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Unsere moderne Erkenntnistheorie
würde den Äthiopier ausdrücklich loben, denn er ist sich bewusst,
dass ihm bei der Lektüre von Jesaja unweigerlich Verständnisfehler
unterlaufen werden. Er besitzt eine Eigenschaft, die der Philosoph
Hans-Georg Gadamer, „Offenheit“ nannte: die Bereitschaft zur
Überwindung von Unkenntnis und Fehlverständnis. Die Wissenschaft
lehrt uns beispielsweise, dass unser unbewusstes Vorverständnis
eines Textes uns einerseits hilfreich ist, aber uns andererseits auch
im Wege steht. Beim wiederholten und genaueren Lesen sind wir in der
Lage, unser Erstverständnis des Textes in Frage zu stellen und zu
einem besseren Verständnis zu gelangen.
Mit der Bibel hat es eine besondere Bewandtnis. Es gibt vielleicht kein Buch, bei dem der westliche Erstleser so viele Vorannahmen und so viel Vorkenntnis besitzt, ob er es nun will oder nicht. Er hat in der Regel bereits von einigen Berichten der Bibel aus anderen Medien gehört und meint schon einige wesentliche Inhalte und Botschaften zu kennen, noch bevor er das erste Wort in der Bibel gelesen hat.
Mit der Bibel hat es eine besondere Bewandtnis. Es gibt vielleicht kein Buch, bei dem der westliche Erstleser so viele Vorannahmen und so viel Vorkenntnis besitzt, ob er es nun will oder nicht. Er hat in der Regel bereits von einigen Berichten der Bibel aus anderen Medien gehört und meint schon einige wesentliche Inhalte und Botschaften zu kennen, noch bevor er das erste Wort in der Bibel gelesen hat.
2) Im 13. Kapitel des Markusevangeliums
führt Jesus mit vier Jüngern „als sie allein waren“ ein
Gespräch über die Zukunft. In Vers 14 der Luther-Bibel heißt es:
„Wenn ihr aber sehen werdet das Gräuelbild der Verwüstung stehen,
wo es nicht soll - wer es liest, der merke auf! -, alsdann, wer in
Judäa ist, der fliehe auf die Berge.“ Wörtlich lautet der
beiläufige Kommentar:
ὁ ἀναγινώσκων νοείτω
Der Lesende verstehe!
Der Lesende verstehe!
Für den aufmerksamen Leser stellt sich
hier die Frage, wer diese Aufforderung zum richtigen Verstehen
spricht und zu wem und um das Verständnis welchen Textes es geht.
Ist es Jesus, der nach der Darstellung von Markus hier etwas zu den
Jüngern sagt? Oder ist es etwa Markus, der mit uns als den Lesern
seines Evangeliums spricht?