Dienstag, 1. November 2016

Mythicism, Radikalkritik und Johannes der Täufer


Ein Leser meines Blogs hat mich sehr freundlich gebeten, ob ich einen „unparteiischen“ Beitrag zum Thema „mythicism“ und „Radikalkritik“ schreiben könnte, also über die Frage, ob Jesus als historische Persönlichkeit existiert hat. Ich habe dies zunächst wegen mangelnder Kompetenz freundlich abgelehnt; eine kleine Diskussion über die Taufe von Jesus hat meine Meinung jedoch geändert. Jedoch möchte ich die Frage nicht im Allgemeinen, sondern an einem ganz konkreten Beispiel erörtern. Es lautet:

Warum beginnt das Markusevangelium mit Johannes dem Täufer und warum lässt sich Jesus taufen?

In diesem Beitrag stelle ich fünf Meinungen vor. Zwei davon beruhen auf der Überzeugung eines historischen Jesus. Die drei anderen radikalkritischen Positionen weisen jeweils eine bestimmte Typik für diese Denkrichtung auf. Ziel meines Beitrags ist es nicht, eine eigene Meinung zu äußern, sondern zu zeigen, aus welchem Grund und mit welchen Positionen die Debatte geführt wird. Persönlich teile ich keine der vertretenen Sichtweisen in allen Punkten.

1) Das Markusevangelium erzählt die Taufe durch Johannes in einem einzigen Vers, der wörtlich wie folgt lautet:

1:9 Κα γνετο ν κεναις τας μραις λθεν ησος π Ναζαρτ τς Γαλιλαας κα βαπτσθη ες τν ορδνην π ωννου
1:9 Und (es) geschah in jenen, den Tagen: (es) kam Jesus vom Nazaret des Galiläa und (wurde) getauft in den Jordan von Johannes.

Den Grund von Jesus’ Kommen gibt Markus nicht an. Wir erfahren nur, dass Jesus zur „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1:4) kommt und danach „sogleich“ in die Wüste getrieben wird. Ob der Täufer Jesus als besonderen Täufling wahrgenommen hat, bleibt offen. Auch von einer späteren „Anfrage des Täufers“ erzählt Markus nichts. Jesus nimmt seine Mission erst nach der Gefangennahme von Johannes auf (Mk 1:14). Er selbst tauft nicht, sondern verkündet das Evangelium. Er beruft eigene Jünger (Mk 1:16) oder die Menschen kommen zu Jesus, „weil sie von seinen Taten gehört haben“ (Mk 3:8). Die Jünger von Johannes fasten, die Jünger von Jesus nicht (Mk 2:18). Zwar sind sich der Täufer und Jesus in der Frage der Scheidung/Wiederheirat einig, ihre Beweggründe sind jedoch verschieden. Der Täufer stützt sich gegenüber Herodes auf das Gesetz: „Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben.“ (Mk 6:18) Jesus argumentiert hingegen aufgrund einer Schöpfungsethik: „Von Anfang der Schöpfung an aber hat er sie als Mann und Frau geschaffen … und die zwei werden ein Fleisch sein … Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ (Mk 10:6)

Schließlich stellt Jesus im Streitgespräch mit der Jerusalemer Elite eine Gegenfrage: „War die Taufe des Johannes vom Himmel oder von Menschen? Antwortet mir!“ (Mk 11:30) Die Gegner weichen jedoch aus. Auch Jesus gibt keine ausdrückliche Antwort.

2) Die Frage nach der „Historizität von Jesus“ ist erkenntistheoretisch eng mit der „Frage nach dem historischen Jesus“ verbunden und tauchte deshalb auch kurz nach der Aufklärung um 1795 in den Schriften der französischen Gelehrten Constantin François Volney und Charles François Dupuis auf.

