Freitag, 18. Oktober 2013

Kampf der Evangelien-Literatur: Kanon > < Apokryphen


Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"

Meines Erachtens haben Ungläubige Vor- und Nachteile beim Lesen biblischer Schriften. Nachteile entstehen vor allem bei hymnischen Texten, die ein „lebendiges“ Verstehen erfordern und den Leser auch auf Gefühlsebene ansprechen. So ergibt das Wort „Gott“ einen anderen Sinn und ein anderes Leseerlebnis, wenn darunter der Schöpfer des Kosmos und des Lebens verstanden wird, als für eine wie mich, der dies nur eine Vokabel ist, „an die andere glauben“. Während das christliche Verständnis des Textes von Gefühlen und Emotionen begleitet werden kann, ist meine Lektüre eher verhalten und sicher auch auf Verstandesebene wesentlich flacher und eindimensionaler. Die Worte, die Johannes für seinen Prolog gefunden hat, werden sich mir daher trotz aller Mühe wohl nie ganz erschließen und immer etwas im Dunklen bleiben. Ich ahne aber ein wenig, welch herrliche Lektüre dieser „leuchtende“ Hymnus für einen Christen sein muss.

Empfunden haben dies auch andere, die den Johannesprolog für ihre Neuoffenbarungen bearbeiteten. Was für die einen sich vielleicht als „dreister Raub des Johannesprologs“ darstellt, mag für jene indes nur die „Bewusstmachung“ des „darin verborgenen geheimen Wissens“ gewesen sein ;-) Ich möchte natürlich nur prüfen, ob sie auf literarischer Ebene über Johannes triumphierten oder kläglich an ihm scheiterten ...

Zu den Übernehmern einer solchen Neubearbeitung zählt auch die apokryphe Herausforderin dieses Viertelfinales, die Schrift „Das ist mein Wort – Alpha und Omega“. Leider ist mir erst jetzt deutlich geworden, dass der Hauptteil des Prologs dieser Schrift wohl nicht „original“ ist, sondern scheinbar seinerseits auf eine andere Neuoffenbarung zurückgeht. Dabei handelt es sich um das „Evangelium der Heiligen Zwölf“ auch „Evangelium des vollkommenen Lebens“ oder „Das Evangelium Jesu“ genannt von Gideon Jasper Richard Ouseley (1834–1906). Alpha & Omega ist also eine Bearbeitung von Ouseley, der zunächst Johannes bearbeitet hatte. Um diese herrliche Verworrenheit etwas aufzulösen, habe ich den Johannesprolog (soweit auf ihn Bezug genommen wird) dem Alpha-und-Omega-Prolog in einer Synopse gegenüberstellt, den mutmaßlichen „Ouseley-Anteil“ dazwischen abgegrenzt und gewisse inhaltliche Auffälligkeiten fettiert. Zu den Anmerkungen (hier die 3. Spalte der Synopse) heißt es in „Alpha und Omega“: „Mit dem Text, der in gerader Schrift abgedruckt ist, erklärt, berichtigt und vertieft Christus die entsprechenden Stellen aus dem Buch 'Das Evangelium Jesu'.

Der augenfällige Hauptunterschied zwischen Johannes und seinen Gegnern ist zunächst die Perspektive. Bei Johannes ist der Prolog ein Lied seiner Gemeinde, die von sich in Vers 14 und 16 als „wir“ und „uns“ redet. Bei Ouseley entfällt Vers 16. Vers 14 wird zwar verkürzt und abgewandelt beibehalten, zuvor aber mehrere „Ich“-Aussagen eingeführt. Alpha & Omega ergänzt in den Anmerkungen neben "Definitionen" ausschließlich „Ich“-Aussagen, so dass der Prolog bei diesen sich eher bzw. ganz als Lied des Offenbarers bzw. als Verkündung der Offenbarerin gibt.

Der zweite wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Johannesprolog eine abstrakte Erzählung, also eine Handlungsschilderung beinhaltet, deren „Held“ der Logos (übersetzt „das Wort“) ist. Von ihm wird im ersten Vers, im letzten Vers (als „Fleischgewordenem“) und fast auch in allen dazwischen liegenden berichtet. Ouseley hält sich zwar an die äußere Form des Prologs, jedoch nicht an seine innere Erzählstruktur. Er läd den Prolog ersichtlich mit fernöstlicher Weisheit auf, findet in diesem "Nirvana" aber keinen „Helden“, über dessen Sein und Werden er durchgängig erzählt bzw. erzählen kann. Gleiches gilt für die Anmerkungen von Alpha & Omega.

Der dritte Unterschied besteht zwischen Johannes und Ouseley auf der einen, Alpha & Omega auf der anderen Seite. Während Ouseley ersichtlich bemüht ist, den hymnischen, liedhaften Tonfall des Johannesprologs beizubehalten, ignoriert Alpha & Omega diesen mit den Anmerkungen vollständig. Auf literarischer Ebene haben wir also mit dem Johannesprolog einer "sinnvolle" Erzählung über den Logos in einem hymnischen Tonfall. Ouseley "ruiniert" die Erzählung, wahrt aber den Hymnus. Alpha & Omega "ruiniert" beide, sowohl die Erzählung als auch die hymnische Form.

Was Ouseley und Alpha & Omega statt dessen einbringen, ist zunächst ihre Welt- und Ichanschauung sowie einige schöne und geheimnisvoll klingende Worte. Bei Alpha & Omega sind dies beispielsweise "Urempfindung" oder "Urzentralsonne", die jedoch wiederum aus anderen Quellen entlehnt sind (z.B. letzteres von Jakob Lorber) und damit keine eigenen Neuschöpfungen darstellen.

Lässiger Triumph des alten Meisters also ! Tja, man soll eben keinen neuen Wein in alte Schläuche füllen ...

Die Halbfinals stehen damit fest:

Lukas > < Exegese der Seele
Johannes > < Thomas

Teil 1 - Einführung
Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele
Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium
Teil 4 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"
Teil 6 - Halbfinale Lukas-Evangelium – Exegese der Seele
Teil 7 - Halbfinale Johannes-Evangelium – Thomas-Evangelium
Teil 8 und Ende - Finale Lukas-Evangelium – Johannes-Evangelium

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen