Montag, 30. Januar 2017

Annales 15.44: Tacitus über Christus


1) Gelehrte, die in den vergangenen 250 Jahren über Tacitus und das frühe Christentum schrieben, teilten in der Regel zumindest einen von zwei Beweggründen. Sie forschten über den „historischen Jesus“ und/oder die „Neronische Christenverfolgung“. Meist leitete sie ein starker Erkenntnisoptimismus. Ihre Interpretationen gingen zwar oft weit auseinander, aber jeder war überzeugt, dass die seine der Wahrheit nahe kommt.

Mein eigenes Interesse an Tacitus und den sogenannten „Außerchristlichen antiken Quellen zu Jesus“ ist eher bescheiden. Ich würde lediglich gern wissen, ab welchem Zeitpunkt ein nichtchristlicher Autor von den – sagen wir - „Berichten über Jesus“ Kenntnis besaß. Dabei neige ich eher zum Skeptizismus. Mit Ausnahme der Tacitus-Stelle halte ich es eher für wahrscheinlich, dass die „außerbiblischen Belege“ zu Jesus gefälscht oder nicht relevant sind.

Mir scheint auch, dass der Bericht von Publius Cornelius Tacitus gewisse Eigenheiten aufweist, deren sachgerechte Interpretation einem echten Tacitus-Kenner vorbehalten bleiben sollte. Ungeachtet dessen will ich versuchen, einige alte und fast vergessene „Wahrheiten“ über die Christus-Stelle von Tacitus neu zu formulieren.


2) Die Überlieferung des Textes

Die Christus-Stelle findet sich um 15. Buch der „Annalen“ des Tacitus. Wie sein Vorläufer, die „Historien“, wäre dieses antike Geschichtswerk fast verloren gegangen. Es ist in lediglich zwei Handschriften überliefert, deren eine die Bücher 1-6 und deren andere die Bücher 11-16, beide teils mit Lücken, wiedergeben. Alle weiteren erhaltenen Manuskripte gehen auf diese zwei Handschriften zurück, die nach ihrer Auffindung in der Zeit der Renaissance von der berühmten italienischen Familie der Medici erworben wurden und sich in deren nachgelassener Bibliothek in Florenz befinden (Biblioteca Medicea Laurenziana). Es handelt sich dabei um die
Mediceus I

1. Handschrift: Sie enthält die Bücher 1-6 der Annalen
Plut.68.1, Codex Laurentianus Mediceus 68.1., um 850 wohl in Fulda geschrieben, karolingische Minuskelschrift

Mediceus II
2.Handschrift: Sie enthält die Bücher 11-16 der Annalen und die Historien
Plut.68.2, Codex Laurentianus Mediceus 68.2., wohl um 1050 in Monte Cassino geschrieben, beneventanische Minuskelschrift



Die Christus-Stelle findet sich auf der Vorderseite des 38. Blattes im Codex 68.2.



3) Textkritik

Ein Wort auf der Vorderseite des 38. Blattes ist nachträglich manipuliert worden. Es handelt sich dabei um das Wort für „Christen“. Ursprünglich hatte der mittelalterliche Schreiber der Handschrift das Wort „chrestianios“ geschrieben, das nachträglich durch Manipulation des „e“ zu einem „i“ in „christianios“ verändert wurde. Dieses „e“ wurde durch eine Ultraviolett-Photographie von Donato Pineider sichtbar gemacht.

Aber auch mit bloßem Auge sind Hinweise auf die Manipulation zu erkennen. Zum einen ist der Buchstabenabstand zwischen dem „i“ und dem „s“ in „christianos“ unnormal groß. Zum anderen ist die Buchstabenverbindung „ri“ in „christianos“ nicht in der typischen Ligatur der beneventanischen Minuskelschrift geschrieben. Von einer Ligatur (Verschmelzung) spricht man, wenn sich für eine Buchstabenverbindung ein eigenes Schriftzeichen oder gar ein neuer Buchstabe herausbildet. Bekannte Beispiele sind etwa das „ß“, das sich wohl aus langem „s“ und „z“ entwickelte, oder das „w“, dass ursprünglich aus zwei „u“ hervorging, was im Englischen noch am Namen "double u" ersichtlich ist. Die Beneventana weist eine solche Ligatur auch für die Buchstabenverbindung „ri“ aus, in der das „i“ eher wie ein stumpfwinkeliges „>“ mit tiefauslaufendem unterem Schrägstich geschrieben wird. In der Abbildung kann man dies deutlich bei den Worten „christus“ und „Tyberio“ im Unterschied zum Wort „christianos“ beobachten.