2.1) Beide besaßen umfangreiche Kenntnisse von antiken Religionen und deuteten Elemente des christlichen Glaubens als aus älteren heidnischen Mythen und Kulten entlehnt. Dies betraf auch Johannes den Täufer. Der Radikalkritker Arthur Drews hat ihre Thesen späterhin wieder aufgenommen und für das vorliegende Problem so formuliert:

„Einen eigenartigen Zusatz zur Taufe Jesu bietet Matthäus, wenn er erzählt, daß Johannes es abgewiesen habe, ihn zu taufen, indem er sprach: „Ich  habe nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir?" Jesus  aber antwortete ihm: „Laß es jetzt, denn also ziemt es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen"; da ließ er ihn machen (Matth. 3, 13 ff.). Die Begebenheit wird gewöhnlich so gedeutet, daß sie erklären solle, wie der Gottessohn dazu gekommen sei, sich der Taufe von Seiten eines sündigen Menschen zu unterziehen. Nun findet sich in der „Syrischen Schatzhöhle", einer allerdings späten Quelle, die indessen „ältesten" Stoff enthält, eine merkwürdige Stelle, nach welcher Nimrod, der erste König Babylons und Begründer des babylonischen Weltreichs, der dem Sonnengotte Marduk entspricht, einst zum Atras-Meere gekommen sei und dort den Jonton, den Sohn des Noah, getroffen habe. Nachdem er zum Meere hinabgestiegen, habe Nimrod sich in demselben gewaschen, hiernach geopfert und den Jonton angebetet. ,,Da sprach Jonton zu ihm: ,Du bist König; du betest mich an?' Es antwortete ihm Nimrod: ,Deinethalben bin ich hierher herabgekommen.'" Darauf habe Jonton den Nimrod die Weisheit des Orakels gelehrt, und als dann Nimrod östlich wieder hinaufgestiegen sei und das Orakel zu gebrauchen begonnen habe, hätten sich viele über ihn verwundert. Daß Jonton am Persischen Golf zu suchen und kein anderer als der babylonische Ea-Oannes ist, dem zu Ehren man am Meere und an den Flußufern heilige Waschungen vorzunehmen und den man als Gott der seelischen Reinigung und Weisheit anzubeten pflegte, dürfte allgemein zugestanden sein. Was aber vor allem bemerkenswert ist, ist die Tatsache, daß die Sekte der Sabier oder „Täufer", die sich bis zur Gegenwart unter dem Namen der Mandäer im südlichen Babylonien erhalten hat, und deren Kultus zweifellos mit demjenigen des Ea-Oannes zusammenhängt, dem Täufer Johannes eine so bedeutsame Rolle in ihrer Religion einräumt.“
(Arthur Drews, Der Sternhimmel in der Dichtung und Religion der alten Völker und des Christentums, 1923, S. 243)

Drews’ Ausgangspunkt ist zutreffend. Nicht selten bestanden zwischen Gottheiten vor allem benachbarter Kulturkreise starke Entsprechungen, die auf eine Abhängigkeit bzw. gegenseitige Beeinflussung in der Mythenbildung schließen lassen. Ähnliche Namen (wie hier Oannes und Ioannes) und Legenden können dafür ein Indiz darstellen.

Fischmensch
Problematisch ist vorliegend, dass der vom antiken babylonischen Gelehrten Berossos beschriebene „Oannes“, ein Wesen halb Mensch, halb Fisch, nach der Legende als Kulturbringer der Menschen gilt („er brachte ihnen gelehrte Kenntnisse wie handwerkliche Techniken bei, Städte- und Tempelgründungen ebenso wie Ackerbau oder Gesetzeskunde und alles sonst zum Leben Nötige“). Er ist in diesem Aspekt ein wenig dem griechischen Prometheus vergleichbar, hat jedoch außer zwei Äußerlichkeiten (Name, Wasser) so gut wie nichts mit Johannes dem Täufer gemein. Im Hinblick auf das Markusevangelium dürfte der weitere Schwachpunkt darin liegen, dass Jesus nicht als Gottessohn oder König zum Täufer kommt, sondern als absoluter „Nobody“. Auch, dass Matthäus von dem zeitlich viel späteren, im 4. Jahrhundert nach Christus geschriebenen Werk „Syrische Schatzhöhle" literarisch abhängig sein soll, ist eher auszuschließen. Drews’ Behauptung, dass das Werk „ältesten Stoff“ enthalte, entbehrt einer Grundlage. (Nachsehen mag man es Drews, da auch anerkannte Theologen gern über solche angeblich „ältesten Stoffe“ spekulieren.) In welchem Sinn der sagenhafte Fischmensch „Oannes“ der in der „Syrischen Schatzhöhle“ genannte „Jonton“ sein soll, bleibt ebenfalls dunkel.

