Dienstag, 25. August 2015

Vertrauen zum biblischen Text: Jakob am Jabbok


1) Im 32. Kapitel des Buches Bereschit (1. Mose bzw. Genesis) steht Jakob vor seiner Rückkehr ins heilige Land. Zwanzig Jahre vorher war er geflüchtet, um der Vergeltung seines älteren Zwillingsbruders Esau zu entgehen. Er hatte Esau dessen Erstgeburtsrecht und seinem Vater Isaak den väterlichen Segen abgelistet, der Esau als Älterem gebührte. Nach Jakobs Flucht war sein Schicksal geprägt durch göttliche Offenbarungen, durch weitere Tricks und Täuschungen - die er selbst beging oder deren Opfer er wurde -, durch sein Familienleben und die Rivalität seiner beiden Frauen Lea und Rahel. Nun kehrt Jakob zurück und fürchtet nach wie vor den Zorn seines Bruders, den er ängstlich, aber gemäß einem ausgeklügelten Plan durch reiche Geschenke besänftigen will.

via zhishan.wordpress
In der letzten Nacht vor seiner Begegnung mit Esau lagert Jakobs Tross am Fluss Jabbok. Er steht auf, geht zunächst hinüber, führt dann seine Familie und sein Lager über den Fluss und bleibt dann doch allein zurück. Plötzlich ringt ein geheimnisvoller „Mann“ in der Dunkelheit mit Jakob, der scheinbar den Kampf im Morgengrauen beenden will, aber von Jakob daran gehindert wird, denn dieser will von seinem Gegner gesegnet werden. Der Fremde gibt Jakob den neuen Namen „Israel“ und Jakob gibt dem Ort am Jabbok den neuen Namen „Peniel“, „denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden!

Seit Jahrtausenden rätseln Bibelleser über diese magische Erzählung, darüber, ob der Fremde etwa Gott, ein Engel oder Esau war, ob die Begebenheit sich „wirklich“ oder als Traum oder als tiefes, meditatives Gebet ereignete oder ob es sich um eine allegorische Erzählung handelt. Aber egal, zu welcher Auslegung man auch neigt, man versteht, dass Jakob in dieser Nacht am Jabbok „irgendwie“ mit Gott, vielleicht mit Esau und mit seinem Schicksal ringt und aus diesem Kampf verwandelt und geläutert hervorgeht.

Leider hat dieses „Verständnis“ einen erheblichen Schönheitsfehler. Nach wohl fast einmütiger Auffassung der Bibelwissenschaft ist diese Erzählung nämlich nicht einheitlich entstanden, sondern - um es lax zu sagen – ein Flickenteppich und ein wertloses Kuckucksei. Dabei wird angenommen, dass der Text – wie wir ihn heute in der Bibel lesen können – mehrfach überarbeitet worden sei. Am Anfang habe etwa eine uralte Sage gestanden, die mit der Bibel und Jakob noch nichts zu tun hatte. In dieser standen sich angeblich ein heidnischer Flussgott oder Dämon, der nur während der Nacht erscheint, und ein kanaanäischer Held im Kampf gegenüber. Diese im Volk populäre Geschichte sei zu späterer Zeit abgeändert und neu erzählt worden, als in Kanaan einzelne Stämme mit unterschiedlichen Gottheiten um die Vorherrschaft stritten. Schließlich sei die beliebte Geschichte des Kampfes von den Autoren der Bibel auf Jakob und den Gott Israels so umgeschrieben worden, dass aus dem siegreichen Held der unterlegene Jakob geworden sei. Nach einer der vielen anderen bizarren Meinungen sei der Ursprung der Geschichte hingegen in einer Art Koboldssage zu sehen, in der ein Wanderer des Nachts von einem Kobold angefallen wird.

Ich möchte niemanden davon abhalten, an kanaanäische Dämonen und Kobolde zu glauben. Persönlich muss ich über diese Theorien schmunzeln. Ich habe nicht den allergeringsten Zweifel, dass diese Erzählung echt ist und vollstes Vertrauen verdient.

Diesen langen Beitrag verfasse ich ausnahmsweise als eine Art Rätselspiel, an dessen Ende eine eindeutige Lösung steht. Nach einer Einführung (2.) folgt eine Übersetzung (3.) des biblischen Textes, danach einige Überlegungen zu seiner Struktur (4.-5.) und zu Problemen auf seiner Sinnebene (6.). Mit diesen - manchmal schwierigen - Hinweisen gebe ich Lesern, die so freundlich sind, diesen Beitrag zu lesen, alles Notwendige in die Hand, um von selbst auf die Lösung (7.) des Rätsels zu kommen.

Wer dies wagen will, geht zwei Risiken ein. Er muss – gegen alle Theorien der Bibelwissenschaft - dem biblischen Text vertrauen und sich - Zeile für Zeile und Wort für Wort - in ihn und seine vermeintlichen Widersprüche vertiefen. Er muss außerdem – was noch schwieriger sein dürfte – mir vertrauen.

Um auf die Lösung zu kommen, sind neben der genauen Lektüre zwei Dinge erforderlich: ein mutiger Gedankensprung und ein kühner Dreh. Mutig, weil die Erzählung von Jakobs Ringen am Jabbok nicht nur ein geistlicher Text ist, sondern daneben auch etwas, was der Leser in der Bibel nicht erwartet. Kühn, weil der Leser mit dem Text kreativ umgehen muss.

Ich empfehle jedem Leser, im Anschluss an meine letzten Überlegungen in Ziffer 6.6) das Lesen abzubrechen und allein nach der Lösung zu suchen. Wer nicht von selbst zur Lösung gelangt, lässt sich eine große Freude entgehen. Dennoch ist die Lösung nicht einfach zu finden ist und der Leser muss mit dem Text „ringen“ - so wie Jakob am Jabbok mit dem geheimnisvollen Fremden rang.

Ein letzter Hinweis: In meinen Überlegungen zur Sinnebene der Erzählung äußere ich auch einige Gedanken darüber, wie einige Abschnitte geistlich gedeutet werden könnten. Diese haben mit der Lösung nicht das Geringste zu tun.