4) Die literarische Form

Vielleicht vergessen moderne Historiker und Theologen zu oft, dass jeder antike Gelehrte zugleich ein Rhetor war, und messen daher der literarischen Form der Darstellung von Tacitus kaum Beachtung bei. Im 19. Jahrhundert war dies noch anders. Meines Wissens ist es das Verdienst von Carl Franklin Arnold (1853-1927), auf die chiastische Struktur der Christus-Stelle hingewiesen zu haben. Als „Lateiner“ ging Arnold freilich von einem sprachlichen Chiasmus aus, der auch das Hauptaugenmerk von Robert Benson Steele in seinem 1891 erschienen Werk „Chiasmus in Sallust, Caesar, Tacitus and Justinus“ bildete.

Dem Kenner biblischer Chiasmen sollte es freilich nicht schwer fallen, im Bericht von Tacitus nicht nur einen sprachlichen, sondern auch einen narrativen Chiasmus zu erkennen. Ich habe ihn wie folgt nachgebaut.

A - Um also dieses Gerücht niederzuschlagen,
B - ...... schob Nero die Schuld auf andere
C - ............ und belegte mit den ausgesuchtesten Strafen
D - ....................... jene Menschen, die wegen ihrer Schandtaten verhasst waren
E - ................................ und die das Volk Christen nannte.
E’ - ................................ Ihr Namensgeber, Christus, war unter der Regierung des Tiberius
...................................... durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden.
D'- ....................... Für kurze Zeit war jene heillose Schwärmerei dadurch unterdrückt,
............................ brach aber aufs Neue aus, nicht allein in Judäa, von wo das Unheil
............................ ausgegangen war, sondern auch in der Hauptstadt, in die von überallher
............................ alle Gräuel und Schändlichkeiten zusammenströmen und Anklang finden.
C'- ............. Daher wurden zuerst diejenigen ergriffen, die Geständnisse ablegten,
.................. sodann auf ihre Angabe hin eine gewaltige Menge Menschen, die weniger
.................. wegen der ihnen zur Last gelegten Brandstiftung als wegen ihres allgemeinen
.................. Menschenhasses als überführt galten. Mit denen, die zum Tod bestimmt waren,
.................. trieb man Hohn: in Felle wilder Tiere eingenäht wurden sie von Hunden
.................. zerfleischt oder mussten ans Kreuz geschlagen und angezündet nach
.................. Einbruch der Dunkelheit als nächtliche Beleuchtung brennen.
B'- ...... Seine eigenen Gärten hatte Nero zu diesem Schaustück hergegeben, und gab ein
........... Zirkusspiel, wobei er sich im Kostüm eines Wagenlenkers unter das Volk mischte
........... oder auf dem Wagen stand.
A'- So strafbar daher auch jene Menschen waren und so sehr sie die äußersten Strafen
..... verdient hatten, regte sich doch Mitleid, weil sie nicht dem Nutzen der Allgemeinheit,
..... sondern der Grausamkeit eines einzigen geopfert würden.

Meinem Eindruck nach sind die Entsprechungen in den B-, C-, D- und E-Klauseln so offensichtlich, dass man seinen Augen ruhig trauen darf.


5) Fälschungs- und Interpolationshypothesen

Neben der klar dominierenden Mehrheit der Gelehrten, die die Christus-Stelle für echt hält, bestehen einige wenige Mindermeinungen. Die bekannteste Unechtheits-These lautet, dass die Annalen des Tacitus insgesamt eine Fälschung aus dem 15. Jahrhundert durch Poggio Bracciolini seien. Von anderen wird hingegen angenommen, dass es sich um eine antike christliche Interpolation in Anlehnung an Sulpicius Severus handeln würde.

5.1) Zur These einer Fälschung im 15. Jahrhundert durch Poggio Bracciolini

Poggio Bracciolini
Diese These wurde so oder in ähnlicher Weise vorgetragen von John Wilson Ross, Polydore Hochart, John Mackinnon Robertson, William Benjamin Smith, Louis Paret u.a.. Danach hätte der italienische Humanist und Wegbereiter der Renaissance, Poggio Bracciolini, unter Beteiligung von Niccolo Niccoli die Annalen komplett gefälscht. Die italienischen Schriftsteller Rita Monaldi und Francesco Sorti haben in ihrem Roman „Die Zweifel des Salaì“, Kindler Verlag, 2008, darüber eine schöne Geschichte im Hinblick auf die ebenfalls für gefälscht gehaltene „Germania“ des Tacitus geschrieben. Für deutsche Leser ist die These hier online einsehbar.