Es mag deshalb nachvollziehbar sein, dass die Ansicht von Arthur Drews in der Geschichte-Jesus-Forschung kaum ernst genommen wurde.


2.2) Die zweite Theorie, die ich vorstellen möchte, ist die herrschende Meinung in der historischen Jesus-Forschung. Sie besagt, dass Jesus sich der Bewegung des Täufers angeschlossen hat und der Schüler von Johannes war. Unter den Gelehrten bestehen im Detail unterschiedliche Ansichten, wie intensiv und andauernd dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis gewesen sein soll. Gerd Theißen und Annette Merz führen dazu wie folgt aus:

”Jesus erkannte den Täufer eine Zeitlang als überlegenen ,Meister’ an und liess sich von ihm zur Vergebung seiner Sünden taufen. Er wusste sich als einer der vielen, die in Israel umkehren wollten, um dem nahen Gericht Gottes zu entfliehen. Möglicherweise darf man sogar voraussetzen, dass Jesus zum engeren Jüngerkreis des Täufers gehörte."
(Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus: Ein Lehrbuch, 4. Aufl., 2011, S. 193)

Das Problem dieser Ansicht liegt darin, dass für sie kein Beleg existiert. Keines der vier Evangelien deutet an, dass Jesus der Jünger des Täufers gewesen sein könnte. Ein Teil der Jesus-Historiker argumentiert daher wie etwa Reza Aslan, dass die Evangelisten den „wahren“ Sachverhalt „absichtlich verschwiegen“ hätten. 

„Die historische Bedeutung Johannes' des Täufers und seine Rolle zu Beginn von Jesu Wirken stellten die Verfasser der Evangelien vor ein schwieriges Dilemma. Johannes war ein beliebter, angesehener und fast überall anerkannter Priester und Prophet gewesen. Man konnte ihn einfach nicht ignorieren, und dass er Jesus getauft hatte, war zu gut bekannt, um verschwiegen zu werden. Die Geschichte musste erzählt werden. Aber sie musste auch ein bisschen geknetet und zurechtgebogen werden.“ „Dieses starke Bemühen, Johannes' Bedeutung herunterzuspielen, ihn Jesus unterzuordnen – aus ihm wenig mehr als den Herold Jesus zu machen - verrät ein drängendes Bedürfnis der frühchristlichen Gemeinschaft, das zu konterkarieren, was die historischen Belege ganz deutlich vermuten lassen: Wer auch immer der Täufer war, woher er auch kam und was er auch mit seinem Taufritual bezweckte – Jesus begann sein Wirken sehr wahrscheinlich als einer seiner Jünger … Und er blieb eine Weile in der Wüste, nicht, um «vom Satan in Versuchung geführt» zu werden, wie sich die Evangelisten das vorstellen, sondern um von Johannes zu lernen und mit seinen Anhängern zu sprechen.“
(Reza Aslan, Zelot: Jesus von Nazaret und seine Zeit, Kap. 7)

Der Schwachpunkt dieser Ausführungen liegt wiederum darin, dass die vermeintlichen „historischen  Belege“ nicht bestehen und fraglich ist, ob nicht die Historiker sich hier etwas „zurechtbiegen“ im Widerspruch zu dem, was die Quellen berichten. Zwar machen die Darstellungen von Matthäus, Lukas und Johannes tatsächlich den Eindruck, als hätten die drei anderen Evangelisten ein gewisses Problem in der Taufe von Jesus gesehen. Für das ältere Markusevangelium lässt sich dies jedoch schwerlich behaupten. Selbst in Jerusalem hält der markinische Jesus den religiösen Eliten im Streitgespräch die Johannestaufe entgegen und Markus scheint sich in keiner Weise dafür zu „schämen“. Die von Markus geschilderten Unterschiede zwischen Jesus und dem Täufer sowie zwischen den jeweiligen Jüngern erscheinen zudem viel zu erheblich, als das sie auf eine Abhängigkeit und auf eine Übernahme von Täufertraditionen durch Jesus hindeuten könnten.

