1) Im 32. Kapitel des Buches Bereschit
(1. Mose bzw. Genesis) steht Jakob vor seiner Rückkehr ins heilige
Land. Zwanzig Jahre vorher war er geflüchtet, um der Vergeltung
seines älteren Zwillingsbruders Esau zu entgehen. Er hatte Esau
dessen Erstgeburtsrecht und seinem Vater Isaak den väterlichen Segen
abgelistet, der Esau als Älterem gebührte. Nach Jakobs Flucht war
sein Schicksal geprägt durch göttliche Offenbarungen, durch weitere
Tricks und Täuschungen - die er selbst beging oder deren Opfer er
wurde -, durch sein Familienleben und die Rivalität seiner beiden
Frauen Lea und Rahel. Nun kehrt Jakob zurück und fürchtet nach wie
vor den Zorn seines Bruders, den er ängstlich, aber gemäß einem
ausgeklügelten Plan durch reiche Geschenke besänftigen will.
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In der letzten Nacht vor seiner
Begegnung mit Esau lagert Jakobs Tross am Fluss Jabbok. Er steht auf,
geht zunächst hinüber, führt dann seine Familie und sein Lager
über den Fluss und bleibt dann doch allein zurück. Plötzlich ringt
ein geheimnisvoller „Mann“ in der Dunkelheit mit Jakob, der
scheinbar den Kampf im Morgengrauen beenden will, aber von Jakob
daran gehindert wird, denn dieser will von seinem Gegner gesegnet
werden. Der Fremde gibt Jakob den neuen Namen „Israel“ und Jakob
gibt dem Ort am Jabbok den neuen Namen „Peniel“, „denn ich habe
Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet
worden!“
Seit Jahrtausenden rätseln Bibelleser
über diese magische Erzählung, darüber, ob der Fremde etwa Gott,
ein Engel oder Esau war, ob die Begebenheit sich „wirklich“ oder
als Traum oder als tiefes, meditatives Gebet ereignete oder ob es
sich um eine allegorische Erzählung handelt. Aber egal, zu welcher
Auslegung man auch neigt, man versteht, dass Jakob in dieser Nacht am
Jabbok „irgendwie“ mit Gott, vielleicht mit Esau und mit seinem
Schicksal ringt und aus diesem Kampf verwandelt und geläutert
hervorgeht.
Leider hat dieses „Verständnis“
einen erheblichen Schönheitsfehler. Nach wohl fast einmütiger
Auffassung der Bibelwissenschaft ist diese Erzählung nämlich nicht
einheitlich entstanden, sondern - um es lax zu sagen – ein
Flickenteppich und ein wertloses Kuckucksei. Dabei wird angenommen,
dass der Text – wie wir ihn heute in der Bibel lesen können –
mehrfach überarbeitet worden sei. Am Anfang habe etwa eine uralte
Sage gestanden, die mit der Bibel und Jakob noch nichts zu tun hatte.
In dieser standen sich angeblich ein heidnischer Flussgott oder
Dämon, der nur während der Nacht erscheint, und ein kanaanäischer
Held im Kampf gegenüber. Diese im Volk populäre Geschichte sei zu
späterer Zeit abgeändert und neu erzählt worden, als in Kanaan
einzelne Stämme mit unterschiedlichen Gottheiten um die
Vorherrschaft stritten. Schließlich sei die beliebte Geschichte des
Kampfes von den Autoren der Bibel auf Jakob und den Gott Israels so
umgeschrieben worden, dass aus dem siegreichen Held der unterlegene
Jakob geworden sei. Nach einer der vielen anderen bizarren Meinungen
sei der Ursprung der Geschichte hingegen in einer Art Koboldssage zu
sehen, in der ein Wanderer des Nachts von einem Kobold angefallen
wird.
Ich möchte niemanden davon abhalten,
an kanaanäische Dämonen und Kobolde zu glauben. Persönlich muss
ich über diese Theorien schmunzeln. Ich habe nicht den
allergeringsten Zweifel, dass diese Erzählung echt ist und vollstes
Vertrauen verdient.
Diesen langen Beitrag verfasse ich
ausnahmsweise als eine Art Rätselspiel, an dessen Ende eine
eindeutige Lösung steht. Nach einer Einführung (2.) folgt eine
Übersetzung (3.) des biblischen Textes, danach einige Überlegungen
zu seiner Struktur (4.-5.) und zu Problemen auf seiner Sinnebene
(6.). Mit diesen - manchmal schwierigen - Hinweisen gebe ich Lesern,
die so freundlich sind, diesen Beitrag zu lesen, alles Notwendige in
die Hand, um von selbst auf die Lösung (7.) des Rätsels zu kommen.
Wer dies wagen will, geht zwei Risiken
ein. Er muss – gegen alle Theorien der Bibelwissenschaft - dem
biblischen Text vertrauen und sich - Zeile für Zeile und Wort für
Wort - in ihn und seine vermeintlichen Widersprüche vertiefen. Er
muss außerdem – was noch schwieriger sein dürfte – mir
vertrauen.