2) Einführung

Während einer Generalaudienz am 25.05.2011 hat Papst Benedikt über diesen Text gesprochen. Zwischen den Zeilen kann man seiner klugen und nachlesenswerten Ansprache entnehmen, dass der Theologe Ratzinger diese kleine Erzählung für außergewöhnlich hält und wirklich liebt, gleichwohl aber die wissenschaftliche Meinung zum Entstehen des Textes teilt: „Die Erklärungen, die die biblische Exegese zu diesem Abschnitt geben kann, sind vielfach; die Forscher erkennen darin vor allem literarische Komponenten und Absichten verschiedener Art sowie auch Bezüge auf einige volkstümliche Erzählungen. Doch wenn diese Elemente von den Verfassern der Schrift aufgenommen und in die biblische Erzählung eingegliedert werden, ändern sie ihre Bedeutung und der Text öffnet sich weiteren Dimensionen.

Der junge Theologe Philipp Greifenstein ist in seiner schönen Predigt vom 12.10.2014 außergewöhnlich kreativ mit dem Text umgegangen. Auch seine Gedanken erwecken den Eindruck, dass er von der Geschichte über Jakobs Kampf am Jabbok fasziniert und hingerissen war. Indes scheint er keinen Zweifel daran zu haben, dass die wissenschaftliche Ansicht zur Entstehung des Textes zutreffend ist: „Dies ist ein alter Text, in den Generationen eingetragen haben. Gekritzelt, verfälscht, erweitert, geklärt, weiter- und fortgeschrieben, angepasst, aktualisiert.

In seinem Beitrag für„Deutschlandradio Kultur“ vom 24.02.2013 hat Prof. Dr. Harald Schwillus die Erzählung über Jakobs Kampf u.a. auch mit Bezügen zur modernen Malerei und Lyrik sowie zur antiken und mittelalterlichen Auslegung besprochen und mit seinen eigenen Gedanken über den Segen verbunden. Auch in seinem Beitrag ist die Begeisterung für den biblischen Text spürbar, aber auch die bereits erwähnte Auffassung über die Herkunft der Erzählung: „Sie ist sehr alt und erzählt ursprünglich wohl von einem Flussgeist oder Dämon, der in der Dunkelheit der Nacht enorme Kräfte besitzt, bei Tagesanbruch aber seine Macht verliert. Solche Geschichten gibt es in vielen Kulturen: sie erzählen von dämonischen Wesen, die an Flussübergängen oder an Wegkreuzungen Menschen überfallen und töten. … Das Volk Israel hat diese Geschichte in seine Erzählwelt aufgenommen.

Ich könnte hier ohne große Mühe mit weiteren Beispielen fortfahren. Die Ironie will es, dass die überwältigende Mehrzahl der Theologen die Geschichte von Jakobs Ringen am Jabbok für großartig, aber auch für „unecht“ - oder besser – für einen nachträglich in die Jakob-Esau-Geschichte eingebundenen, zusammengenähten Flickenteppich hält, dessen rätselhafte Faszination bloßer Zufall ist und nur zufällig durch das wiederholte Umschreiben und Überarbeiten der Geschichte entstanden ist. Der Alttestamentler Hermann Gunkel sprach gar davon, dass die „christliche Gemeinde“ mit ihrer Auslegung „Schlacken in Gold“ verwandelt, zu neudeutsch wohl: „aus Scheiße Bonbons gemacht“ habe.

Wie immer liegt mein Beweggrund, über diese Theorien zu spotten, in meinem Bedauern darüber, dass die moderne Bibelwissenschaft nicht erkennt, dass sie tatsächlich „Gold“ vor sich hat, und in der Bewunderung für eine große biblische Erzählung. Dabei wäre es verfehlt, wenn man sich nicht – vor allem auch jenseits der Auffassungen von vorgestern - um ein Verständnis jener bibelwissenschaftlichen Theorien bemühen würde, damit man vor den Problemen, die die Erzählung vom Jabbokskampf stellt, nicht vorschnell die Augen verschließt. Wenn man diese Überlegungen ernst nimmt, sind sie für das Verständnis der Geschichte sogar äußerst hilfreich.

Die Probleme der Erzählung beginnen unmittelbar im Übergang von Vers 22 („Er aber übernachtete in jener Nacht im Lager“) zu Vers 23 („Und er stand auf in jener Nacht und ... er ging hinüber über den Übergang des Jabbok“). Beide Aussagen beinhalten bei Zugrundelegung einer „normalen“ Sinnebene einen augenscheinlichen Widerspruch. Es wäre verfehlt, diesen irgendwie umgehen zu wollen, denn die Widersprüchlichkeit der Geschichte setzt sich offenbar fort. Vers 23 erklärt, dass Jakob über den Übergang des Jabbok hinüberging, in den Versen 24 und 25 geht jedoch lediglich seine Familie und seine Habe über den Fluss hinüber und Jakob bleibt allein zurück.

Sinnwidrig mutet ebenfalls an, dass der Kampf zunächst scheinbar unentschieden ausgeht, es dem Fremden alsdann vermeintlich gelingt, Jakob einen entscheidenden „Schlag“ zu versetzen, er jedoch keinerlei Vorteil daraus ziehen kann und Jakob den Fremden sogar am Verlassen des Kampfes hindern kann, um überraschender Weise von seinem „Gegner“ auch noch einen Segen zu fordern und diesen zu bekommen. Trotzdem Jakobs Verletzung nach Vers 32 dauerhaft zu sein scheint, ist davon im weiteren Verlauf der Jakob-Esau-Geschichte keine Rede mehr, insbesondere auch nicht beim Zusammentreffen mit Esau in Vers 33,3 („Er selbst aber ging vor ihnen her ...“).

Die Beschreibung Jakobs stellt über den Rahmen der Erzählung hinaus auch einen deutlichen Widerspruch zu seinem Verhalten gegenüber Esau dar. Vor dem Kampf fürchtet sich Jakob vor Esau (32:8 „... Da fürchtete sich Jakob sehr, und ihm wurde angst ...“), nach dem Kampf begegnet er ihm bei ihrem Zusammentreffen äußerst unterwürfig (33:3 „... und warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er nahe an seinen Bruder herangekommen war.“) Mit dem tapferen Kämpfer aus der Jabboksgeschichte, der weder Gott noch Menschen fürchtet, harmoniert dies offensichtlich schlecht.