Rab Hillel lehrt die Goldene Regel
Die Logik der historischen Jesus-Forschung besteht meinem Eindruck nach in Folgendem: Sie beginnt zunächst mit der Überzeugung, dass Jesus ein Mensch wie „Du und ich“ war und dass er nach „normalen“ Erfahrungswerten eine gewisse Ausbildung als religiöser Lehrer erhalten haben muss. Im antiken Israel waren Lehrer-Schüler-Verhältnisse verbreitet. Die Rabbinen berichten etwa, dass bereits vor Jesus die Schulen von Hillel und Schammai bestanden. Der antike jüdische Historiker Josephus war nach eigener Bekundung längere Zeit ein Schüler des frommen Eremiten Banus. Die modernen Jesus-Historiker verwerfen daher wohl den aus ihrer Sicht unplausiblen Bericht der Evangelien und ersetzen die Leerstelle durch ein ihrer Meinung nach plausibles historisches Szenario (Lehrer-Schüler-Verhältnis). Da nach dem Evangelienbericht einzig der Täufer als ein solcher Lehrer entfernt in Betracht kommen könnte, schreiben die Jesus-Historiker diesem die Lehrerrolle zu. Die Historiker glauben knappe 2000 Jahre später mehr zu wissen als – so die Schilderung von Markus - die Einwohner von Jesus’ Heimatstadt – Mk 6:2

Und als der Sabbat kam, fing er an zu lehren in der Synagoge. Und viele, die zuhörten, verwunderten sich und sprachen: Woher hat er das?

Diese Auffassung der historischen Jesus-Forschung wird daher nicht nur von konservativen Bibelgelehrten und Radikalkritikern abgelehnt, sondern auch für die Markus-Exegese, etwa von dem Standard-Kommentar im englischsprachigen Raum, R.T. France, The Gospel of Mark, 2002, C. on 1:7, S. 70f .


2.3) Die dritte Theorie ist nicht ganz leicht zu erklären. Der christliche Glaube besteht darin, dass Jesus zugleich Mensch und Gott war. Die historische Jesus-Forschung geht hingegen davon aus, dass Jesus ein Mensch war, der im Glauben seiner Anhänger nachträglich „vergöttlicht“ wurde. Eine traditionelle Annahme der Radikalkritik ist demgegenüber, dass am Anfang nicht der Mensch Jesus stand, sondern die Glaubensvorstellung an einen himmlischen „Christ“, der nachträglich „historisiert“ und „vermenschlicht“ wurde. Sie nimmt daher an, dass der christliche Glaube in seinem Ursprung – vereinfacht gesagt - gnostischer Glaube war, der eher in nichtjüdischen Kreisen entstanden sein soll. Sie stützt sich dabei vor allem auf die Paulusbriefe, die nach wissenschaftlicher Meinung vor den Evangelien geschrieben wurden, z.B. auf den Brief an die Philipper, Kapitel 2:

5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.

Sie verweist vor allem darauf, dass in den Paulusbriefen kaum etwas über einen menschlichen Jesus ausgesagt wird. Da auch einige Schriftstellen in den Paulinen diesem Bild widersprechen, geht sie häufig davon aus, dass diese Briefe nachträglich von „gegnerischen vorkatholischen“ Christen überarbeitet und mit Einschüben versehen wurden. Es besteht auch die Position, dass die Briefe nicht von einem historischen Paulus, sondern erst viel später geschrieben und wiederholt überarbeitet wurden. Die Evangelien, vor allem das Markus- und Matthäusevangelium, sieht sie häufig als gegnerische Schriften an, die Christus als menschlichen Jesus in jüdischem Umfeld „historisieren“ sollen.

