Freitag, 7. Juni 2013

Kampf der Evangelien-Literatur: Kanon > < Apokryphen


Schriftsteller und Leser frönen gern des Aberglaubens an den „schönen ersten Satz“. Angeblich sei es „ungemein wichtig, wie man ein Buch anfängt“: „Ein guter erster Satz macht Lust auf den zweiten - und der zweite Lust auf den dritten ... Sie können Spannung erzeugen oder mich irritieren und verstören - nur langweilen dürfen sie mich nicht.

Obwohl Evangelisten bereits im Canon Muratori auch als „Schriftsteller“ bezeichnet wurden, unterwarfen sich die „fab four“ nicht unbedingt der Diktatur des hochmögenden Eingangssatzes. Auf den ersten Blick wird aber deutlich, dass jeder Evangelist ein besonderes Augenmerk auf den Anfang seines Evangeliums in der Absicht richtete, mit dem Beginn seiner Erzählung einen „Eckstein“ zu legen.

Phoebe Anna Traquair via theunwittingtraveller.com



Eifrige Nachdenker über diese Evangelienanfänge waren die Kirchenväter. So ordnete schließlich Hieronymus – einen Gedanken von Irenäus von Lyon abwandelnd - den Evangelisten ihre (aus Hezekiel und der Offenbarung abgeleiteten) Symbole entsprechend ihrem Auftakt zu: „Die erste Gestalt, die eines Menschen, deutet hin auf Matthäus, der wie über einen Menschen zu schreiben beginnt: 'Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams', die zweite auf Markus, bei dem die Stimme eines brüllenden Löwen in der Wüste hörbar wird: 'Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg, macht eben seine Pfade'; die dritte, eines Kalbs, die der Evangelist Lukas vom Priester Zacharias zu Beginn verwenden lässt; die vierte auf den Evangelisten Johannes, der, weil er Schwingen eines Adlers erhält und so zu Höherem eilen kann, das Wort Gottes erörtert.“ Zugleich begründeten die Kirchenväter hiermit stets die Viergestalt der kanonischen Evangelien unter Ausschluss der Apokryphen.

Ich will in den folgenden Beiträgen diese Diskussion wieder aufnehmen und prüfen, ob und wie die kanonischen Evangelien den Apokryphen, außerbiblischen Schriften und Neuoffenbarungen literarisch in ihrem jeweiligen Anfang überlegen sind. Bei dieser Prüfung, die ich in Form eines kleinen „Literaturwettbewerbs“ abhalte, stelle ich zunächst in einem „Viertelfinale“ die Anfänge der kanonischen Evangelien den Anfängen von vier außerbiblischen Schriften als „Gegnern“ gegenüber. „Gesetzt“ sind demgemäß Markus, Lukas, Matthäus und Johannes. Unter den außerbiblischen Schriften habe ich mich für das Thomas-Evangelium, die Exegese der Seele, das Nikodemus-Evangelium sowie die Schrift „Das ist Mein Wort, Alpha und Omega. Das Evangelium Jesu“ entschieden.

Die Auswahl der letzteren war nicht willkürlich. Ich wollte gern drei alte Schriften und eine Neuoffenbarung im Boot haben, die alle eine „frohe Botschaft“ in Bezug auf Jesus Christus verkündeten. Sie sollten zur Präsentation einer weiten Bandbreite möglichst grundverschieden sein, einen gewissen Anreiz zu näheren Untersuchung besitzen und als Texte verlinkbar sein. Natürlich durfte es sich nicht um ein Textfragment handeln, bei dem der Anfang des Evangeliums unbekannt war. Für das Viertelfinale habe ich dann folgende Paarungen angesetzt:

Markus > < Exegese der Seele
Lukas > < Nikodemus
Matthäus > < Thomas
Johannes > < Das ist Mein Wort, Alpha und Omega

Die letzte Paarung – ich verspreche mir einen echten Knaller - ergab sich wie von selbst, da der Auftakt von „Alpha und Omega“ klar auf den Johannesprolog „Bezug“ nimmt. Die unmittelbar mit der Handlung einsetzende Exegese der Seele, die um das Thema der Bußbedürftigkeit kreist, schien mir am geeignetsten zum Markusauftakt zu passen. Das auf Historizität abstellende Nikodemus-Evangelium stelle ich Lukas gegenüber. Die aneinander gereihten Logien bei Thomas sollen gegen die Linien des matthäischen Stammbaums antreten.

Logisch ist, dass die Durchführung der Duelle von meinen höchst subjektiven Einschätzungen abhängig ist. Ich versuche jedoch, folgende Fallen zu umgehen:

1. Klar ist, dass Rechtgläubigkeit oder meine eigene Vorliebe für inhaltliche Anschauungen keine entscheidenden Kriterien sein dürfen. Die im jeweiligen Evangelium geäußerten Vorstellungen habe ich als gegeben hinzunehmen, nur ihre literarische Umsetzung darf zur Debatte stehen.

2. Die jeweilige Eigenart des Evangeliums ist strikt zu beachten. Ich kann also beispielsweise Thomas nicht vorwerfen, dass er keine Handlung entfaltet und muss seinen Anfang von der Konzeption des Gesamtevangeliums her lesen.

3. Mein größtes Risiko sehe ich in meiner mangelnden Vertrautheit mit den außerbiblischen Texten. Während ich dem sicher nicht leichten Johannesprolog aufgrund seiner bekannten Auslegung gedanklich gut folgen kann, könnte mir dies bei „Alpha und Omega“ misslingen. Hier besteht die Gefahr, dass ich die Entwicklung eines strikten Gedankens verkenne und deshalb Abzüge wegen scheinbarer konzeptioneller Mängel gebe.


Let’s get ready to rumble !

Teil 1 - Einführung
Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele
Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium
Teil 4 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"
Teil 6 - Halbfinale Lukas-Evangelium – Exegese der Seele
Teil 7 - Halbfinale Johannes-Evangelium – Thomas-Evangelium
Teil 8 und Ende - Finale Lukas-Evangelium – Johannes-Evangelium

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