Diese Annahme übersieht zweierlei. Zum einen wissen wir viele kleine Details der römischen Geschichte nur aus den Annalen von Tacitus (z.B. Namen) und späteren archäologischen Funden, die Bracciolini und Niccoli noch nicht kennen konnten. Ein schönes Beispiel: In den 1980er Jahren wurden in Andalusien antike Bronzetafeln mit einem Urteil des römischen Senats aus dem Jahr 20 n.Chr. gefunden, das sogenannte „Senatus consultum de Gnaeo Pisone patre”. Diese Abschrift des Senatsurteils bestätigt viele nur von Tacitus überlieferte Einzelheiten, zeigt aber auch dessen subjektive Geschichtsdarstellung.

Zum anderen ist belegt, dass der durch das „Dekameron“ berühmte Schriftsteller Giovanni Boccaccio mehrmals Monte Cassino besuchte und das Manuskript von Tacitus kannte. In seinem 1361 geschriebenen Werk „Von berühmten Frauen“ beschrieb Boccaccio die Römerinnen Agrippina die Jüngere, Poppea Sabina, Pompeia Paulina, Epicharis und Triaria und wertete dafür die Bücher 12-16 der Annalen des Tacitus aus. Teilweise hielt er sich wortnah an den Bericht von Tacitus oder umschrieb ihn, teilweise fügte er moralische Betrachtungen hinzu. All dies etwa 60 Jahre vor der angeblichen Fälschung durch Poggio Bracciolini.

5.2) Zur These einer Interpolation in der Nachfolge von Sulpicius Severus

Anfang des 5. Jahrhunderts schrieb der christliche Chronist Sulpicius Severus in seiner Weltgeschichte (Chron 2:29): „Den Haß wegen des Brandes wälzte Nero auf die Christen und ließ Unschuldige foltern und hinrichten und erließ Gesetze, welche diese Religion verboten, und durch seine Edikte ward es verboten, ein Christ zu sein.“ Die Interpolationsthese geht davon aus, dass Sulpicius Severus erstmals die Themen des großen Brandes in Rom und die Christenverfolgung unter Nero thematisch miteinander verbunden habe und dies als Interpolation nachträglich in Tacitus eingefügt worden sei.

Bei dieser Annahme wird übersehen, dass bereits im 11. Brief des im 4. Jahrhundert erfundenen pseudepigrafischen Briefwechsels zwischen Seneca und Paulus auf den Brand und die Christenverfolgung mit hinreichender Deutlichkeit angespielt wird. Der um das Jahr 403 schreibende Sulpicius Severus scheidet daher als „Erfinder“ aus.


6) Stil und Sichtweise von Tacitus

Meines Erachtens zeigt die stilistische Analyse, dass die Christus-Stelle mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit authentisch ist und vernünftige Zweifel an der Autorschaft von Tacitus nicht bestehen. Ich mag dies an einigen Beispielen illustrieren. Daher zunächst noch einmal der zentrale Kernsatz auch in Latein.

auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfectus erat
Urheber dieses Namens, Christus, (wurde,) als Tiberius regierend war, durch den Prokurator Pontius Pilatus mit Hinrichtung belegt


6.1) Wortwahl

Ich gebe hier zunächst einzelne Wortverbindungen der Christus-Stelle wieder und Beispiele aus anderen Stellen der Annalen.

...Tiberio imperitante” (als Tiberius regierend war)
Annales 3,24: „... Tiberio imperitante”; Annales 4,62: „... imperitante Tiberio”; Annales 13,32: „... imperitante Claudio”; Annales 13,42: „... imperitante Claudio” 

... per procuratorem Pontium Pilatum” (durch den Prokurator Pontius Pilatus)
Annales 12,21: „... per Iunium Cilonem, procuratorem Ponti” (durch Junius Cilo, den Prokurator von Pontus)

  „...supplicio adfectus erat” (mit Hinrichtung belegt)
Annales 5,9: „... supplicio adfici virginem” (mit Hinrichtung belegte Jungfrau)

Die Wortwahl entspricht damit derjenigen von Tacitus.


6.2) Gedankenführung und Wortwahl

a) Beispiel für die Verurteilung eines Urhebers, Anstifters, Rädelsführers durch eine römische Autoritätsperson mit Nennung von Namen und Titel

Annales 15,44: Christus, der „Urheber des Namens (auctor nominis)“ und des von „Judäa ausgehenden Unheils“, wird vom „Prokurator Pontius Pilatus“ hingerichtet.