Im Zuge der modernen Markusforschung ist auf Seiten der Radikalkritiker in diesem Punkt ein Wandel eingetreten. Man beginnt, das Markusevangelium nicht mehr als „gegnerische“ Schrift, sondern als eine allegorische Erzählung auf den vermeintlichen himmlischen Christus zu verstehen und sieht erst die späteren Evangelien nach Matthäus und Lukas als Texte der katholischen Gegner an. Nach wie vor erscheint aber das jüdische „Ambiente“ des Markusevangeliums vielfach als problematisch.

Der „Mythizist“ Roger Parvus schrieb in diesem Jahr den Beitrag „A Simonian Origin for Christianity, Part 17: Mark and Proto-Mark“, in welchem er – grob geschildert - folgende Hypothese entwickelte:

Simon von Samarien
Das uns bekannte Markusevangelium habe einen Vorläufer gehabt, den sogenannten Ur-Markus oder Proto-Markus. In diesem Ur-Markus sei die Taufe von Jesus durch Johannes noch nicht enthalten gewesen. Gleichzeitig habe die sogenannten Logienquelle Q bestanden, die aber entgegen der herrschenden Lehrmeinung nicht auf Jesus zurückgehe, sondern auf Johannes den Täufer. Die Logienquelle Q habe daher Aussprüche von Johannes dem Täufer und einige Legenden über diesen beinhaltet. Nachträglich habe alsdann ein vorkatholischer Redaktor aus der Logienquelle Q Aussprüche von Johannes dem Täufer in den Ur-Markus eingearbeitet, teilweise auf Jesus übertragen und die Taufe interpoliert.

Jeder erkennt sicher, dass die Argumentation von Parvus hochspekulativ ist. Ich enthalte mich daher einer Meinung dazu. Das Interessante und Verblüffende an Parvus’ Beitrag ist jedoch, dass alle Spekulationen ausnahmslos „wissenschaftlich“ sind. Jeden einzelnen Argumentationsschritt stützte er auf eine als wissenschaftlich anerkannte Meinung. Die wesentlichen Punkte könnte man wie folgt darstellen.


Persönlich schätze ich an dem Beitrag von Parvus, dass er den Spekulationen der historisch-kritischen Methode gewissermaßen den Spiegel vorhält.


2.4) Die bisherigen drei Meinungen waren alle mit dem Markusevangelium mehr oder weniger unvereinbar. Abschließend möchte ich zwei Ansichten präsentieren, die mit der Darstellung von Markus bzw. den Evangelien vereinbar sind, zunächst diejenige von Seiten der historischen Jesus-Forschung.

Max Aplin untersucht in seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 2011 „Was Jesus ever a disciple of John the Baptist? A historical study“ die herrschende Meinung der Jesus-Historiker. Unter Abwägung alle Argumente gelangt er zu einer anderen Ansicht. Nach seiner Meinung gestatten die Evangelien nicht die Annahme, dass Jesus längere Zeit bei Johannes verweilte. Er legt dar, dass die Berichte der Evangelien einen Unterschied zwischen den vielen von Johannes getauften Menschen und denjenigen machen, die als Jünger bzw. Schüler von Johannes bezeichnet werden können. Aplin interpretiert den Befund der Evangelien letztlich dahingehend, dass Jesus sich aufgrund eigener spiritueller Erkenntnis zur Taufe entschlossen habe:

“My quest in this study has been simply and specifically to discover how likely it is that Jesus was ever John’s disciple, with a view to determining how confident a person he was. Points of contact between Jesus’ and John’s ministries there undoubtedly were. However, in the light of my findings, I would submit that these are much more likely to have arisen, not because Jesus learned from John, but because in his independent spiritual experience he came to the conclusion that God was calling him to align his ministry with John’s in some respects.”
(Max Aplin, Was Jesus ever a disciple of John the Baptist? A historical study, 2011, S. 246)

Aplins Arbeit wertet alle kanonischen Evangelien sowie das Thomas-Evangelium aus. Seine Methode kann als traditionell bezeichnet werden. Er fragt zunächst, welche Angaben in den Evangelien als „authentisch“ anzusehen sind. Seine Entscheidung beruht meines Erachtens regelmäßig darauf, ob die Darstellung „plausibel“ ist und ob sie bestenfalls von mehreren Evangelien bestätigt wird. Entscheidend ist für Aplin auch das Gesamtbild aller Evangelien. Seiner Auffassung liegt die herkömmliche Annahme zugrunde, dass die Evangelien auf mehreren und voneinander unabhängigen Quellen beruhen.


