen. Bevor seine Argumente im Einzelnen geprüft werden sollen, ist es sinnvoll, sich nochmals den Horizont dieser Frage zu vergegenwärtigen.

Wenn wir den Evangelisten Markus mit der christlichen Überlieferung, wie sie in Schritt 1 dargestellt ist, als Schüler und Dolmetscher des Petrus verstehen, der zudem petrinische Lehren im Markusevangelium verarbeitet und weitergegeben hat, dann ist die Auffassung, Markus hätte mit seinem Evangelium in irgendeiner Form gegen Petrus und die Jerusalemer Urgemeinde opponiert, geradezu paradox.

Wenn wir den Markustext jedoch unabhängig von dieser Überlieferung und ohne Vorausverständnis auslegen, so wie in Schritt 2 dargestellt, dann ist die Auffassung, Markus hätte mit seinem Evangelium gegen Petrus und die Jerusalemer Urgemeinde opponiert, geradezu naheliegend.

Eduard Schweizers Argumente können grob wie folgt eingeteilt werden:

- textkritische Argumente
- durch Auslegung gewonnene Argumente
- traditions- und ideengeschichtliche Argumente

1.1. In textkritischer Hinsicht geht Schweizer davon aus, dass der ursprüngliche „Schluß des Evangeliums verloren ist.“ Im von Schweizer angenommenen ursprünglichen Markusende werden seiner Ansicht nach „... vermutlich Erscheinungen in Galiläa, vielleicht eine Ersterscheinung vor Petrus und eine weitere vor den Zwölfen (l.Kor. 15,5), erzählt …

Schweizer trägt hier also an den Markustext etwas heran, dass in diesem weder enthalten noch angedeutet wird. Für seine textkritische Operation fehlt jede hinreichende Basis. Um eine unliebsame Interpretation des Textes zu umgehen, wird der Interpret hier zum Fabulierer und denkt sich selbst ein Ende der Geschichte aus, um seine Interpretation (oder besser ein textfernes Vorverständnis) glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Bei allem Respekt vor Schweizer: ich selbst – als Laiin - vermag ein solches Vorgehen nicht als ernsthaftes, wissenschaftliches Arbeiten anzusehen.


1.2. Schweizer verweist des Weiteren darauf, dass die Darstellung des Petrus und der Zwölf vermeintlich nicht nur negative Seiten kennt: „Auch die gesonderte Nennung des Petrus weist darauf hin, daß die Geschichte seiner Verleugnung und Reue noch nicht zu Ende erzählt ... Zwar sind die Jünger als unverständig geschildert; aber einmal gilt das nicht durchwegs (3,14f.; 6,7-13.30.41; 8,6; 10,28-30), dann sind sie ja Galilaer und schließlich müßte von ihrem Unglauben, nicht vom Schweigen der Frauen erzählt werden, wenn in ihnen die Jerusalemer Gemeinde getroffen werden sollte.

Schauen wir uns zunächst die in der Tat beachtliche „gesonderte Nennung des Petrus“ in Mk 16,7 an: „Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa ...“ Ersichtlich ist, dass Petrus hier an letzter Stelle genannt, möglicherweise nicht einmal mehr zum Jüngerkreis gezählt wird (hierzu Mk 10,31 „Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind“ - Petrus als Erstberufener der Jünger, aber am Ende als Letztgenannter). Für eine positive Petrusdarstellung lässt sich hieraus nichts gewinnen (um dies dennoch zu erreichen, übersetzt die fabulierende Elberfelder mit „seinen Jüngern und vor allem Petrus“, obwohl „vor allem“ im Grundtext nicht enthalten ist). Bedeutsamer für Schweizers Auffassung erscheint mir hier die markinische Verwendung des Verbes „vor euch hingehen“ (προάγει – proagei), dass wie in Mk 10,32 auch im übertragenen Sinn von „vorangehen“ und „anführen“ zu lesen ist. Die von Markus dargelegten Verfehlungen von Petrus führen also nicht zu seiner endgültigen Verwerfung. Das Angebot der Nachfolge bleibt aufrechterhalten. Es ist jedoch an „Petrus“ selbst, diese erneuerte Chance zu nutzen. Positiveres lässt sich zu Gunsten des Petrusbildes aus dem Text aber nicht ableiten. Zugleich scheint Markus anzudeuten, dass diese Chance dadurch vereitelt wird, dass die Frauen den Jüngern und Petrus gerade nichts sagten. Im wörtlichen Sinne ist in Mk 16,8 zu übersetzen: „... und sagten niemandem nichts ...