Annales 4,27: Der durch den „Urheber des Aufruhrs (auctor tumultis)“ T. Curtisius entfachte Sklavenaufstand wird zunächst vom „Quästor Curtius Lupus“ niedergeschlagen, alsdann wird der Rädelsführer durch den „Prätorianertribun Staius“ nach Rom gebracht und dort zur Rechenschaft gezogen.

b) Beispiel dafür, wie durch eine „Hinrichtung“ etwas kurzzeitig „unterdrückt“ werden kann, aber alsdann wieder ausbricht

Annales 15,44: „Ihr Namensgeber, Christus, war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus mit der Hinrichtung (supplicio) belegt worden. Für kurze Zeit war jene heillose Schwärmerei dadurch unterdrückt (repressaque), brach aber aufs Neue aus, nicht allein in Judäa, …

Annales 1,38: „Mittlerweile aber begannen im Chaukerland die dort als Besatzung liegenden Reservetruppen … auch eine Empörung. Durch die augenblickliche Hinrichtung (supplicio) zweier Soldaten wurde sie eine Weile unterdrückt (repressi). … Als später der Aufruhr neu aufwogte  …

Insbesondere das letzte Beispiel scheint mir persönlich ein stilistischer „Fingerabdruck“ von Tacitus zu sein.


6.3) Die persönliche Sichtweise von Tacitus

a) Beispiele für Tacitus’ Nero-Bild

Dass das Nero-Bild in Annales 15,44 grundsätzlich der Haltung von Tacitus gegenüber Nero entspricht, bedarf kaum der Erwähnung. Ich möchte deshalb nur auf eine kleine Einzelheit eingehen: Tacitus beschreibt mehrfach, dass Nero Furcht vor der öffentlichen Volksstimmung hat und aus dieser Furcht heraus agiert.

Annales 15,44: „Doch keine menschlichen Vorkehrungen, keine Freigebigkeit des Fürsten oder Sühne der Götter konnte die Schmach entfernen, dass man glaubte, der Brand sei auf Befehl gelegt worden. Um also dieses Gerücht niederzuschlagen, schob Nero die Schuld auf andere und belegte mit den ausgesuchtesten Strafen jene Menschen, die das Volk wegen ihrer Schandtaten hasste und Christen nannte.

Annales 14,12: „Ihm, der in den Städten Campaniens zögert, ängstlich, wie er in Rom einzöge, ob er Fügsamkeit des Senates, Liebe des Volkes fände?

Annales 14,60: „Daher häufige und nicht heimliche Klagen im Volke, das weniger Überlegung und bei der Beschränkheit seines Glückes weniger Gefahr hat. Nero, hierdurch bewegt, rief, als ob er die Schandtat bereue, die Gemahlin Octavia zurück.

b) Beispiel für Tacitus’ strenge Moralurteile über die römische Gesellschaft

Annales 15,44: „… sondern auch in der Hauptstadt, in die von überallher alle Gräuel und Schändlichkeiten zusammenströmen und Anklang finden.“

Annales 14,12: „Von nun an nahmen Schandtaten und Ehrlosigkeit zu – und nie hat eine Menschenhefe ihre längst verderbten Sitten mehr mit Lüsten umgeben.

c) Beispiel für Tacitus’ religiöse Intoleranz

Annales 15,44: „…jene Menschen, die das Volk wegen ihrer Schandtaten hasste und Christen nannte … war jene heillose Schwärmerei dadurch unterdrückt … alle Gräuel und Schändlichkeiten … wegen ihres allgemeinen Menschenhasses als überführt galten … So strafbar daher auch jene Menschen waren und so sehr sie die äußersten Strafen verdient hatten …

Historien 5,5: „Diese Kultbräuche, auf welche Weise auch immer eingeführt, werden durch ihr hohes Alter gerechtfertigt: die übrigen Einrichtungen, unsinnig und abstoßend, kamen zur Geltung eben wegen ihrer Abscheulichkeit. Denn überall waren es gerade die übelsten Elemente, die ihren Väterglauben aufgaben und Tempelabgaben und Spenden dort zusammenhäuften; daher wuchs die Macht der Juden, und auch deshalb, weil unter ihnen unverbrüchliehe Treue waltet und hilfsbereites Mitleid, gegen alle anderen aber feindseliger Haß.


