1) Als „Die Passion Christi“ von
Mel Gibson aus dem Jahr 2004 ins Kino kam, löste der Film anhaltende
Diskussionen aus.
Neben Vorwürfen, etwa der
Gewaltverherrlichung, zielte die Kritik auf einige historische und
biblische Details, die man zusammengefasst im wikipedia-Artikel
nachlesen kann. Von kirchlicher Seite wurde Mel Gibson überwiegend
verteidigt. So sei die geäußerte Kritik an wenigen Einzelheiten trivial; im
Übrigen seien die Vorwürfe nicht begründet. Gerade aus dem Vatikan
erntete der Film hohes Lob für seine realistische Darstellung und
seine „Treue zu den Evangelien“. Selbst Papst Johannes Paul II.
soll sich wohlwollend geäußert haben. Viele Kinobesucher empfanden
dies ähnlich und waren zutiefst beeindruckt. Gänzlich unschuldig
war Mel Gibson an dieser Situation freilich nicht, da er seinerseits
ältere Jesus-Filme als historisch fehlerhaft kritisiert und stolz
behauptet hatte, dass sein Werk nach geschichtlichem und biblischem
Maßstab zuverlässig sei: „We’ve done the research. I’m
telling the story as the Bible tells it.“
Ich erwähne dies nicht, um hier zu
einer Donquichotterie anzusetzen und mit 14jähriger Verspätung
meinerseits den Film kritisieren zu wollen. Mir kam Gibsons Film
dieser Tage nur in den Sinn und er erinnerte mich daran, dass unsere
Vorstellung über den Inhalt der Evangelien unbewusst fehlerbehaftet
sein kann und zwar nicht nur in kleinen Nebensächlichkeiten, sondern
in grundlegenden Dingen. Geprägt von einer nahezu 2000jährigen
Interpretation und Überzeugungsbildung ergänzen wir in unseren
Gedanken unwillkürlich die Evangelien mit liebgewonnenen Themen,
obwohl sie in den biblischen Berichten gar nicht vorkommen.
Schmerzensmann |
Mel Gibson wollte mit seinem Film das Leiden von Jesus Christus veranschaulichen und deshalb enthält
der Filmtitel auch das Wort Passion. Vor allem jene Zuschauer,
die den Film positiv aufnahmen, waren gerade von dieser
Verdeutlichung des Leidens tief beeindruckt. Schon die ältesten
christlichen Glaubensbekenntnisse enthalten die Formel, dass Jesus gelitten hat. Das späte Mittelalter ist berühmt für seine
künstlerischen Darstellungen von Jesus als Schmerzensmann und
die christliche Literatur kennt unzählige Meditationen wie etwa die
von Anna Katharina Emmerick über „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“. Millionen von Touristen pilgern jährlich die
berühmte via dolorosa in Jerusalem und auch moderne Theologen sprechen
vom Leidensbericht in den Evangelien.
In allen Evangelienabschnitten, die das
Geschehen von der Verhaftung von Jesus bis zu seinem Kreuzestod
erzählen (im Markusevangelium sind es die Verse 14:43-15:37), findet
sich indes weder eine ausdrückliche Erwähnung des Leidens von Jesus,
noch stellen die Evangelisten dieses Leiden dar. Die Berichte
schildern, wie Jesus‘ Gegner ihn verurteilen, anspucken, schlagen,
auspeitschen, verspotten und kreuzigen, aber sie erzählen nicht vom
Leiden des Gepeinigten. Wir hören vor allem von den Handlungen der
Täter, aber die Gefühle des Opfers bleiben unausgesprochen. In
dieser wesentlichen Hinsicht steht der Film von Mel Gibson konträr
zu den Evangelien, die das Leiden von Jesus gerade nicht
thematisieren, geschweige es wie Gibson in den Mittelpunkt der
Darstellung rücken.