Freitag, 20. Mai 2016

Mk-Einführung: Möge der Leser verstehen


1) Die Apostelgeschichte erzählt im Vers 8:30ff wie ein äthiopischer Hofbeamter von einem Besuch Jerusalems in seine Heimat zurückkehrt und dabei in der Kutsche ein Buch liest. Da in der Antike auch bei der eigenen privaten Lektüre regelmäßig laut gelesen wurde, konnte der vorbeikommende Apostel Philippus ihn „lesen hören“: „Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?

via wikimedia
Unsere moderne Erkenntnistheorie würde den Äthiopier ausdrücklich loben, denn er ist sich bewusst, dass ihm bei der Lektüre von Jesaja unweigerlich Verständnisfehler unterlaufen werden. Er besitzt eine Eigenschaft, die der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „Offenheit“ nannte: die Bereitschaft zur Überwindung von Unkenntnis und Fehlverständnis. Die Wissenschaft lehrt uns beispielsweise, dass unser unbewusstes Vorverständnis eines Textes uns einerseits hilfreich ist, aber uns andererseits auch im Wege steht. Beim wiederholten und genaueren Lesen sind wir in der Lage, unser Erstverständnis des Textes in Frage zu stellen und zu einem besseren Verständnis zu gelangen.

Mit der Bibel hat es eine besondere Bewandtnis. Es gibt vielleicht kein Buch, bei dem der westliche Erstleser so viele Vorannahmen und so viel Vorkenntnis besitzt, ob er es nun will oder nicht. Er hat in der Regel bereits von einigen Berichten der Bibel aus anderen Medien gehört und meint schon einige wesentliche Inhalte und Botschaften zu kennen, noch bevor er das erste Wort in der Bibel gelesen hat.


2) Im 13. Kapitel des Markusevangeliums führt Jesus mit vier Jüngern „als sie allein waren“ ein Gespräch über die Zukunft. In Vers 14 der Luther-Bibel heißt es: „Wenn ihr aber sehen werdet das Gräuelbild der Verwüstung stehen, wo es nicht soll - wer es liest, der merke auf! -, alsdann, wer in Judäa ist, der fliehe auf die Berge.“ Wörtlich lautet der beiläufige Kommentar:

ὁ ἀναγινώσκων νοείτω
Der Lesende verstehe!

Für den aufmerksamen Leser stellt sich hier die Frage, wer diese Aufforderung zum richtigen Verstehen spricht und zu wem und um das Verständnis welchen Textes es geht. Ist es Jesus, der nach der Darstellung von Markus hier etwas zu den Jüngern sagt? Oder ist es etwa Markus, der mit uns als den Lesern seines Evangeliums spricht?