7) Probleme der Christus-Stelle

Der Bericht von Tacitus wirft einige Verständnisprobleme auf. Sie beginnen mit seiner Behauptung, dass „eine gewaltige Menge“ von Christen hingerichtet worden sei. Gewöhnlich geht man eher davon aus, dass die christliche Gemeinde in Rom zur Zeit von Nero zahlenmäßig noch überschaubar war. Berühmt ist auch der Umstand, dass die Bezeichnung des Präfekten Pontius Pilatus als „Prokurator“ wohl anachronistisch ist und der Zeit von Tacitus angehört.

Diese Probleme sind jedoch keine der Autorschaft, sondern der Verlässlichkeit der Quellen und ihrer Auswertung durch Tacitus. Auch ob das Wissen von Tacitus über „Christus“ auf römischen Quellen beruht oder letztlich nur auf einen Evangelienbericht zurückgeht, ist unbekannt. Weder das eine noch das andere kann mit Gewissheit behauptet werden.


8) Für mich selbst steht nur fest, dass um das Jahr 115 n.Chr., zur Zeit der Abfassung der Annalen, dem römischen Historiker Cornelius Tacitus Berichte über einen Christus bekannt waren, der in Judäa eine religiöse Bewegung initiierte und von Pontius Pilatus hingerichtet wurde.

Den meisten mag diese Schlussfolgerung banal und unzureichend erscheinen. Wenn man jedoch die Echtheit oder Relevanz der anderen „Außerchristlichen antiken Quellen zu Jesus“ eher bezweifelt und die Datierung der Evangelien als nicht so unproblematisch ansieht wie die herrschende Meinung, gewinnt die Christus-Stelle bei Tacitus eine herausragende Bedeutung. Keine historische „Tatsache“ in der Geschichte des Urchristentums steht auf einem unzweifelhafteren Fundament.

3 Kommentare:

  1. Das sind sehr interessante Hinweise und Anregungen hinsichtlich des Stils von Tacitus.
    Bedenken sollte man dann aber GERADE, dass der Übergang von Annales 15,44 zu 45 sehr "holprig" und eines Tacitus fast schon unwürdig ist.

    Vor Annales 15,44 wird im Detail über Neros Anordnung von neuen Bauten berichtet.
    Sogar die Auswirkung der Bauten auf das Kleinklima und die Erträglichkeit der Hitze wird beschrieben:
    "...at nunc patulam latitudinem et nulla umbra defensam graviore aestu ardescere."

    Nach (!) Annales 15,44 folgt dann mittels "interea" die Schilderung der Finanzierungsquellen des kostspieligen Neu- und Umbaus Roms.

    "Interea conferendis pecuniis pervastata Italia, provinciae eversae sociique populi et, quae civitatium liberae vocantur."

    Dieses stilistisch unlogische Adverbium ist für mich ein klarer Hinweis, dass Annales 15,44 komplett eingeschoben sein könnte.
    Denn (für Nichtlateiner) "inzwischen, unterdessen" schriebe ein gebildeter Rhetor wohl kaum, um den Übergang von der grausamen Christenverfogung zur Tatsache der Ausplünderung von Provinzen und Tempeln stilistisch zu gestalten.

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    1. Danke für den Kommentar, Marcus Johannes. Der Gedankengang ist absolut nachvollziehbar, trifft aber meines Erachtens letztlich nicht zu. Gerade dieses "Interea" ist nämlich auch typisch taciteisch. Hier mal einige Vergleichsstellen: Annales 1,20: "Interea manipuli ..."; 1,33: "Interea Germanico ..."; 1,39: "Interea legati ..."; 4,51: "Interea barbari ..."; 6,16: "Interea magna ..."; 11,22: "Interea Romae ..."; 12,18: "Interea Mithridates ..."; 15,1: "Interea rex Parthorum ..."; 16,4: "Interea senatus ...".

      Bevor ich den Beitrag schrieb, habe ich das alles rauf und runter geprüft und war selbst davon überrascht, wie wirklich eindeutig Annales 15.44 im Stil und der Sichtweise von Tacitus geschrieben ist.

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  2. Noch so viele „ typische“ Stilmerkmale belegen nicht zweifelsfrei die Authentizität der zweiten Handschrift aus dem 11.Jahrhundert. Die mittelalterlichen Pseudepigraphen waren mit den Eigenheiten ihrer antiken Vorlagen eben so tief vertraut, wie wir das heute gar nicht mehr nachvollziehen können. Ein Kloster wie Monte Cassino darf überdies als ideologische Zentrale der damaligen Christenheit mit einem entsprechenden leitenden Interesse ausgestattet betrachtet werden, noch dazu 800 Jahre nach Tacitus, also wenn die Verfertigung einer solchen Handschrift ohne christentumsfreundliche Gestaltung eines solchen Textes geschehen sein soll…

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