2.5) R.G. Price veröffentlichte 2014 seine Abhandlung “How a Fictional Jesus Gave Rise to Christianity”. Er erklärte zunächst, dass seine wesentlichen Belege gegen die historische Existenz von Jesus die Evangelien selbst seien. Ich übersetze sinngemäß: 

„Ich möchte mich auf ein einfaches Element der Erzählung konzentrieren, um zu zeigen, dass es sich hierbei um eine fiktive Geschichte handelt, die vom Autor in der Absicht erstellt wurde, dass die Leser die literarischen Anspielungen verwenden, um die Erzählung zu verstehen. Im Markusevangelium ist Johannes der Täufer Elia. Das zu wissen, ist wichtig für das Verstehen der Erzählung. Wie sollen die Leser jedoch wissen, dass Johannes der Täufer in der Erzählung Elia repräsentiert? Den Lesern wird dies am Anfang der Erzählung durch den Gebrauch literarischer Anspielungen verdeutlicht ... Der Erzähler verwendet einen impliziten Verweis auf die hebräischen Schriften, wenn er die Figur von Johannes dem Täufer einführt.“

Elia oder Johannes der Täufer?
Markus 1:6 Und Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig.

2 Könige 1:7 Er sprach zu ihnen: Was war das für ein Mann, der euch begegnete und das zu euch sagte? 8 Sie sprachen zu ihm: Er hatte einen Mantel aus Fell und einen Ledergurt um seine Lenden. Er aber sprach: Es ist Elia, der Tischbiter. 

„Nicht nur dies, sondern Markus 1:2 ist ein Hinweis auf Maleachi 3. Das Buch von Maleachi endet mit der Aussage, dass Gott vor dem Tag seines Zorns Elia senden wird:“

Maleachi 3:23 Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.

„Nach der Verklärungsszene in Markus 9 befragen die Jünger Jesus über Elia.“

Markus 9:11 Und sie fragten ihn und sprachen: Sagen nicht die Schriftgelehrten, dass zuvor Elia kommen muss? … 13 Aber ich sage euch: Elia ist gekommen, und sie haben ihm angetan, was sie wollten, wie von ihm geschrieben steht.

“Hier werden die literarischen Anspielungen von Markus 1:2-6 wichtig, weil man aus der literarischen Anspielung auf 2 Könige 1:8 erkennen muss, dass Johannes der Täufer Elia ist, um diese Szene sinnvoll zu deuten. Darüber hinaus bezieht sich die Frage der Jünger auf die Stelle in Maleachi, die über das Kommen Elias spricht vor ’dem großen und schrecklichen Tag des Herrn’.“
 

Nach R.G. Price hat Markus also Johannes den Täufer in Gestalt von Elia an den Beginn seiner Erzählung gestellt, um die Erfüllung der Prophezeiung aus Maleachi 3:23 erzählerisch zu „erfinden“.

Im Gegensatz zu Max Aplin teilt R.G. Price nicht die Ansicht, dass die Evangelien auf mehreren und voneinander unabhängigen Quellen beruhen, sondern geht davon aus, dass sämtliche anderen Evangelien letztlich auf das Markusevangelium zurückführbar sind und Markus seinerseits auf Paulus.

Max Aplin stellt die Existenz eines historischen Jesus in seinen Ausführungen nicht in Frage und legt – in völliger Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung – einfach zugrunde, dass die Evangelien mehr oder weniger historische Fakten enthalten.