Schweizer führt zudem Textstellen an, die die Jünger vermeintlich in positiverem Licht zeigen sollen:

Mk 3,14f (Einsetzung der Zwölf) – tatsächlich eine Handlung Jesus, nicht der Jünger
Mk 6,7ff (Aussendung der Zwölf) – Mk 6,12f „Und sie zogen aus und predigten, man solle Buße tun, und trieben viele böse Geister aus und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund.
Mk 6,30ff (Speisung der 5000) – tatsächlich vor allem Handlungen Jesu, positiv für die Jünger nur die Verteilung des von Jesus gebrochenen Brotes
Mk 8,6 (Speisung der 4000) - tatsächlich vor allem Handlungen Jesu, positiv für die Jünger nur die Verteilung des von Jesus gebrochenen Brotes
Mk 10,28ff (Lohn der Nachfolge) – den Jüngern wird grundsätzlich Lohn zugedacht, jedoch einschränkend angeführt „Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind“

Bei kritischer Überprüfung von Schweizers Textargumenten bleiben lediglich zwei erheblich: zum einen die Handlungen der Zwölf bei der Aussendung (Mk 6,12f) und zum anderen die - wenn auch einschränkende – Zusage des Nachfolgelohnes (Mk 10,28ff). Tatsächlich dürfen die beiden von Schweizer angeführten und auch nach kritischer Prüfung maßgeblichen Textstellen nicht vernachlässigt, wenn auch in der Gesamtschau nicht überbewertet werden (bereits in Mk 6,52 heißt es wieder über die Zwölf: „... denn sie waren um nichts verständiger geworden angesichts der Brote, sondern ihr Herz war verhärtet.“) Fazit: Trotz der früheren und späteren Verfehlungen haben sich die Zwölf durchaus auch einmal bewehrt.

Positiv zuzurechnen ist den Zwölf nach Markus: Predigt der Umkehr, Austreibung böser Geister, Krankensalbungen und Heilungen. Mit den oben dargestellten negativen Aspekten (Unverständnis über Jesus, Widerstand gegen die Kindersegnung, Feigheit, Abfall in der Verfolgung, Großsprechertum, Geltungsbedürfnis usw.) steht dies nicht in Widerspruch.


1.3. Das traditionsgeschichtliche Argument erscheint als beachtlicher Einwand von Schweizer: „Angesichts von l. Kor. 15,5-8 und der Tatsache, daß Paulus nur eine Urgemeinde kennt (Gal. l,17f.; 2,1), die er schon vor seiner Berufung, als er sie noch verfolgte, als einheitliche sah (Gal. l,22f.), ist fast undenkbar, daß es Gruppen gab, die nichts von Auferstehungserscheinungen wußten. Dann muß sich aber 16,7 darauf beziehen.“

Dieses Argument ist auf den ersten Blick bestechend. Das Problem des Arguments ist, dass ihm gerade bei dem hier verhandelten Punkt, der Auferstehung, deutliche Markusworte entgegenstehen. Die Zwölf wissen laut Markus nämlich nicht einmal, was Auferstehung bedeutet, und erfahren von der Auferstehung Jesus auch nichts:

Mk 9,10f: „Als sie aber vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus, dass sie niemandem sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn auferstünde von den Toten. Und sie behielten das Wort und befragten sich untereinander: Was ist das, auferstehen von den Toten?

