Montag, 29. Juli 2024

Jesus’ Prozess vor Pilatus – Dichtung oder Wahrheit


1) Als ich das erste Mal im Markusevangelium las, war ich 17 oder 18 Jahre alt. Damals wollte ich mir einen Überblick über die letzten Tage im Leben von Jesus aus den historischen Quellen verschaffen. Bei meiner Lektüre ging ich davon aus - wie selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken -, dass es sich beim Markusevangelium um einen Bericht handelt, in dem historische Erinnerungen an Jesus mit christlichen Glaubenswahrheiten und antikem Aberglauben in einer nicht leicht durchschaubaren Gedankenwelt verschmolzen sind. Gleichwohl hegte ich die Hoffnung, dass ich durch sehr sorgfältiges Lesen einige historische Umstände und Geschehnisse im Bericht des Markus entdecken könnte. 

Jesus vor Pilatus

Jahre später habe ich gelernt, dass dieses Vorverständnis des Textes von fast allen historisch interessierten Gelehrten geteilt wird, wenn auch natürlich nicht derart naiv. Diese Gelehrten hatten über ihre Herangehensweise an den Text Reflexionen angestellt, komplizierte Theorien über dessen Entstehung gebildet und Argumente gewonnen, die ihre Art der Lektüre und Interpretation rechtfertigten. Wie unterschiedlich die Auffassungen dieser Gelehrten im Detail auch waren, sie änderten mehrheitlich nichts an diesem Grundverständnis, nach welchem vor allem die letzten Kapitel des Markusevangeliums als ein auf wirklichen Erinnerungen beruhender Bericht verstanden wurde - wenn auch von späteren theologischen Anschauungen des Evangelisten stark durchtränkt und verformt. Die Gelehrten begriffen sich daher als Archäologen am Bibeltext, die theologische Schichten im Text des Markusevangeliums entfernten, um die darunter verborgenen historischen Geschehnisse um Jesus gleichsam auszugraben und freizulegen.

In diesem Beitrag möchte ich am Beispiel des Verhörs vor Pilatus (vor allem am Vers Markus 15:2) zeigen, warum ich, aber auch viele moderne Gelehrte dieses Verständnis des Markusevangeliums nicht mehr teilen und sich die Meinung über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit im Bericht des Markus in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben hat.