R.G. Price schließt hingegen von der Tatsache, dass Markus die Figur von Johannes dem Täufer „literarisch“ als Elia ausgestaltet habe, auf die Fiktionalität der gesamten Schilderung. Tatsächlich geht zwar ein bedeutender Teil der modernen Markus-Exegese ebenfalls davon aus, dass Markus Johannes den Täufer in Mk 1:6 als Elia ausdeutet (auch Max Aplin hält Mk 1:6 für „nicht authentisch“). Ebenso leicht zeigen diese modernen Exegeten aber, dass Herodes Antipas in Markus 6:21ff als König Ahasveros aus dem Buch Esther gestaltet wird. Die historische Existenz von Herodes Antipas wird indes auch von Radikalkritikern nicht bezweifelt.

Mk 6:22 Da trat herein seine Tochter, die von Herodias, und tanzte, und sie gefiel Herodes und denen, die mit zu Tisch lagen. Da sprach der König zu dem Mädchen: Bitte von mir, was du willst, ich will dir's geben. 23 Und er schwor ihr feierlich: Was du von mir bittest, will ich dir geben, bis zur Hälfte meines Königreichs.

Esther 5:3 Da sprach der König zu ihr: Was hast du, Ester, Königin? Und was begehrst du? Auch die Hälfte des Königreichs soll dir gegeben werden.

Esther 5:5 Da nun der König und Haman zu dem Mahl kamen, das Ester bereitet hatte, 6 sprach der König zu Ester, als man Wein trank: Was bittest du, Ester? Es soll dir gegeben werden. Und was begehrst du? Wäre es auch die Hälfte des Königreichs, es soll geschehen. 

Meiner eigenen Meinung nach ziehen sowohl Aplin als auch Price nicht ausreichend in Betracht, in welch hohem Maß antike Autoren, Künstler und sogar Historiker fähig waren, die „Wirklichkeit“ in ihren Darstellungen mit symbolischen und religiösen Bedeutungen zu überblenden.


3) Die historische Jesusforschung wirkt vor allem mit ihren Erklärungsmodellen zur Entstehung des Christentums der Radikalkritik überlegen, was freilich in der Natur der Sache liegen könnte.

Nach ihr liegt der Ursprung der christlichen Taufe zunächst in den jüdischen rituellen Waschungen, alsdann in der Ausformung der Taufe zum Bekehrungsritual durch Johannes den Täufer und der Übernahme und weiteren Ausformung durch die „Jesus-Bewegung“ und das Ur-Christentum. Bereits Paulus bestätigt die christliche Taufpraxis, an der er selbst kein vorrangiges Interesse zu haben scheint:

1 Kor 1:16 Ich habe aber auch Stephanas und sein Haus getauft; sonst weiß ich nicht, ob ich noch jemanden getauft habe. 17 Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen … 

Taufe des Pharao
Ein Erklärungsversuch der Radikalkritik liegt darin, dass viele antike Kulte nicht unähnliche Rituale aufwiesen. Nach meinem begrenzten Wissen spielten zwar „Wasserrituale“ tatsächlich eine große Bedeutung in vielen Kulten des Mittelmeerraumes. In Form und Bedeutung sind sie jedoch kaum mit dem vergleichbar, was über die christliche Taufe in ihrem Ursprung bekannt ist. Die auch in Wissenschaftskreisen sogenannte ägyptische „Taufe des Pharao“ scheint indes nahe der Zeitenwende in nicht allen, aber einigen Aspekten eine der christlichen Taufe nicht gänzlich unähnliche Form und teilweise auch Bedeutung angenommen zu haben und wird daher gern als Erklärungsmodell herangezogen. Die Radikalkritik kann sich möglicherweise auch darauf stützen, dass der jüdische Historiker Josephus die Taufe von Johannes anders beschreibt als es die Evangelien tun.


4) Meine Erfahrung ist, dass für Anhänger beider Seiten häufig die aus ihrer Sicht schwachen Argumente der Gegenseite eine wesentliche Rolle spielen. Von mehreren Anhängern beider Ansichten habe ich schon die sinngemäße Aussage gehört: ‚Eigentlich war ich früher anderer Meinung. Ich habe sie aber wegen den mich überhaupt nicht überzeugenden Argumenten derjenigen Gelehrten geändert, deren Meinung ich ursprünglich teilte.' 