Mk 9,31f: „Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: Der Menschensohn wird überantwortet werden in die Hände der Menschen und sie werden ihn töten; und wenn er getötet ist, so wird er nach drei Tagen auferstehen. Sie aber verstanden das Wort nicht und fürchteten sich, ihn zu fragen.

Mk 16,7: „Und sie sagten niemandem etwas ...

William Wrede hat die ersten beiden Textstellen hervorragend analysiert: „Sie fragen sich: was ist und bedeutet dies von Jesus eben gebrauchte Wort von der Auferstehung? Es fehlt ihnen ... das Wortverständnis, oder sie hören das Wort wie den Laut einer fremden Sprache.

Bedenken wir zunächst, dass laut Apostelgeschichte der Auferstehungsglaube eine Überzeugung der Pharisäer war (Apg 23,8): „Denn die Sadduzäer sagen, es gebe keine Auferstehung noch Engel und Geister; die Pharisäer aber lehren beides.“ Im Grundsatz damit übereinstimmend trägt Josephus Flavius (Bell 2,163; Ant 18,14.) vor, dass die Pharisäer an eine Auferstehung der Seelen der Gerechten glaubten. Auch wenn der Aufstehungsglaube nur von einem Teil der jüdischen Gläubigen geteilt wurde, so war er mit Sicherheit für das jüdische Volk der Zeitenwende eine allseits bekannte Glaubensvorstellung.

Aufgrund dessen ist die Behauptung des Markus, nach der Petrus, Johannes und Jakobus nicht einmal das Wort Auferstehung begreifen würden, vor dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten gänzlich unglaubwürdig. Das traditions- und ideengeschichtliche Argument besagt entgegen Schweizer mithin genau das Gegenteil:

Gerade weil die markinische Darstellung von Petrus, Johannes und Jakobus so unglaubwürdig ist, kann darin nur der Versuch einer ideologischen Bekämpfung der Jerusalemer Urgemeinde (oder der Tradition, die sich auf diese Urgemeinde beruft), der Versuch einer absichtlichen Herabwürdigung und Diskreditierung des Petrus, Johannes und Jakobus (bzw. ihrer Nachfolger) gesehen werden.


2. Es führt mithin kein Weg daran vorbei, die markinische Darstellung des Petrus und der Zwölf als sehr negativ zu beurteilen, auch wenn einige positive Aspekte nicht vernachlässigt werden dürfen. Fraglich bleibt, ob diese Darstellung möglicherweise eine ganz andere Funktion als eine ideologische Bekämpfung und Diskreditierung hat.

Den Standpunkt einer ideologischen Auseinandersetzung vertritt u.a. Theodor Weeden. Über Weedens Auffassung schreibt Wolfgang Fritzen:

Die angedeutete Entwicklung des Jüngerbildes macht die Ausbildung von Interpretationen verständlich, die im Jüngerbild des Markusevangeliums eine Polemik gegen die Jünger sehen, die diese völlig diskreditieren soll. Die Entwicklung der Beziehung Jesu zu seinen Jüngern wird in drei Stadien von Erkenntnisunfähigkeit (1,16- 8,26) über Missverständnis (8,27-14,9) bis zur Ablehnung (14,10-72) beschrieben. Ein solches, gänzlich negatives Jüngerbild sei eine 'sorgfältig formulierte, polemische Konstruktion, die der Evangelist entworfen hat, um die Jünger herabzusetzen und zu entlarven.' Als Hintergrund für eine solche Polemik wird dann die Existenz von Gegnern angenommen, die diese Polemik eigentlich treffen soll. Meist wird ihnen eine … Christologie unterstellt, die einseitig das machtvolle Wunderwirken und die Herrlichkeit Jesu betone, dabei aber das Kreuz Jesu vernachlässige. Die theologia crucis solle durch eine theologia gloriae ersetzt werden. Daraus resultiere ein Verständnis von Jüngerschaft, wie es in den Gegnern von Mk 13 deutlich werde: Solche Jünger identifizierten sich mit Christus und sähen ihre Aufgabe darin, entsprechende Machttaten zu wirken. Gegen solche Häresie setze der Evangelist nun seine Kritik der Jünger Jesu, seine angeblich kritische Haltung zu den Wundertraditionen und die Betonung von Leiden und Kreuz Jesu. Zunächst gab es viel Zustimmung für Weeden … zunehmend aber wurden und werden seine Thesen stark kritisiert.

