1) In der Welt der bunten bibleblogs
gibt es einige, die sich dem in der Überschrift genannten Thema
widmen. Ihr Ansporn ist die Faszination angesichts von Bibelversen,
die wir in der Bibel einfach nicht erwarten. Das Buch der Bücher
erscheint an diesen Stellen moderner, überraschender und kühner als
sein Ruf. Unter diesem Blickwinkel würde ich die schönen Verse
Hohelied 5:2-6 nennen, die nicht nur ein erotisches Flair, sondern
auch eine sexuelle Mehrdeutigkeit entstehen lassen.
Marc Chagall "Das Hohelied II" |
Das „Lied der Lieder“ - von Luther
„Hohelied“ genannt - (hebr: Schîr hasch-schîrîm, gr: asma
asmatôn) wird im Judentum und Christentum zumindest seit Rabbi
Akiba, Hippolyt von Rom und Origenes allegorisch interpretiert. Nach
den Auslegungen dieser Denker sei das Thema des Hoheliedes nicht die
Liebe zwischen Frau und Mann, sondern zwischen Gott und seinem Volk
bzw. der Seele jedes Einzelnen. Nur vereinzelt hat es antike und
mittelalterliche Gelehrte gegeben, die das Hohelied wörtlich
verstanden und es deshalb aus der Bibel verbannt wissen wollten. Die
spirituelle Interpretation schützte das Hohelied daher vor einer
Verdammnis.
Eine neue Sichtweise auf das Hohelied
eröffnete Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert, der ihm das
Verständnis als einer wunderschönen Liebesdichtung zurückgab:
„Schämest du dich des Hohenlieds, Heuchler, so schäme dich auch
des Weibes, die dich empfangen, und des Kindes, das dir dein Weib
geboren, am meisten aber deiner selbst, Deiner!“ Goethe hat es als
Weltpoesie gefeiert und im „Faust“ einige Anklänge an das
Hohelied in den Äußerungen von Gretchen verarbeitet.
2) Wer das Hohelied ein wenig kennt,
weiß, dass es das unerfüllte Begehren dramatisiert. Braut und
Geliebter besingen ihre Liebe und einander, aber der Moment der
absoluten Erfüllung bleibt im Lied aus. Auch die Verse 5:2-6 kreisen
um diesen Punkt.
Eine gängige moderne Interpretation
der Verse lautet, dass es sich bei der Schilderung um einen Traum der
Braut handelt („Ich schlief, aber mein Herz war wach …“). Sie
träumt vom Kommen des Geliebten („Horch, mein Freund klopft
an...“). Noch als sie erwacht, nimmt sie die Trugbilder des Traums
als Wirklichkeit, muss aber feststellen, dass der Geliebte nicht da
ist („Aber als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und
fortgegangen ...“). Im Traum verzehrt sie sich in ihrer Sehnsucht
nach dem Geliebten.
Die Verse lauten in der
Lutherübersetzung:
2 Ich schlief, aber mein Herz war wach.
Horch, mein Freund klopft an:
»Tu mir auf, meine Schwester, meine
Freundin,
meine Taube, du Makellose!
Mein Haupt ist voll Tau und
meine Locken voll Tropfen der Nacht.«
3 »Ich habe mein Kleid ausgezogen –
wie soll ich es wieder anziehen?
Ich habe meine Füße gewaschen –
wie soll ich sie wieder schmutzig
machen?«
4 Mein Freund steckte seine Hand durchs
Riegelloch,
und mein Leib bebte ihm entgegen.
5 Da stand ich auf, dass ich meinem
Freunde auftäte;
meine Hände troffen von Myrrhe und
meine Finger von fließender Myrrhe
an den Griffen des Riegels.
6 Aber als ich meinem Freund aufgetan
hatte,
war er weg und fortgegangen.
Meine Seele war außer sich,
dass er sich abgewandt hatte.
Ich suchte ihn, aber ich fand ihn
nicht;
ich rief, aber er antwortete mir nicht.
Die Verse spielen mit der
Mehrdeutigkeit von Wörtern. Die geträumte Aufforderung des
Geliebten „Tu mir auf“ beginnt den Reigen der Doppeldeutigkeit.
Das „Stecken der Hand durch's Riegelloch“ wirkt besonders im
Original anzüglich, da das hebräische Wort „chor“ schlicht
„Öffnung“ bedeutet und nur gängige Übersetzungen es mit „Tür“,
„Fenster“ oder „Riegelloch“ übertragen. Das „Beben des
Leibs“ der Braut weckt die Vorstellung einer sexuellen Erregung.
Auch das „Triefen der Hände von Myrrhe“ lässt an
Körperflüssigkeiten während des Liebesspiels denken.
Natürlich wird eine solches
Verständnis nicht von allen Exegeten geteilt. Im englischen
Sprachraum findet man häufig Diskussionen darüber, ob die Verse nun
das eine oder das andere meinen.
Ich selbst glaube, dass der Dichter des
Liedes von vornherein nur auf den süßen Schauder des Lesers
abzielte. Als Leser sollen wir nur den bloßen Eindruck bekommen,
aber diesen auch wirklich haben, dass hier mehr gemeint sein könnte
als ein im letzten Moment abgebrochener Besuch zu nächtlicher Stunde
und uns ohne letzte Gewissheit verführen lassen von dieser
erregenden Phantasie.
Oh, ein anderes meiner Lieblingsthemen!
AntwortenLöschenWie immer kann die Frage nach dem Sinn der Texte auf verschiedenen Ebenen gestellt werden, zumal wenn man davon ausgeht, dass der Text nicht aus dem poetischen Nichts kommt sondern wohl auch älteres Material verwendet und zusammenstellt, und sich nun in einem grösseren Zusammenhang befindet (tanakh, Bibel, Liturgie, etc.) (Und dieses offene "Mehr" ist ja an sich schon eine schöne Herausforderung für den theologischen Segler. Na, ich bin ja mehr ein Waldmensch, aber da gibts auch viele Wege, Pfade und Stiege.)
André LaCoque hat ein interessantes Buch geschrieben (Romance, she wrote), in dem er verfolgt wie der Text (nach LaCoques Ansicht der einer Verfasserin) Ideen, Bilder und Formulierungen aus Tempeltheologie und prophetischer Theologie aufnimmt, verändert, kritisiert und in eine andere Richtung dreht (zB Ct 4:6 .השבעתי אתכם...בצבאות או באילות השדה "hischbati ätchäm bizvaot o beajalot hassadäh" wohin man leicht יי צבאות und אל שדי "(JHWH) zvaot" und "el schaddaj" assoziieren kann. Oder wenn man die Gewürze mit der Zusammensetzung des Salböls vergleicht). "For the Canticle, human love is the analogy of God's love, of which it is the incarnation." Wie würde sich das Hohelied lesen, wenn man all diese Texte im Hinterkopf präsent und die Sinne offen für alle Anspielungen hätte?
Ein anderes Hohelied:
AntwortenLöschenPsalm 104 und Sonnenhymnus des Echnaton
https://cms.bistum-trier.de/bistum-trier/Integrale?SID=75A4E6C39264F63CB0A828426C964534&MODULE=Frontend.Media&ACTION=ViewMediaObject&Media.PK=6993&Media.Object.ObjectType=full
Any thoughts?