Die scheinbaren „Probleme“, „Spannungen“, „Brüche“ und „Widersprüche“ der Erzählung sind damit keineswegs abschließend aufgezählt. Ich wollte an dieser Stelle lediglich einen kleinen Eindruck vermitteln, welcher Art die Gründe sind, auf die sich die Bibelwissenschaft stützt. Ich empfehle hierzu den beachtlichen Aufsatz von Dr. Ulrich Zalewski „Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23-33): eine kontextabhängige Einheit?“, der hier ab Seite 299 nachgelesen werden kann. In diesem Aufsatz verteidigt Zalewski mit großer Umsicht die fast einmütige wissenschaftliche Auffassung gegen den „rebellischen“ Versuch des Alttestamentlers Erhard Blum, der die Diskussion über die Entstehung des Textes ins Kippen bringen wollte.


3) Wie gewohnt beginne ich mit einer möglichst wortwörtlichen und ungeglätteten Übersetzung des Textes und drei Anmerkungen hierzu.

Jakob am Jabbok

23 Und er stand auf in jener Nacht und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder und er ging hinüber über den Übergang des Jabbok.
24 Und er nahm sie und er ließ sie hinübergehen über den Fluss, und er ließ hinübergehen was ihm war.
25 Und wurde zurückgelassen Jakob, mit sich allein. Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
26 Und er sah, dass nicht er vermochte ihm. Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs, in seinem Ringen mit ihm.
27 Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung. Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich.
28 Und er sagte ihm: Was ist dein Name? Und er sagte: Jakob.
29 Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei: Israel, denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast vermocht.
30 Und fragte Jakob und er sagte: Berichte bitte deinen Namen! Und er sagte: Warum dies, du fragst wegen meines Namens? Und er segnete ihn dort.
31 Und nannte Jakob den Namen des Ortes Peniel, denn ich sah Gott, Angesicht zu Angesicht,
und meine Seele wurde gerettet.
32 Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel. Und er hinkte auf seiner Hüfte.
33 Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns, welche auf der Pfanne der Hüfte ist, bis zu diesem Tag. Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.


1. Anmerkung: Die renommierten Übersetzungen sind geteilter Meinung, ob das Verb in Vers 26 und 33 mit „berühren“ (so etwa die Elberfelder) oder mit „schlagen“ (so etwa die Luther) wiedergegeben werden soll. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist beides möglich.

2. Anmerkung: Die „Berührung“ bzw. der „Schlag“ in Vers 26 wird in fast allen Übersetzungen als ein Geschehnis von Ursache und Wirkung wiedergegeben (Elberfelder: „Und als er sah, dass er ihn nicht überwältigen konnte, berührte er sein Hüftgelenk ...“). Der Wortlaut („way-yar kî lō yā-ḵōl lōw way-yig-ga‘“) legt dies jedoch nicht nahe, sondern spricht eindeutig für eine Und-Verknüpfung („Und er sah, dass nicht er übermochte ihn. Und er schlug ...“). Beispielsweise hat die Studienfassung der „Offenen Bibel“ und die „Bibel in gerechter Sprache“ zutreffend diese Und-Verknüpfung gewählt.

3. Anmerkung: Der schwierigste Punkt der Übersetzung ist die „Sehne des Spanns“ in Vers 33. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass niemand wirklich weiß, was an jener Stelle gemeint ist. Die Übersetzungsvarianten umfassen hierbei einerseits „Sehne“, „Muskel“ und „Nerv“ und andererseits sinngemäß „der Hüfte“, „des Spanns“ und „Vergessen bzw. Betäubung“. Problematisch ist hier meines Erachtens wohl lediglich die Übersetzung mit „der Hüfte“, da das im übrigen Text verwendete Wort für „Hüfte“ (yarek) von dem hier als „Spann“ wiedergegebenen Wort (nasheh) verschieden ist. Ich habe mich hier für eine eher klassische Variante entschieden („Sehne des Spanns“).


4) Zur Struktur der Erzählung

4.1) Ich will zunächst mit einer kleinen Beobachtung beginnen. Die Erzählung enthält zwei deutlich zu unterscheidende Textanteile: einen Anteil, der keinerlei wörtliche Rede, und einen Anteil, der fast ausschließlich wörtliche Rede enthält. Um dies deutlich zu machen, habe ich die (historisch nachträglich erfundene) Verseinteilung des Textes aufgehoben und den Anteil mit fast nur wörtlicher Rede gerötet.

Der gerötete Anteil, befindet sich innerhalb des grünen Anteils, jedoch nicht in dessen Mitte, denn der obere Bereich des Grün-Anteils ist etwa doppelt so groß wie der untere Bereich.

Und er stand auf in jener Nacht und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder und er ging hinüber über den Übergang des Jabbok. Und er nahm sie und er ließ sie hinübergehen über den Fluss, und er ließ hinübergehen was ihm war. Und wurde zurückgelassen Jakob, mit sich allein. Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung. Und er sah, dass nicht er übermochte ihm. Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm. Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung. Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich. Und er sagte ihm: Was ist dein Name? Und er sagte: Jakob. Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei: Israel, denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast übermocht. Und fragte Jakob und er sagte: Berichte bitte deinen Namen! Und er sagte: Warum dies, du fragst wegen meines Namens? Und er segnete ihn dort. Und nannte Jakob den Namen des Ortes: Peniel, denn ich sah Gott, Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet. Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel. Und er hinkte auf seiner Hüfte. Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns, welche auf der Pfanne der Hüfte ist, bis zu diesem Tag. Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.


4.2) Ich komme nun zum ersten kleinen „Geheimnis“ dieses Text. Es besteht darin, dass man den geröteten Anteil mit wörtlicher Rede komplett entfernen kann und dabei eine Erzählung erhält, der zwar der „Clou“ fehlt, deren Sinnverlauf auf den ersten Blick aber wesentlich geradliniger ist als der des Gesamttextes. Entsprechend den Größenverhältnissen des Textes teile ich diese in drei Teile (zwei Teile aus dem oberen Bereich des grünen Textes und als dritten Teil den unteren Bereich):

Und er stand auf in jener Nacht und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder und er ging hinüber über den Übergang des Jabbok. Und er nahm sie und er ließ sie hinübergehen über den Fluss, und er ließ hinübergehen was ihm war. Und wurde zurückgelassen Jakob, mit sich allein.

Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung. Und er sah, dass nicht er vermochte ihm. Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.

Und er hinkte auf seiner Hüfte. Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns, welche auf der Pfanne der Hüfte ist, bis zu diesem Tag. Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.

Bewertet man den „eigentlichen“ Übergang des geröteten Textes zum Grün-Text mit dem hier „künstlich hergestellten“ Übergang vom zweiten zum dritten Absatz, scheinen beide zumindest gleichwertig zu sein.

Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel. Und er hinkte auf seiner Hüfte.

Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.---------- Und er hinkte auf seiner Hüfte.


4.3) Zutreffend haben die Bibelwissenschaftler erkannt, dass der Text „merkwürdige“ und „umständliche“ Formulierungen enthält, die sicher auch jedem Leser sofort auffallen. Daraus muss jedoch nicht folgen, dass der Text aus verschiedenen Flicken zusammengenäht ist.

Für Leser, die mit der Erzählkunst der hebräischen Bibel weniger vertraut sind, sei zunächst gesagt, dass die wichtigsten Gliederungsmittel bei qualitativ hohen biblischen Texten die Parallelisierung und der Chiasmus (Überkreuzen) sind, so wie in der Neuzeit Gedichte etwa durch den Reim und das Versmaß oder die alten nordischen Sagas durch den Stabreim strukturiert sind.

Bei der Parallelisierung ist der Text oder größere Texteinheiten nach dem Muster A B – A' B' oder A B C – A' B' C' usw. gebaut. Beim Chiasmus (Überkreuzen) ist das Muster A B – B' A' oder A B C B' A' usw. Beachtlich ist freilich, dass der Text diese Strukturen nicht „sklavisch“ und exakt zu erfüllen versucht, sondern eher locker auf ihnen liegt. Nicht immer ist es leicht, den Chiasmus nachzubauen. Eine hervorragende Einführung zu den Erzähltechniken der hebräischen Bibel kann man übrigens hier finden.

Was zunächst kompliziert klingt, wird nach der Umstellung des grünen Textes auf eine chiastische Gliederung nach dem Muster AB-B'A' bzw. ABC-C'B'A' deutlich.

A - Und er stand auf in jener Nacht
... B - und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder
...... C - und er ging hinüber über den Übergang des Jabbok.
...... C' - Und er nahm sie und er ließ sie hinübergehen über den Fluss,
... B' - und er ließ hinübergehen was ihm war.
A' - Und wurde zurückgelassen Jakob, mit sich allein.

A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
... B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.

A - Und er hinkte auf seiner Hüfte.
... B – Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns,
... B' - welche auf der Pfanne der Hüfte ist, - bis zu diesem Tag.
A' - Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.

Wie „stabil“ diese Struktur ist, kann man etwa an den A- und A'-Klauseln sehen, die die Chiasmen rahmen. Jede A-Klausel enthält die Aktion eines nicht namentlich genannten Akteurs („Und er stand auf“, „Und rang ein Mann“, „Und er hinkte“). In den A'-Klauseln ist der Name Jakobs, der im grünen Text nur an diesen Stellen auftaucht, jeweils etwas nach der Hälfte platziert (die Wortstellung der Übersetzung entspricht dem hebräischen Text).

Es ist hilfreich, nunmehr zunächst den geröteten Text zu betrachten. Dabei ist festzuhalten, dass der Grüntext sich vom geröteten Text durch das Nichtvorhandensein von wörtlicher Rede unterscheidet, dass er chiastisch gebaut ist und wie eine Schachtel funktioniert, aus der man den geröteten Text einfach „herausnehmen“ kann.


4.4) Der gerötete Text lässt sich nicht als Chiasmus darstellen, sondern ist nach dem anderen Strukturmittel, der Parallelisierung, gebaut. Es werden zwei Parallelen deutlich, aber auch einige Abweichungen, die wichtig sind und auf die zurückzukommen sein wird. Zunächst gilt es jedoch, den Grundsatz zu verstehen.

1. Parallelstruktur

- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.
- Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich.

2. Parallelstruktur

a - Und er sagte ihm: Was ist dein Name?
b - Und er sagte: Jakob.
c - Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei Israel,
d - denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast vermocht.

a - Und fragte Jakob und er sagte: Berichte bitte deinen Namen!
b - Und er sagte: Warum dies, du fragst wegen meines Namens?
......... Und er segnete ihn dort.
c - Und nannte Jakob den Namen des Ortes Peniel,
d – denn ich sah Gott, Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet.
......... Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel.

Die zweite Parallelstruktur ist - abgesehen von den Abweichungen - perfekt und nach dem Schema a-b-c-d gegliedert.

Die a-Klausel enthält jeweils die Frage nach dem Namen,
die b-Klausel jeweils die Antwort hierauf,
die c-Klausel jeweils eine neue Namensgebung und
die d-Klausel jeweils die Begründung der Neubenennung.

Es fällt nun nicht schwer, auch die erste Struktur als Parallele zu erkennen, obwohl diese lediglich eine einzige Klausel enthält.

Ein erster Blick auf die bislang markierten Abweichungen. Sie sind zum einen nicht parallel. Zum anderen beinhalten die zwei letzten keine wörtliche Rede. Man kann aus ihnen jedoch ebenfalls das Vorhandensein eines Musters erahnen, denn thematisch sind hier zwei Mal das „Aufsteigen von Licht“ („heraufgekommen ist die Dämmerung“, „Und aufging die Sonne ihm“) und zwei Mal der „Segen“ („du segnest mich“, „Und er segnete ihn dort“) zu verzeichnen.


5) Bislang wurde der grüne Textanteil und der roten Textanteil voneinander getrennt behandelt, aber natürlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Teile.

5.1) Festgestellt hatte ich bereits, dass man den grünen Textanteil auch für sich allein lesen kann. Dies gilt jedoch nicht für den roten Textanteil, der mit der Aussage einsetzt: „Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.