Festzuhalten ist zunächst, dass Weedens Auffassung ausgezeichnet zur vorliegenden Analyse passt. Als positive Aspekte der Jünger wird diesen von Markus ihr Wunderwirken zugutegehalten (Mk 6,12f Predigt der Umkehr, Austreibung böser Geister, Krankensalbungen und Heilungen). Im Übrigen verbleiben und überwiegen die negativen Aspekte mehr als deutlich.

Wolfgang Fritzen - und mit ihm die überwiegende Mehrzahl der Gelehrten – deutet das negative Bild der Jünger im Markusevangelium nicht als Polemik, sondern verbindet es mit einer „didaktisch-pastoralen“ Funktion. Der Leser des Evangeliums soll am Vorbild Jesu, an den fehlgehenden Jüngern und durch deren Fehler lernen. Beachtlich ist hierbei zunächst, dass Fritzen – natürlich viel detailreicher und ausführlicher - im Wesentlichen die gleichen Negativaspekte im Jüngerbild herausarbeitet, wie ich es in Schritt 2 an einigen Beispielen dargetan habe. Fritzen fasst letztendlich wie folgt zusammen:

Die so initiierte kritische Auseinandersetzung mit den Jüngern soll viertens auch auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Jüngersein hinauslaufen. Denn die Leser wurden im ersten Schritt zur Identifikation mit den Jüngern eingeladen. Und der narrative Befund für den zweiten und dritten Schritt zeigt, dass diese Einladung zur Identifikation noch lange aufrechterhalten wird. Denn auch jetzt noch werden positive Aspekte des Jüngerbildes nicht ausgeblendet, und das Jüngerunverständnis wird so eingeführt, dass es zunächst durchaus verständlich erscheint und sich erst langsam in massivere Formen bis hin zum völligen Versagen steigert. Dadurch wird beim Leser (wie schon für die Frauen am Ende beobachtet) eine Haltung der 'sympathetic distance' erreicht, die am besten geeignet ist, zu Selbstreflexion und Selbstkritik anzuleiten.

Es sei zunächst angemerkt, dass für die Annahme einer „didaktischen Funktion“ beachtliche Gründe vorgebracht werden können. Hierfür spricht unter anderem, dass Markus die Erzählebene des Evangeliums mehrfach „aufbricht“ und sich selbst in wörtlichen Reden von Jesus unmittelbar an den Leser wendet (Mk 13,14 „- wer es liest, der merke auf! -“ ist nur die deutlichste Textstelle). Meines Erachtens sollte die Hypothese einer didaktischen Funktion zumindest als Nebenaspekt auch keinesfalls verworfen werden.

Fraglich bleibt hier indes, ob die angenommenen didaktischen Aspekte hinreichen, um – mit Fritzen - eine polemische Zielrichtung des Markusevangeliums verneinen zu können. Ich teile seine Auffassung vor allem aus zwei Gründen nicht:

2.1. Markus zeigt das Versagen der Jünger stets an den Trägern der Tradition: Petrus, Jakobus und Johannes als Einzelpersonen bzw. gemeinsam als Gruppe sowie den Zwölf als Jüngergruppe

Hätte die Darstellung des Markus ausschließlich didaktische Funktion, dann wären auch andere Jünger, beispielsweise Andreas, einmal als Einzelpersonen von der Negativdarstellung betroffen. Wie in Schritt 2 gezeigt, ist dies jedoch nie der Fall.

