Freitag, 15. April 2016

Der fromme Marcion und das Primat des Markusevangeliums


1) Meines Erachtens ist die These, dass das Markusevangelium das ältestes Evangelium ist, eines der großen Verdienste der historisch-kritischen Methode. Zwar gab und gibt es vereinzelte Gelehrte, die für den Vorrang eines anderen Evangeliums plädieren. Die dafür vorgebrachten Gründe konnten sich jedoch nicht durchsetzen.

Marcion (rechts) und Johannes via wikicommons
Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Dresdner Professor Matthias Klinghardt seine These, nach der das älteste bekannte Evangelium nicht jenes nach Markus, sondern das vom „Erzketzer“ Marcion von Sinope gewesen sei. Sein Erfurter Kollege, Prof. Markus Vinzent, vertritt die Auffassung, dass Marcions Evangelium nicht nur das erste uns bekannte, sondern überhaupt das erste Evangelium gewesen sei. Vor beiden hatte wohl auch Prof. David Trobisch eine ähnliche Meinung angedeutet. In einem „Die Welt“-Artikel vom 21.07.2015 „Ältestes Evangelium aus Ketzer-Bibel rekonstruiert“ wurde Klinghardts Buch umfangreich besprochen: „Das war und ist theologisches Dynamit. Denn das Ergebnis stellt 150 Jahre kritische Bibelforschung auf den Kopf: Nicht Marcion war demnach der viel gescholtene Erzketzer, der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. das Neue Testament nach seinen Vorstellungen verunstaltete und dabei auch gleich das Alte Testament daraus verbannte, sondern es ist das Marcion vorliegende Buch, das Ur-Evangelium, von dem alle anderen Evangelien abhängen.

In der Zukunft werden junge Theologen und Religionspädagogen die Studienbänke verlassen, denen gelehrt worden ist, dass Marcion das älteste Evangelium geschrieben habe. Auch unabhängig davon, wird das historische Interesse an Marcion sicher zunehmen. Mit diesem Beitrag möchte ich deshalb – für Interessierte, die wie ich selbst kaum eine Ahnung von Marcion haben - vor allem auf zwei kleine Dinge hinweisen: auf die „Frömmigkeit“ von Marcion und die problematische Frage nach dem Inhalt seines Evangeliums. Zum anderen will ich einen kleinen literarischen Fakt präsentieren, der für das Primat des Markusevangeliums gegen Marcion spricht, und außerdem etwas über die aus meiner Sicht kaum überzeugende Ausführung von Prof. Vinzent sagen, mit der er selbst versucht hat, den Vorrang von Marcion zu begründen.