Zum einen benötigt diese Aussage natürlich eine Vorgeschichte, zum anderen nimmt sie auf die A-Klausel des zweiten Chiasmus Bezug: „A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.


5.2) Ich komme nunmehr zum zweiten kleinen „Geheimnis“ der Jabbokserzählung. Es besteht darin, dass - von einer kleinen Ausnahme abgesehen - der rote Text und der grüne Text, letzterer ab der Mitte des zweiten Chiasmus, getrennt verlaufen und nicht aufeinander Bezug nehmen. Hierzu zunächst wieder die Übersicht, so wie wir den Text in der Bibel lesen können:

Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
.....................................Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung. Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich. Und er sagte ihm: Was ist dein Name? Und er sagte: Jakob. Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei: Israel, denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast vermocht. Und fragte Jakob und er sagte: Berichte bitte deinen Namen! Und er sagte: Warum dies, du fragst wegen meines Namens? Und er segnete ihn dort. Und nannte Jakob den Namen des Ortes: Peniel, denn ich sah Gott, Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet. Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel.
.................................... Und er hinkte auf seiner Hüfte. Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns, welche auf der Pfanne der Hüfte ist, - bis zu diesem Tag. Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.

Die Segnung und die neuen Namensgebungen aus dem geröteten Text kommen im unteren Bereich des grünen Textes nicht zur Sprache. Ebenso wird die Hüfte Jakobs und deren Ausrenkung im roten Text nicht erwähnt. Dies ist um so erstaunlicher, weil im grünen Text ab der Mitte des zweiten Chiasmus in jeder Klausel die Hüfte Jakobs bzw. die Sehne des Spanns erwähnt wird. Die Würdigung, dass die Hüfte Jakobs in diesem Bereich die Hauptrolle spielt, ist wohl kaum übertrieben.

... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.

A - Und er hinkte auf seiner Hüfte.
... B – Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns,
... B' - welche auf der Pfanne der Hüfte ist, - bis zu diesem Tag.
A' - Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.

Setzt man diese Beobachtungen in ein Schema um, ist das Verhältnis des geröteten Textes und des Grüntextes etwa so gestaltet:

(Lesern, die die kleine Ausnahme bemerkt haben, sei versichert, dass hierauf zurückgekommen wird.)


6) Ich denke, dass der Moment gekommen ist, an dem man beginnen kann, dieser Erzählung etwas Vertrauen entgegen zu bringen.

Die Jabbokserzählung enthält zwei Textanteile, deren einer keinerlei wörtliche Rede und deren anderer fast ausschließlich wörtliche Rede enthält. Der erste ist chiastisch gebaut, der zweite parallel. Selbst die kleinen Abweichungen von dieser Struktur zeigen das Vorhandensein eines Musters auf. Die sich andeutende Struktur legt nahe, dass diese Erzählung durchaus „aus einem Guss“ sein könnte.

Es sollte nunmehr auf die Sinnebene des Textes gewechselt werden, nicht um diesen zu deuten, sondern um zu verstehen, wo wirklich die Probleme des Textes liegen und welcher Art diese sind.


6.1) Um mit dem ersten Chiasmus zu beginnen, der den „berühmten“ Widerspruch enthält:

A - Und er stand auf in jener Nacht
... B - und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder
...... C - und er ging hinüber über den Übergang des Jabbok.
...... C' - Und er nahm sie und er ließ sie hinübergehen über den Fluss,
... B' - und er ließ hinübergehen was ihm war.
A' - Und wurde zurückgelassen Jakob, mit sich allein.

Zunächst ist zu bemerken, dass der Fokus der Erzählung starr auf Jakob gerichtet ist, der in jeder Klausel im Mittelpunkt des Geschehens steht. Im oberen Teil des Chiasmus ist Jakob äußerst aktiv dargestellt. Er „steht auf“ (A), „nimmt“ seine Familie (B) und „geht hinüber“ (C). In der Mitte des Chiasmus kommt es jedoch zu einer Wende. In der C'-Klausel gelingt es Jakob noch, „sie zu nehmen“, er geht jedoch nicht mehr selbst hinüber, sondern lässt sie hinübergehen. In der B'-Klausel ist vom „Nehmen“ keine Rede mehr, sondern nur noch vom inaktiven „Hinübergehenlassen“. In der letzten, der A'-Klausel, fehlt es schließlich an jeglichem Handeln von Jakob, der nur noch passiv zurückgelassen wird.

Deutlich ist, dass der von der Bibelwissenschaft beschworene Widerspruch (er kommt hinüber – er kommt nicht hinüber) da ist. Er scheint jedoch größer als diese andeutet. Im oberen Teil des Chiasmus sehen wir einen aktiven Jakob, dem gelingt, was er beabsichtigt. Im unteren Teil versucht Jakob, zwar zunächst noch aktiv zu sein, aber sein Vorhaben des Hinübergehens misslingt (C'), dann erstarrt seine Aktivität (B') und er wird letztlich in eigener Person zum passiven Objekt (A').

Man erkennt, dass das Problem des Textes nicht notwendig in seiner Entstehung liegen muss, sondern auch in seinem Verständnis zu finden sein könnte. Eine Möglichkeit wäre etwa, dass es in diesem Abschnitt der Erzählung um das „Vermögen“ und die „Macht“ von Jakob und von Gott geht und dass ab der Mitte des Chiasmus Gott selbst die Dinge zu lenken beginnt, die Jakob nunmehr entgleiten. So wie Jakob in der B-Klausel seine Familie wie ein passives Objekt „nimmt“, könnte Jakob nunmehr von Gott „genommen“ und am Übergang gehindert werden.

Das Problem dieses Abschnitts läge dann „lediglich“ im „Warum“, dem Sinn des Geschehens. Dem Geschehen selbst können wir ohne Probleme folgen. Über die im Mittelpunkt der Handlung stehende Person (Jakob) und die einzelnen Handlungen und Geschehnisse bestehen keine Zweifel.


6.2.) Zum zweiten Chiasmus:

A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
... B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.