2.2. Das „Versagen“ der Jünger ist teilweise so beschämend, dass eine lehrreiche Identifikation des Lesers mit den Jüngern nicht mehr möglich ist

Besonders auffällig ist dies beispielsweise bei der Verleugnung des Petrus gegenüber der Magd des Hohenpriesters - während Jesus vor dem Hohenpriester und dem Hohen Rat standhält, wie in Schritt 2 dargestellt.

Der vermeintlichen „didaktischen Funktion“ wäre bereits durch das vorbildliche Standhalten Jesu vor dem Hohenpriester hinreichend Genüge getan. Markus hätte diese zweifellos noch dadurch unterstreichen können, dass er den „versagenden“ Petrus gegenüber bewaffneten Söldnern kurz vor seiner Verhaftung hätte scheitern lassen. In einer solchen Darstellung hätte sich der Leser in Petrus wiedererkennen können, sie hätte ihn – mit Fritzens Worten gesprochen - „zu Selbstreflexion und Selbstkritik anleiten“ können. Eine solche Darstellung gibt Markus jedoch nicht.

Die Verleugnung des Petrus steigert sich bei Markus vielmehr in drei Schritten – bis zur Verfluchung seiner Jüngerschaft -, obwohl sich die bereits eher geringe Gefahr (Gespräch mit einer Magd) zugleich in drei Schritten minimiert (von der Magd zu Dabeistehenden, vom Hof in den Vorhof). Der Leser vermag sich hier in Petrus nicht wiederzuerkennen und keine Lehren aus dessen Verhalten zu ziehen. Petrus wird hier vor allem im Auge des Lesers herabgewürdigt und diskreditiert. Markus „mobbt“ Petrus.

Für „die Zwölf“ gilt dies etwa in Mk 8,15f: „Und er gebot ihnen und sprach: Schaut zu und seht euch vor vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes. Und sie bedachten hin und her, dass sie kein Brot hätten.

Jeder Leser – auch ein antiker – versteht bzw. verstand hier sofort, dass Jesus im übertragenen Sinn von „Sauerteig“ redet und eben nicht von Brotteig. Dass die Jünger nach Markus schwarzhumoriger Darstellung trotzdem sofort an Brot denken, lässt sie als „Blödiane“ erscheinen. Die Jünger sind damit dem Spott des Lesers ausgeliefert, der sich mit ihnen nicht mehr ansatzweise identifizieren und aus ihrem Verhalten auch keine Lehren mehr ziehen kann. Die Zwölf werden hier als „Lachnummern“ verspöttelt. Die Szene in Mk 8,15f – und eben nicht nur diese - ist ein „Dummenschwank“ ähnlich dem der Sieben Schwaben.


3. Berichte des NT über innerchristliche ideologische Meinungsverschiedenheiten

Die polemische Funktion des Markusevangeliums ist weniger erstaunlich, wenn man sich die im Neuen Testament erwähnten innerchristlichen Meinungsverschiedenheiten vergegenwärtigt. Tatsächlich belegt fast jede Schrift des NT innerchristliche Auseinandersetzungen, zumindest Differenzen. Jede dieser Schriften nimmt Partei für eine bestimmte Meinungsrichtung. Der Glaube, ausgerechnet die Evangelien seien hiervon ausgenommen und würden nicht ebenfalls Partei innerhalb der frühchristlichen Strömungen ergreifen, ist wohl eher besonders naiv.

1. Kor 1,10ff: „Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle mit einer Stimme redet und lasst keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest in einem Sinn und in einer Meinung. Denn es ist mir bekannt geworden über euch, liebe Brüder, durch die Leute der Chloë, dass Streit unter euch ist. Ich meine aber dies, dass unter euch der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, der andere: Ich zu Apollos, der Dritte: Ich zu Kephas, der Vierte: Ich zu Christus.