Wer sich mit dem Thema beschäftigen möchte, sollte zudem bedenken, dass die persönliche Weltanschauung für die Meinungsbildung eine große Rolle spielen kann, aber nicht muss. Radikalkritik ist vielfach, aber keinesfalls immer mit atheistischer Haltung und zum Teil auch antichristlicher Polemik verknüpft. Vergleichbares gilt für die Gegenposition.

Was ich im vorliegenden Beitrag an einer ganz konkreten Einzelfrage zeigen wollte, gilt meines Erachtens für sämtliche Streitpunkte der Debatte. Wer meint, dass sich in anderer Hinsicht die historische Existenz oder Nichtexistenz „beweisen“ lasse, dürfte wohl eher nicht auf der Höhe der aktuellen Diskussion sein. Häufig anzutreffende Aussagen wie „Niemand kann bestreiten …“ oder „Es wäre widersinnig anzunehmen …“ übertünchen meist nur die Schwäche des Arguments.


5) Als im Zuge der Aufklärung die Vorstellung von Jesus als göttlicher Gestalt ins Wanken geriet, gingen Gelehrte und Theologen in aufrichtiger Überzeugung daran, mit „wissenschaftlichen Methoden“ die „historische Wahrheit“ über Jesus zu entschlüsseln. Ihren Forschungen entsprang eine neue Idee über Jesus, die des „historischen Jesus“, die sich in der Folgezeit zum Paradigma entwickelte. Es war die Vorstellung über einen wandernden Galiläer, der den Armen das Evangelium predigte, Brot und Segen spendete, in dessen Änhängerschaft erstmals Männer und Frauen gleichberechtigt folgten, der das Reich Gottes nahen fühlte und zugleich aufrichtete und in seiner Liebe zu Gott und den Menschen mit den Herrschenden in Konflikt geriet und am Kreuz hingerichtet wurde.

Diese neue Vorstellung über Jesus bot vielen Menschen in unserer „rationalen“ Epoche einen Zugang zum christlichen Glauben, den sie sonst vielleicht verloren hätten. Die Figur des Galiläers war ihnen moralischer Leitstern und rationale Grundlage, um auf neue Weise über Gott und die Welt des Übersinnlichen nachzudenken. Sie bot aber auch Raum für eine Vielzahl von Spekulationen, romantischen Vorstellungen und Neuinterpretationen von Jesus. Dies bedeutet nicht, dass es Jesus nicht gab, sondern nur, dass stets zwischen dem, was „wirklich“ war, und unseren Vorstellungen darüber ein Unterschied besteht, insbesondere, wenn diese sich zum Paradigma entwickeln.

Man mag seine Gedanken über Jesus als eine religöse „Neuoffenbarung“ ansehen, als „historische Jesus-Forschung“, als „Was würde Jesus heute sagen“ oder als „Beweis der Nichtexistenz von Jesus“. Immer enden wir bei einer neuen Geschichte über Jesus oder einem neuen Blick auf ihn. Wie jeder andere bin ich Teil dieses Prozesses und er wird gewiss noch lange währen.

Jenseits der frommen Behauptungen über die Evangelien als Augenzeugenberichte, jenseits der gutgläubigen Annahmen der historischen Jesus-Forschung über Logienquellen und mündliche Jesus-Traditionen, aber auch jenseits radikalkritischer Spekulationen über gnostische Ur-Evangelien scheint es, als verdankten wir all dies jenem dramatischen und theologischen Epos, das unter dem Namen Markusevangelium bekannt ist. Auch dafür fehlt freilich jeglicher Beweis.


P.S. Mein eigener Tipp zu der Frage, warum sich Jesus nach dem Markusevangelium taufen lässt. Meinem Eindruck nach wollte Markus

- in Mk 1:9 zum Ausdruck bringen, dass Jesus das Ritual der Taufe als göttlich inspiriert akzeptiert,

- in Mk 1:10f den Blick vom „nur“ äußerlichen Wasserritual auf den inneren geistlichen Gehalt der Taufe lenken und

- in Mk 10:38ff verdeutlichen, dass es vor allem gilt, die „Taufe in den Tod“ auf sich zu nehmen.

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