Interessant ist hier zunächst, dass die Handlung mitten im Ringen einsetzt. Es wäre nach dem Wortlaut im Grunde verfehlt zu sagen, dass „der Mann plötzlich aufgetaucht wäre“. Deshalb hält der Text auch eine weitere Verständnismöglichkeit bereit, dass nämlich das Ringen des Mannes mit Jakob bereits begonnen hatte und zwar in der Mitte des ersten Chiasmus, als das Geschehen den Händen von Jakob entglitt und – gemäß der oben angedeuteten Möglichkeit – nunmehr Gott die Dinge zu lenken begann. Dies ist jedoch lediglich eine der in Betracht kommenden Interpretationsvarianten.

Entscheidend ist, dass man dem Geschehen in der A-Klausel folgen kann und auch die A'-Klausel verständlich erscheint (das Verrenken der Hüfte Jakobs im Ringen des Mannes mit Jakob).

Zunächst problematisch, aber letztendlich klärbar erweist sich die vorletzte Klausel B'. Beim Lesen dieser Klausel verstehen wir zwar noch nicht, wer hier auf wessen Hüfte schlug. Die Erklärung wird jedoch durch die nachfolgende A'-Klausel ermöglicht, aus der wir rückwärts schlussfolgern können (Jakobs Hüfte wurde verrenkt, also muss es der Mann gewesen sein, der Jakob auf die Hüfte schlug).

Mit der B-Klausel stoßen wir nunmehr auf das erste große Problem der Erzählung, denn wir sind außer Stande zu sagen, wer hier mit wem gemeint ist („Und er sah, dass nicht er vermochte ihm“). Zur Klärung der Frage bestehen theoretisch zwei Möglichkeiten: wir könnten aus dem Gesamtzusammenhang des grünen Text auf die bestmögliche Lösung schlussfolgern und nach einer möglichen Erklärung im geröteten Text suchen.

Im Gesamtzusammenhang des grünen Textes deutet nicht viel daraufhin, dass derjenige, der „nicht vermochte“, „der Mann“ sein könnte. Denn im grünen Text erscheint „der Mann“ Jakob letztlich überlegen – und dies gilt insbesondere nach der angedeuteten Verständnismöglichkeit, dass Gott nunmehr das Geschehen lenkt und Jakob die Zügel aus der Hand genommen wurden. Für diese Variante spricht lediglich, dass der Mann das Subjekt in der A-Klausel ist („Und rang ein Mann mit ihm ...“) und die gleiche Annahme deshalb auch in der B-Klausel („Und er sah, dass nicht er ...“) nahe liegen könnte. Wenn wir jedoch – wie bereits bei der vorletzten Klausel B' geschehen – rückwärts schlussfolgern, ist klar, dass hier nicht der Mann gemeint sein kann. Dieser schlug auf Jakobs Hüfte und dessen Hüfte wird daraufhin ausgerenkt. Die Behauptung, dass der Mann nichts gegen Jakob ausrichten könnte, wäre dann schlicht sinnwidrig.

Ein anderes Ergebnis erhalten wir jedoch, wenn wir den geröteten Text zu Rate ziehen und von dort aus rückwärts schlussfolgern. Späterhin heißt es dort:
c - Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei Israel,
d - denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast vermocht.

An beiden Stellen wird hier eine Form des hebräischen Verbs „yakol“ verwandt, so dass ich auch gleichlautend übersetzt habe:
B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
d - denn du strittest mit Gott und mit Menschen und hast vermocht.

Wenn wir zugrunde legen, dass Jakob nach der Aussage des Mannes eben doch „vermochte“, wäre die Annahme sinnwidrig, wenn er in der B-Klausel „nicht vermocht“ hätte.

Entscheidend ist, sich über die Art unseres eigenen Schlussfolgerns auf der Strukturebene klar zu werden. Zunächst sind wir dem grünen Text ein Stück nach unten gefolgt und haben rückwärts geschlussfolgert. Alsdann sind wir dem roten Text nachgegangen und haben ebenfalls rückwärts geschlussfolgert. Die bestmögliche Überlegung hat ergeben, dass wir je nach Text zwei gegensätzliche Ergebnisse erzielten.

In der 2. Anmerkung zu meiner Übersetzung hatte ich erwähnt, dass fast alle renommierten Übersetzungen die B- und B'-Klausel als Geschehnis von Ursache und Wirkung wiedergegeben („Und als er sah, dass er ihn nicht überwältigen konnte, berührte er sein Hüftgelenk ...“), dies aber vom Wortlaut nicht gedeckt ist. Man erkennt, dass diese Übersetzungen nicht mehr Übersetzungen sind, sondern Interpretationen, die auf der genannten d-Klausel im geröteten Text beruhen. Diese Übersetzungen verwischen leider den kritischen Punkt der Erzählung.


6.3) Der letzte Chiasmus:

A - Und er hinkte auf seiner Hüfte.
... B – Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns,
... B' - welche auf der Pfanne der Hüfte ist, - bis zu diesem Tag.
A' - Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.

In diesem Teil bestehen wieder keine Zweifel, wer hier mit wem gemeint ist. Es ist Jakob, der auf seiner Hüfte hinkt (A), und der Mann, der zuschlug (A').

Kommen wir nunmehr zu der oben erwähnten Ausnahme, dass der untere grüne Text sich nicht auf den geröteten bezieht. Auf der Sinnebene des Textes kann man die „Söhne Israels“ einfach als die „Israeliten“ überlesen. Auf der Strukturebene ist dies nicht möglich, weil die Erklärung, wer mit „Söhne Israels“ gemeint ist, sich nicht aus dem grünen Text, sondern aus der Neubenennung Jakobs im geröteten Text ergibt: „c - Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei Israel, ...“ Wenn die hier geäußerten Überlegungen richtig sind, „müssen“ die „Söhne Israels“ also etwas mit dem geröteten Text zu tun haben.

Interessant ist, dass die „Israeliten“ nicht nur in der B-Klausel des letzten Chiasmus, sondern auch in der B-Klausel des ersten Chiasmus erwähnt werden, wenn wir die Familie Jakobs einmal als „Israeliten“ bezeichnen wollen:
B - und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder

Dabei ist ein kleiner „Fehler“ in der Erzählung zu entdecken. Insgesamt hatte Jakob 12 Söhne und richtig ist, dass der jüngste, Benjamin, erst in der Zeit nach den Geschehnissen des Jabbokskampfes geboren wurde. Neben den bereits geborenen 11 Söhnen besaß Jakob aber noch seine Tochter Dina, so dass er eigentlich 12 und nicht 11 Kinder hatte.