Gal 1,6f: „Mich wundert, dass ihr euch so bald abwenden lasst von dem, der euch berufen hat in die Gnade Christi, zu einem andern Evangelium, obwohl es doch kein andres gibt; nur dass einige da sind, die euch verwirren und wollen das Evangelium Christi verkehren.“

Gal 2,11ff: „Als aber Kephas nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn. Denn bevor einige von Jakobus kamen, aß er mit den Heiden; als sie aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus dem Judentum fürchtete. Und mit ihm heuchelten auch die andern Juden, sodass selbst Barnabas verführt wurde, mit ihnen zu heucheln.

Phil 3,2: „Nehmt euch in Acht vor den Hunden, nehmt euch in Acht vor den böswilligen Arbeitern, nehmt euch in Acht vor der Zerschneidung!

1. Tim 6,20ff: „O Timotheus! Bewahre, was dir anvertraut ist, und meide das ungeistliche lose Geschwätz und das Gezänk der fälschlich so genannten Erkenntnis, zu der sich einige bekannt haben und sind vom Glauben abgeirrt.

Apg 20,28ff: „So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat. Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe zu euch kommen, die die Herde nicht verschonen werden. Auch aus eurer Mitte werden Männer aufstehen, die Verkehrtes lehren, um die Jünger an sich zu ziehen.

2. Petr 3,15ff: „... wie auch unser lieber Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen, wie auch die andern Schriften, zu ihrer eigenen Verdammnis. Ihr aber, meine Lieben, weil ihr das im Voraus wisst, so hütet euch, dass ihr nicht durch den Irrtum dieser ruchlosen Leute samt ihnen verführt werdet und fallt aus eurem festen Stand.

2. Joh 7ff: „Denn viele Verführer sind in die Welt ausgegangen, die nicht bekennen, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist. Das ist der Verführer und der Antichrist. Seht euch vor, dass ihr nicht verliert, was wir erarbeitet haben, sondern vollen Lohn empfangt. Wer darüber hinausgeht und bleibt nicht in der Lehre Christi, der hat Gott nicht; wer in dieser Lehre bleibt, der hat den Vater und den Sohn. Wenn jemand zu euch kommt und bringt diese Lehre nicht, so nehmt ihn nicht ins Haus und grüßt ihn auch nicht. Denn wer ihn grüßt, der hat teil an seinen bösen Werken.

Jak 4,1ff: „Woher kommt der Kampf unter euch, woher der Streit? Kommt's nicht daher, dass in euren Gliedern die Gelüste gegeneinander streiten? Ihr seid begierig und erlangt's nicht; ihr mordet und neidet und gewinnt nichts; ihr streitet und kämpft und habt nichts, weil ihr nicht bittet; ihr bittet und empfangt nichts, weil ihr in übler Absicht bittet, nämlich damit ihr's für eure Gelüste vergeuden könnt.

Jud 3f: „Ihr Lieben, nachdem ich ernstlich vorhatte, euch zu schreiben von unser aller Heil, hielt ich's für nötig, euch in meinem Brief zu ermahnen, dass ihr für den Glauben kämpft, der ein für alle Mal den Heiligen überliefert ist. Denn es haben sich einige Menschen eingeschlichen, über die schon längst das Urteil geschrieben ist; Gottlose sind sie, missbrauchen die Gnade unseres Gottes für ihre Ausschweifung und verleugnen unsern alleinigen Herrscher und Herrn Jesus Christus.

Offb 2,2ff: „Ich kenne deine Werke und deine Mühsal und deine Geduld und weiß, dass du die Bösen nicht ertragen kannst; und du hast die geprüft, die sagen, sie seien Apostel und sind's nicht, und hast sie als Lügner befunden und hast Geduld und hast um meines Namens willen die Last getragen und bist nicht müde geworden. Aber ich habe gegen dich, dass du die erste Liebe verlässt. So denke nun daran, wovon du abgefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke! Wenn aber nicht, werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte - wenn du nicht Buße tust. Aber das hast du für dich, dass du die Werke der Nikolaïten hassest, die ich auch hasse.

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