Das letzte Problem des grünen Textes sind die in diesem Chiasmus gegebenen zwei Begründungen („Auf Grund dessen …“, „Denn er schlug ...“) und die Frage, worauf sie sich beziehen. Der Wortlaut legt hier nämlich nahe, dass die Söhne Israels die Sehne des Spanns deshalb nicht essen, weil er auf seiner Hüfte hinkte! Der Abschlusssatz kann nun einerseits als Doppelbegründung (sie essen auch deshalb nicht, weil er auf die Hüfte schlug), aber andererseits als Begründung für das Hinken verstanden werden, wobei letztere Variante leicht vorzugswürdig erscheint.


6.4) Es ist nun der Übergang des grünen Textes zum geröteten Text - wie wir ihn in der Bibel lesen können - zu betrachten:

... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.
- Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich.

Man erkennt, dass es auf der Sinnebene keinen Übergang von der A'-Klausel des grünen Chiasmus zur ersten Klausel der geröteten Parallelstruktur gibt. Beides „beißt“ sich. An dieser Stelle hat der Text auf der Sinnebene einen echten „Bruch“, insbesondere wenn man annimmt, dass der „Mann“ die Bitte um Entsendung äußert.

A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.

Auch das Hinaufgehen zur B'-Klausel im grünen Text hilft hier nicht weiter, um eine Sinnverknüpfung herzustellen. Erst die erste Klausel A im zweiten Chiasmus verknüpft die beiden Texte wirklich sinnvoll:

A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
... B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.


6.5) Die erste Parallelstruktur:

- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.
- Und er sagte: Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich.

An dieser Stelle können wir dem Text erneut nicht folgen und stehen vor einem erheblichen Problem, da nicht entschieden werden kann, wer hier welche Aussage trifft, wer nämlich hier entsendet und wer gesegnet werden will. Versuchen wir zunächst eine Lösung aus dem geröteten Text herzuleiten. Nirgendwo stellt der gerötete Text fest, dass Jakob oder der Mann den jeweils anderen schließlich entsenden, gehen lassen oder loslassen. Eine direkte Schlussfolgerung ist daher nicht möglich.

Die zweite Klausel der Parallelstruktur stellt jedoch eindeutig die Antwort auf die vorhergehende Bitte dar.
Bitte        Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.
Antwort  Nicht ich entsende dich, es sei denn, du segnest mich.

Sofern festgestellt werden kann, wer von den beiden den anderen schließlich segnet, wäre damit eine indirekte Schlussfolgerung – und zwar erneut rückwärts - möglich. Dazu müssen wir den geröteten Text ein ganzes Stück abwärts gehen und finden in der zweiten Hälfte der zweiten Parallelstruktur folgendes:

a - Und fragte Jakob und er sagte: Berichte bitte deinen Namen!
b - Und er sagte: Warum dies, du fragst wegen meines Namens?
.............. Und er segnete ihn dort.
c - Und nannte Jakob den Namen des Ortes Peniel,
d – denn ich sah Gott, Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet.
.............. Und aufging die Sonne ihm, als er hinüberging bei Penuel.

Der Text sagt auch hier leider nicht eindeutig, wer nun wen segnet. Die bestmöglichste Entscheidung, die wir treffen können, scheint jedoch zu sein, dass es „der Mann“ ist, der Jakob segnet. In diesem Fall, wäre es „der Mann“, der oben entsendet werden will, und Jakob, der gesegnet werden möchte. Einerseits folgt der Segen genau nach der Antwort des „Mannes“ auf Jakobs Frage. Andererseits wirken beide Stellen ebenfalls auffällig parallel: Oben schlägt Jakob die Bitte „des Mannes“ um Entsendung ab und fordert zunächst den Segen. Unten schlägt „der Mann“ die Bitte von Jakob um Namensnennung ab und erteilt den Segen.

Prüfen wir dieses Ergebnis nunmehr am grünen Text. Auch der grüne Text trifft keine Aussage darüber, ob letztendlich der eine den anderen entsendet, gehen lässt oder loslässt. Bereits festgestellt war aber, dass der untere Bereich des grünen Textes keine Beziehung zum geröteten Text hat, dass aber beim Aufwärtsgehen im grünen Text zunächst eine thematische Verbindung zum zweiten Chiasmus besteht.

A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
... B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.

Zu dieser Stelle war sowohl ein Bruch in der Sinnebene beim Übergang zum geröteten Text als auch das kritischste Verständnisproblem des grünen Textes festgestellt worden, wer nämlich von beiden in Klausel B „sah, dass nicht er vermochte ihm“. Ein eindeutiges Urteil ist nicht möglich.

Die bestmöglichste Entscheidung, die wir auf Grundlage des grünen Textes treffen können, scheint jedoch zu sein, dass es Jakob ist, der entsendet werden will. Er ist derjenige, der im Ringen der beiden schwer an der Hüfte verletzt wurde. Nichts wäre daher sinngemäßer, als wenn Jakob um die Beendigung des Kampfes bittet. Dieses Verständnis scheint in Übereinstimmung mit dem ersten Chiasmus zu stehen, in dem es Jakob letztendlich nicht gelingt, mit seiner Familie „hinüber zu kommen“. Wenn also einer von beiden, irgendwo anders hin will, dann ist derjenige Jakob und nicht „der Mann“.

Entscheidend ist erneut die Art unseres eigenen Schlussfolgerns. Wiederum konnten wir kein eindeutiges Urteil fällen. Zunächst sind wir dem roten Text nach unten gefolgt und haben rückwärts geschlussfolgert. Alsdann sind wir dem grünen Text aufwärts nachgegangen und haben ebenfalls rückwärts geschlussfolgert. Erneut hat die bestmögliche Überlegung ergeben, dass wir je nach Text zwei gegensätzliche Ergebnisse erzielten.

Die zweite Parallelstruktur weist hingegen keine weiteren Probleme auf. Stets ist der Text verständlich und man erkennt, wer gerade welche Äußerung wem gegenüber tätigt.


6.6) Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, dass die kritischsten Stellen der Jabbokserzählung die folgenden sind:

Zwei Klauseln, in denen nicht eindeutig feststellbar ist, wer Subjekt ist, und bei denen man zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen gelangt, wenn man einerseits den Sinnzusammenhang des grünen und andererseits des geröteten Textes heranzieht:
B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.

Der Sinnbruch im Übergang des grünen Textes zum geröteten Text:
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.
- Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.

Die Beziehung zwischen der Nennung der „Söhne Israels“ im grünen Text und der Namensgebung „Israel“ im geröteten Text auf der Strukturebene:
B – Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns,
c - Und er sagte: Nicht Jakob soll weiterhin gesagt werden dein Name, denn es sei Israel, ...

Die doppeldeutige Begründung im letzten Chiasmus:
A - Und er hinkte auf seiner Hüfte.
... B – Auf Grund dessen nicht essen die Söhne Israels die Sehne des Spanns,
... B' - welche auf der Pfanne der Hüfte ist, - bis zu diesem Tag.
A' - Denn er schlug auf die Pfanne der Hüfte Jakobs, die Sehne des Spanns.


Die ersten beiden Punkte liegen im Text recht nahe beieinander. Ebenso die letzten zwei Punkte.
_________________________________________________________________________

Damit enden meine Überlegungen und der nächste Punkt 7) enthält die Lösung.

7) Lösung

7.1) Der mutige Gedankensprung

Er besteht in der Überlegung, dass die Erzählung vom Jabbokskampf nicht nur ein geistlicher Text ist, sondern daneben auch – und zwar im wörtlichen Sinne - ein Rätsel darstellt, das vom Leser gelöst werden soll.

Dem Leser ist mit dem Rätsel die gleiche Aufgabe gestellt wie Jakob, nämlich „hinüber zu gehen“.

Der erste Chiasmus sagt dem Leser, wie er diese Aufgabe lösen kann. Wenn er im Text den „Übergang des Jabbok“ findet, wird er hinüber gelangen. Versucht der Leser hingegen, über den „Fluss“ hinüber zu setzen, wird er scheitern und die Aufgabe ist nicht gelöst.

Der dritte Chiasmus erläutert dem Leser das Problem, verwendet dafür aber eine andere Metapher, nämlich die „Hüfte Jakobs“. Diese ist ausgerenkt, was bedeutet, dass der „Übergang des Jabbok“ im Text „entzwei“ ist. Der Leser, der dem normalem Textverlauf (dem „Fluss“) folgt, wird hingegen nicht hinüber kommen.


7.2) Der kühne Dreh

Die Folge der Verrenkung ist, dass die 12 Klauseln des geröteten Textes (die 12 „Söhne Israels“) nicht mit dem „richtigen“ Übergang (der „Sehne des Spanns“, welche über der „Pfanne des Hüfte“ ist) verbunden sind.

Der kühne Dreh besteht darin, den roten Text mit dem grünen an der „richtigen“ Stelle zu verbinden und so die „Hüfte Jakobs wieder einzurenken“. Für diese richtige Verknüpfung enthält die B-Klausel des ersten Chiasmus den „Bauplan“:
B - und er nahm seine zwei Frauen und seine zwei Mägde und seine eins und zehn Kinder

Die 12 Klauseln des geröteten Textes sind danach um eine Klausel auf 11 zu reduzieren, gleichzeitig müssen auf der anderen Seite 5 Klauseln eines Chiasmus stehen (Jakob + 2 Frauen + 2 Mägde). Dies gelingt, wenn die erste Klausel des geröteten Textes in die Mitte des zweiten grünen Chiasmus als C-Klausel hineingeschoben wird, wodurch auch der Bruch auf der Sinnebene behoben ist.

A - Und rang ein Mann mit ihm bis zum Heraufkommen der Dämmerung.
... B - Und er sah, dass nicht er vermochte ihm. (Die Sehne des Spanns)
................... C - Und er sagte: Entsende mich, denn heraufgekommen ist die Dämmerung.
... B' - Und er schlug auf die Pfanne seiner Hüfte (Die Pfanne der Hüfte)
A' - und wurde ausgerenkt die Pfanne der Hüfte Jakobs in seinem Ringen mit ihm.


Schafft der Leser dies, konnte das Rätsel gegen ihn nichts ausrichten („Er sah, dass nicht er vermochte ihm“), und der Leser ist auf die rote Textseite „hinübergegangen“. Dort wartet die Anerkennung des Dichters auf ihn („Du hast vermocht“) und dessen Segen. Gelingt es ihm nicht, war es der Leser, der nichts ausrichten konnte (deshalb die Doppeldeutigkeit der B-Klausel). Er verbleibt dann auf der grünen Seite, wo ihn der „Schlag“ des Dichters erwischt.

Und wenn dabei versehentlich der Kopf getroffen wird, kann man sogar Flussgeister, Dämonen und Kobolde sehen ...


Nach der Nacht am Jabbok verzichtet Jakob auf die Durchführung seines ausgeklügelten Plans, mit dem er Esaus Zorn beschwichtigen wollte. Anstatt hinter seinem gesamten Tross von Geschenken und seiner Familie hinterherzulaufen, (um – so wörtlich in 32:6 – Esaus Angesicht zu bedecken), geht er bei der Begegnung mit seinem älteren Bruder nun offen voran. Esaus Worte in 33:6 scheinen Jakobs ursprüngliche Absicht milde zu verspotten: "Was willst du mit all den Herden, denen ich begegnet bin?"

In der Fremde hatte Jakob bereits ein erstaunliches Durchhaltevermögen bei der Werbung um Rahel und im Dienst bei seinem Onkel Laban bewiesen. Ich glaube, in jener Nacht am Jabbok lernte Jakob, sein Vertrauen in Gott zu setzen und nicht mehr in seine feinen Listen.

Mit seinem Rätsel wollte jener alte Meister der hebräischen Erzählkunst den Leser die gleiche Erfahrung machen lassen. Er wollte ihm das Gleiche abverlangen und ihn das Gleiche lehren: Vertrauen und Durchhaltevermögen in einer zunächst unüberwindbar scheinenden Situation.

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